Viren in der Kanalisation

Corona, Grippe, Noroviren: Berlin könnte Abwasserfrühwarnsystem gut gebrauchen

Berliner Wissenschaftler haben gerade ein Programm vorgestellt, mit dem man die Verbreitung von Krankheitserregern in der Stadt erkennen kann: im Abwasser.

Abwasserproben geben Auskunft über die Verteilung von Viren in der Stadt.
Abwasserproben geben Auskunft über die Verteilung von Viren in der Stadt.imago images/Science Photo Library

Berliner Wissenschaftler haben ein Verfahren etabliert, mit dem sich Krankheitserreger im Abwasser aufspüren lassen. Damit kann man unter anderem erkennen, ob sich neue Varianten des Coronavirus ausbreiten. Wie die Berliner Gesundheitssenatorin Ulrike Gote Mitte Oktober mitteilte, soll das Abwassermonitoring neben der Sieben-Tage-Inzidenz und Labordaten künftig „als Parameter für das Infektionsgeschehen“ dienen.

Doch die Möglichkeiten des neuen Verfahrens reichen weit darüber hinaus. In einem umfassenden Berliner Abwassermonitoring ließen sich auch weitere Viren, Bakterien und Einzeller erfassen und analysieren. Kurz: Es könnte ein ganz neues Frühwarnsystem auf der Basis des Abwassers entstehen.

„Die Verwendung der RNA-Sequenzierung aus Abwasserproben ist ein wertvoller Weg, um die Infektionsdynamik und die zirkulierenden Linien von Sars-CoV-2 abzuschätzen“, erklären die Wissenschaftler in ihrer Studie, die jetzt im Fachjournal Science of the Total Environment vorgestellt wurde. Entwickelt hat das Verfahren ein Team um den Bioinformatiker Altuna Akalin sowie Nikolaus Rajewsky und Markus Landthaler am Max-Delbrück-Centrum (MDC) in Berlin.

Neben Corona ließen sich damit möglicherweise auch Grippe- oder Noroviren früh nachweisen. Somit könnte also auch bei anderen Krankheiten rechtzeitig gewarnt werden, ob größere Ausfälle drohen, Maßnahmen ergriffen werden müssen. Das Verfahren könnte zugleich Impfstoffherstellern dazu dienen, Impfstoffe leichter als bisher an neu auftretende Varianten anzupassen.

Ob man Symptome hat oder nicht – man hinterlässt Spuren im Abwasser

Wie man in der Corona-Pandemie gesehen hat, verändert das Virus Sars-CoV-2 permanent sein Gesicht, um sich der menschlichen Immunabwehr möglichst zu entziehen. Diese Strategie nutzen auch andere Erreger. Winzige Veränderungen im Erbgut – sogenannte Mutationen – führen dazu, dass Viren wieder leichter übertragbar werden und Impfungen möglicherweise nicht mehr so effektiv sind. Auch muss immer wieder geschaut werden, ob sich das Krankheitsbild ändert. Auch bei Grippe gibt es Jahre mit gehäuften schwereren Verläufen, während andere Jahre relativ mild verlaufen.

„Daher ist es so wichtig, neu entstehende Virusvarianten möglichst rasch aufzuspüren“, sagt Altuna Akalin, Leiter der Bioinformatics and Omics Data Science Platform am Berliner Institut für Medizinische Systembiologie des Max-Delbrück-Centrums (MDC-BIMSB). In einem gemeinsamen Projekt mit vielen weiteren MDC-Forschern, den Berliner Wasserbetrieben und dem Laborunternehmen amedes hat der Bioinformatiker eine Methode entwickelt, um solche Varianten im Abwasser nachzuweisen. Denn jeder Mensch, der sich mit Viren infiziert hat, hinterlässt Spuren im Abwasser, egal ob er Symptome entwickelt und getestet ist oder nicht.

Im Rahmen des Projekts ist Berlin seit 2021 bundesweit führend bei der Untersuchung von Abwasser auf Virenspuren. Genutzt wird dabei der PCR-Test – die Vervielfältigung von Erbgutbestandteilen des Virus. „Je mehr Stücke drin sind, umso leichter ist der Erreger nachzuweisen“, sagte Uta Böckelmann, die Leiterin der Labore der Berliner Wasserbetriebe, in einem Gespräch. Das MDC übernehme als Projektpartner die Bestimmung der Virusvarianten.

