Berlin-Ein Erlebnis, das sich in mein Gedächtnis einbrannte, hat mich besonders politisiert. Ich muss etwa zwölf Jahre jung gewesen sein, als Rechtsradikale durch die Straßen meines Geburtsortes marschierten. Unweit von Helmut Kohls Wohnhaus klackerten Springerstiefel auf kaltem Asphalt. Kahlrasierte Frauen und Stiernacken skandierten „Frei. Sozial. National“. Vater rauchte schnell, ich lugte neugierig auf die Straße, Mutter versperrte die Fenster mit Rollläden. „Nazis“, rümpfte sie. Die NPD zog mit schwarz-rot-weißen Fahnen durch unser beschauliches Oggersheim.
Ich bin im Südwesten Deutschlands aufgewachsen, zwischen Pfalz und Baden. Meine Familie kommt aus Polen. Für meine Eltern war der Holocaust stets ein singuläres Verbrechen, klar, kein Land litt unter dem Nationalsozialismus so sehr wie Polen, in keinem Land lebte eine größere jüdische Diaspora.
Mitte der 80er-Jahre flohen Mutter und Vater ausgerechnet nach Deutschland. Vielleicht haben meine Eltern auch deshalb, wenn man so will, einen antifaschistischen Grundkonsens in meiner Erziehung verankert. Obwohl sie keine Juden sind, war das Bekenntnis zum Antifaschismus, die Aufarbeitung des Holocaust und eine Erinnerungskultur an die Opfer des NS-Regimes so heilig, wie es in polnischen Familien sonst nur die Schwarze Madonna ist. Dass eine rechtsextreme Partei, die das Dritte Reich positiv besetzt, 2004 durch deutsche Straßen zog, war für sie ein Affront – und für mich ein Schlüsselereignis in meiner politischen Willensbildung.
17 Jahre nachdem die NPD durch unsere Straßen marschierte, stecke ich in einer Identitätskrise. In manchen Kreisen gelte ich als rechts. Auf viele linke Positionen reagiere ich allergisch. In meiner Generation, der Generation der Aufgeweckten und Progressiven, fühle ich mich wie ein Fremdkörper. Habe ich, ein stämmiger Pole mit Boxerschnitt, den antifaschistischen Grundkonsens meiner Eltern verraten?
Das deutsche Tätervolk in der kommunistischen Volksrepublik
Als Mutter und Vater in den 80er-Jahren nach Deutschland kamen, wurden ihre Unidiplome nicht anerkannt. Vater verdingte sich in der Weinernte und im Straßenbau, Mutter in der Gastronomie. Und wenngleich meine Eltern den Aufstieg in die deutsche Mittelschicht schafften; reich waren wir nie.
Ich wuchs trotzdem behütet auf. Wir fuhren zweimal im Jahr in einem metallicblauen Ford Mondeo in den Urlaub nach Polen, an die Ostsee, in die Kaschuben, nach Lódz und Wrocław. Die Referenzrahmen meiner politischen Sozialisierung waren der Aufstand im Warschauer Getto, revisionistische Städtebezeichnungen wie Danzig oder Litzmannstadt und die Literatur Tadeusz Borowskis. In meiner Jugend war diese Omnipräsenz der deutschen Kriegsverbrechen in unserem Wohnzimmer quälend, einem Schattenmännchen gleichend, das nicht verschwindet, egal, wohin ich mich bewegte.
Vater, der neun Jahre nach Kriegsende und ein Jahr nach Stalins Tod zur Welt kam, blickt auf ein Leben zurück, das man prototypisch antideutsch nennen könnte: Die Wehrmacht sperrte seine Vorfahren in Gefangenenlager. Seine Urgroßeltern schmuggelten Zucker in jüdische Gettos. In Schulbüchern der „Polska Rzeczpospolita Ludowa“, der kommunistischen Volksrepublik, lehrten sie vom deutschen Tätervolk. Als er mich wenige Jahre nach dem NPD-Aufmarsch von einem Musikkonzert abholte, bei dem deutsche Musiker ihr Publikum mit dem Zuruf „Und jetzt alle Hände hoch!“ anheizten, weckte das für ihn Erinnerungen an die dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts. Der fiktive Soundtrack seines Lebens wäre vermutlich die Hamburger Band Slime, die 1981 „Deutschland muss sterben, damit ich leben kann“ postulierte. Doch eigentlich hätte Vater das nie gewollt. Dass der Soundtrack seines Lebens auf Deutsch gesungen würde – unvorstellbar für ihn.
Ich machte mein Abitur, studierte in Heidelberg, ging ins Ausland. Mit 23 Jahren erhielt ich die deutsche Staatsbürgerschaft, endlich. Wie so viele meiner Generation zog ich nach Berlin.