In der Praxis läuft das so ab: In den Klärwerken stehen Probensammler, aus denen Mitarbeiter Proben abzapfen. Wenn man solche Proben in einem Unterwerk oder sogar in einem Kanal unter einer Straße nehmen will, muss man eine Kolonne losschicken, was natürlich aufwendiger ist, wie ein Beteiligter sagt. Die Proben werden dann im Labor per PCR-Test analysiert.

Mit der Methode lassen sich Infektionshotspots entdecken

Die Mitarbeiter der Wasserbetriebe staunten selbst, wie schnell sie im Rahmen des Projekts fündig wurden. Und wie deutlich sich auch die unterschiedliche Verteilung der Viren in der Stadt zeigte. „In einigen Klärwerken fanden wir eine hohe Viruslast vor, in anderen fast gar nichts“, sagte Uta Böckelmann. Später schaute man noch weiter zurück – in die Pumpwerke, die die Klärwerke beliefern, in die Kanäle, bis hin zu einzelnen Hausanschlüssen.

„Wir sind testweise bis zur Größenordnung von etwa 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern zurückgegangen“, so Böckelmann. Funktioniert habe dabei alles. „Man könnte also, wenn man Kanalknotenpunkte untersucht, durchaus Infektionshotspots, Bezirke oder Kieze mit einer besonders hohen Viruslast erkennen.“

Ein Abwasserrohr. Proben des Abwassers werden im Labor auf aktuelle Viren getestet.
Ein Abwasserrohr. Proben des Abwassers werden im Labor auf aktuelle Viren getestet.imago images/YAY Images

Im Rahmen des Projekts konnten die Wissenschaftler des MDC in Abwasserproben sehr früh das Auftreten verschiedener Corona-Varianten erkennen, so  die Entstehung der Alpha-Variante (B.1.1.7) im Februar/März 2021 und die Verdrängung der Delta-Variante durch die Omikron-Varianten im vergangenen Winter. Und dies, bevor diese neuen Varianten in der Bevölkerung dominierten. Ja, man könnte neu auftretende Varianten in den meisten Fällen sogar ein paar Tage früher aufspüren, als dies durch kontinuierliche Tests und die Sequenzierung von Patientenproben möglich wäre, sagt Altuna Akalin.

Die Wissenschaftler nutzen dafür eine sogenannte Datenanalysepipeline, ein Computerprogramm namens PiGx Sars-CoV-2. Vorgestellt wurde die Computerpipeline bereits im Dezember 2021 auf der sogenannten Preprint-Plattform medRxiv. „Um sie zu nutzen, muss das Erbgut der Viren im Abwasser zunächst sequenziert, also entschlüsselt werden“, erklärt Akalin. Dann würden die Daten in das Programm eingespeist, gemeinsam mit ein paar zusätzlichen Informationen zum Beispiel zur verwendeten Sequenziermethode. Heraus komme ein Bericht mit grafischen Darstellungen, an denen Experten und Laien die Infektionsdynamik und die zirkulierenden Virusvarianten zeitgleich an verschiedenen Standorten ablesen könnten.

Test des Berliner Analysetools an Daten aus New York

Die Datenanalysepipeline wurde in den vergangenen Monaten weiterentwickelt. „Die von uns erstellten Algorithmen sind robuster geworden“, sagt Altuna Akalin. „Wir haben etwa den Beweis erbracht, unter anderem am Beispiel von New York, dass die Pipeline Daten aus ganz unterschiedlichen Teilen der Welt zuverlässig analysieren kann – auch unabhängig davon, nach welchem Protokoll diese Daten erstellt wurden.“

 „Unsere Software kann neu auftretende Mutationen sowohl räumlich als auch zeitlich verfolgen“, erklärt Akalin. „Finden sich an bestimmten Orten im Abwasser immer mehr Mutationen, werden diese markiert, um auf die Möglichkeit einer neuen Virusvariante hinzuweisen.“ Mithilfe zusätzlicher Tools, die in die Pipeline integriert würden, ließen sich sogar die Auswirkungen der gefundenen Mutation vorhersagen, so Akalin.