Once upon a time in Kandel
Ende 2017, wenige Monate nachdem die AfD mit 13 Prozent erstmals in den Bundestag eingezogen war, lebte ich das Leben eines 24-jährigen Berliners, der ein Zimmer in einer WG auf der Karl-Marx-Straße angemietet hatte und an den Tresen verschlissener linker Kneipen eine Multikulti-Realität idealisierte. In dieser Realität zogen sich Stadtstreicher selbst bei Minusgraden Crack in die Lunge, während ich mich über mein Drei-Euro-Falafel-Halloumi freute. „Vielfalt ist Bereicherung“, flüsterte ich mir damals ein, vielleicht ist sie das auch, aber ich glaube, damals naiv gewesen zu sein. Ich wähnte mich auf der guten Seite, sah mich als politisch links, was auch sonst?
Zu dieser Zeit ereignete sich auch das zweite Erlebnis, das sich in mein Gedächtnis einbrannte. Ende 2017 arbeitete ich bei einer großen Nachrichtenmarke. Meine Aufgabe war es, Nachrichtenagenturen und soziale Medien nach relevanten News zu scannen und sie als Nachricht aufzuschreiben. Am 27. Dezember 2017 erstach ein afghanischer Asylbewerber die 15-jährige Mia V. im rheinland-pfälzischen Kandel. Ich hatte damals Dienst.

Nun ist es so, dass Kandel unweit vom beschaulichen Oggersheim liegt, wo Mutter und Vater noch immer wohnen. Sie schrieben mir aufgeregt, ob ich davon gehört hätte. In den sozialen Medien überschlugen sich die Tweets und Posts zu diesem Thema. Ich signalisierte meinem Vorgesetzten, dass ich glaubte, dass wir dazu eine Nachricht verfassen sollten. Der Chef vom Dienst winkte ab. Mir wurde erklärt, dass man mit so einer Nachricht Rechten keine Steilvorlage geben dürfe. Gerade die AfD würde einen Fall wie Mia V. für sich ausschlachten. Am 27. Dezember 2017 verzichteten wir auf die Nachricht; auch die „Tagesschau“ sparte das Thema aus.
Ich denke noch oft an diesen Moment zurück und halte diese Entscheidung damals wie heute für einen journalistischen Fehler. Wenn sich eine Gewalttat ereignet, die in den sozialen Medien eine dermaßen krasse Eigendynamik entwickelt, erscheint es mir als journalistische Pflicht, darüber zu berichten. Nachrichtenwert sollte sich nicht nur, aber auch am Interesse der Leser bemessen. Dass ein 15-jähriges Mädchen in einer Drogerie mit einer 30 Zentimeter langen Messerklinge erstochen wird, hielt ich für berichtenswert. Dass es Menschen zusätzlich emotionalisiert und einen politischen Kontext hat, wenn der Täter hierzulande Schutz fand, sein Alter fälschte, Behörden mehrfach auffiel und eigentlich ausgewiesen werden sollte, hielt ich für nachvollziehbar. Und dass man seiner Leserschaft ein solches Verbrechen verschweigt, weil man Angst hat, zum Steigbügelhalter der AfD zu werden, hielt ich für falsch.
So politisierte mich auch Mia V., weniger identitätskonstruierend als das NS-Regime in Polen zwar, aber der Fall wurde für mich zu einer Art Erweckungserlebnis.
Zwei Seiten einer Medaille
Beide Momente – die marschierenden Neonazis im bürgerlichen Südwesten und das Nicht-Berichten über migrantische Gewalt bei einer großen Nachrichtenmarke – haben mehr miteinander gemein, als es auf den ersten Blick scheint.
Wenngleich die polnische Herkunft meiner Eltern zur Folge hatte, dass sie gegenüber der Shoah besonders sensibel waren, wuchsen viele Jugendliche so auf wie ich: An ihren Schulen wurde das NS-Regime in einem halben Dutzend Fächer besprochen. Im Deutschunterricht interpretierten wir Stefan Zweig und Wolfgang Borchert, in Französisch besprachen wir die Résistance, in Biologie thematisierten wir Eugenik und im Geschichtskurrikulum füllte die Spanne zwischen 1933 und 1945 nicht nur Leitz-Ordner, sondern auch ein halbes Schuljahr.
Ich halte das für richtig. Nicht wenige Länder können von sich behaupten, eigene Verbrechen so minutiös aufzuarbeiten. Ich glaube, die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist lehrreich, gibt Opfern Name, Gesicht und Stimme – und konstituiert ein nationales Selbstverständnis, aus dem sich gleichermaßen Schuld und Verantwortung ableitet.