Man könne so künftig beispielsweise abschätzen, inwieweit sich die neuen Virusvarianten dem menschlichen Immunsystem entziehen – und ob sie dadurch ansteckender als die alten Varianten sein könnten oder möglicherweise schwerere Krankheitsverläufe hervorrufen.

Ort der Probenentnahme beeinflusst offenbar die Daten

Das vorgestellte „sehr robuste System mit einem hohen Automatisierungsgrad“ lasse sich ohne Weiteres bei groß angelegten Abwasserüberwachungen einsetzen, erklärt der Wissenschaftler. Allerdings wolle sein Team nun noch weiter erforschen, wie das optimale Verfahren aussehe, um die Abwasserproben zu entnehmen. „Wo und wann man eine Probe nimmt, scheint die Daten durchaus zu beeinflussen.“ 

Ein Ziel aller beteiligten Forscher sei es, den Ansatz auszuweiten und ein neuartiges Abwasserfrühwarnsystem zum Beispiel für kommende Grippe- oder Noroviren zu etablieren – also für Erreger, die sich ebenfalls stark auf die menschliche Gesundheit und damit auch auf die wirtschaftliche Produktivität auswirkten. „In den USA gibt es aufstrebende Unternehmen, die solche Dienstleistungen bereits anbieten“, sagt Akalin. Es könnte auch ein Modell für Berlin sein.

Noch aber ist es nicht so weit. Wann zum Beispiel die Daten für die Allgemeinheit  einsehbar sein werden – etwa im Pandemieradar des Robert-Koch-Instituts –, scheint noch offen zu sein. Das MDC selbst, das die Datenanalysepipeline entwickelt hat, ist ein Forschungsinstitut und betreibt keinen Routinebetrieb. „Die Idee ist, dass sich Diagnostiklabore oder Wasserbetriebe unser Programm – kostenlos und Open Source – runterladen und die von ihnen generierten Daten damit analysieren. Also dass sie sich möglichst wenig mit technischen Details aufhalten müssen“, sagt der Molekularbiologe Emanuel Wyler, einer der beteiligten Forscher vom MDC-BIMSB.

Abwasser von 80 Prozent der Berliner Bevölkerung wird erfasst

In Berlin soll das Abwassermonitoring zunächst zur Einschätzung des Corona-Infektionsgeschehens in der nächsten Zeit genutzt werden – neben der Ermittlung anderer Parameter. Inzwischen erfasse man über die Klärwerke die Abwässer von rund 80 Prozent der Berlinerinnen und Berliner, teilte Uta Böckelmann von den Berliner Wasserbetrieben bereits im Mai 2022 mit. Die Erkenntnisse über das Infektionsgeschehen hätten einen Vorlauf von sieben Tagen gegenüber denen des RKI. „Der Grund ist einfach: Infizierte Menschen scheiden Virusbestandteile bereits aus, ehe die ersten Krankheitssymptome auftreten.“

Auch Uta Böckelmann plädierte dafür, dass Senat und Verwaltung sich im Rahmen der Gesundheitspolitik dafür entscheiden, das Instrumentarium möglichst breit zu finanzieren und einzusetzen. Bisher seien die Wasserbetriebe in Vorleistung gegangen, hätten eine Stelle für einen Molekularbiologen geschaffen, könnten den reinen PCR-Nachweis selbst führen. Jede Probenuntersuchung mit Sequenzierung koste etwa 500 Euro. Und die Kosten ließen sich nicht einfach auf die Abwassergebühr umschlagen, weil das Wasser ja dadurch nicht besser werde.

Eine große Chance sieht Böckelmann darin, dass sich die PCR-Methode weit über Corona hinaus anwenden lässt. Man könne damit Influenzaviren aufspüren und Viren, die etwa Magen-Darm-Infektionen hervorrufen. „Und auch ein umfassendes biologisches Abwassermonitoring, in dem wir zum Beispiel auf antibiotikaresistente Bakterien und Einzeller schauen, ist mittelfristig durchaus möglich und sicherlich sinnvoll.“