In meinem Bekanntenkreis stand es nie zur Debatte, ob man sich gegen rechts positioniert. Es war selbstverständlich und die logische Konsequenz aus dem „Vernichtungsfeldzug“, wie der Historiker Israel Gutman den Holocaust 1987 bezeichnete. „Nie wieder“ wurde zur Losung einer Generation. Doch das daraus entwickelte Selbstverständnis erscheint mir heute janusköpfig: Aus der Tatsache, dass Vorfahren für den Holocaust mitverantwortlich zeichneten, erwuchs auch ein generationsübergreifender state of mind, wonach alles bekämpfenswert ist, was als rechts gilt – ganz egal, was damit gemeint ist.
Was nicht links ist
Und umgekehrt: Was heißt es eigentlich heutzutage, links zu sein? Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. In Dänemark regieren Sozialdemokraten, die Arbeitnehmerrechte stärken, aber Einwanderung reglementieren. In deutschen Medien gilt die polnische PiS-Regierung zumeist als „rechtskonservativ“, gleichzeitig aber verteilt sie Kindergelder und Seniorenbeihilfen. In vielerlei Hinsicht ist die in Deutschland als rechts definierte PiS eine linksökonomische Partei. In vielerlei Hinsicht existiert die klassische Dichotomie zwischen rechts und links nicht mehr.
Man mag erwidern, dass hierzulande Unionsparteien in 51 von 70 Jahren der Nachkriegszeit die Regierung anführten; der angebliche linke Zeitgeist also eine Chimäre sei. Doch ist die Union wirklich noch eine konservative Partei? Angesichts des Ausstiegs aus der Atomenergie, der Anerkennung der Ehe für alle und einer, nun ja, humanitären Einwanderungspolitik muss man zum Schluss kommen, dass wirklich konservative Standpunkte, also das, was man rechts nennen könnte, schon lange nicht mehr Markenkern der Union sind. Das mag Gründe haben, in dem Sinne folgt die Union aber eher dem beschriebenen Zeitgeist, als dass sie ihm widerspricht.
Ich will die Frage anders beantworten. Ich weiß, was für mich nicht links ist: Links ist nicht, aus falsch verstandener Toleranz oder Angst vor rechten oder konservativen Parteien darüber zu schweigen, dass es Probleme mit Integration, fundamentalistischer Religionsausübung oder Kriminalität von Migranten und Migrantinnen gibt. Wann immer sich ein Delikt wie in Kandel oder ein islamistisches Terrorattentat ereignet, ist zu beobachten, wie die mediale Öffentlichkeit eingeübt reagiert: Es wird als Allererstes davor gewarnt, dass bei einer breiten Berichterstattung Rechte die Tat für sich instrumentalisieren könnten. Hier wird der antifaschistische Grundkonsens zur selbstbeweihräuchernden Pose, die davor zurückschreckt, eine Diskussion zu führen, die den Falschen nutzen könnte.
Nicht links sind für mich heute auch die historisch gewachsenen linken Kämpfe für eine vermeintlich bessere Welt. Nicht links ist für mich, die Polizei, deren Beamten in Berlin übrigens zu fast 40 Prozent Migrationshintergrund aufweisen, mit Steinen anzugreifen. Nicht links ist für mich, mit Symbolen totalitärer Regime zu demonstrieren, die für millionenfachen Mord verantwortlich zeichnen. Nicht links ist für mich, am 1. Mai auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln Mülltonnen anzuzünden, Schaufenster zu beschädigen und Autos zu demolieren.
Was das politische Links einst war, erscheint heute korrumpiert, weil die eigentlichen Adressaten der eigenen Politik inzwischen zu Leidtragenden ihrer Konsequenzen geworden sind. Zugegeben: Oben geschilderte linke Kämpfe sind Besonderheiten der Hauptstadt, die man mit einem gehauchten „Dit is Berlin“ abtun könnte. Doch egal, ob es gegen „Bullenschweine“, „Scheißvermieter“ oder „Faschoparteien“ geht: Die Kämpfe gleichen Selbstvergewisserungstouren, circle jerks, in denen es nur noch darum geht, dogmatisch erlernte Rituale aus einer vergangenen Zeit durchzuexerzieren, um zu demonstrieren, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. „Und nach jedem 1. Mai, an dem ich Steine auf die Schweine warf, kam ein 2. Mai: Geil, Kindergeld vom Schweinestaat“, rappt Grim104 – und ich finde, diese Zeilen fangen den Widerspruch linker Kämpfe sehr gut ein.
Von aus der Zeit gefallenen Dinosauriern und politisch Heimatlosen
Ein dritter Moment, der sich in mein Gedächtnis einbrannte und der mich besonders politisiert hat, liegt nur wenige Wochen zurück. Ich darbte in einer Kreuzberger Altbauwohnung am Kanal unweit der Admiralbrücke. Neben mir saßen Juristen, Medienschaffende, Menschen aus der politischen Bildung und aus Kreativbranchen, also eine Gruppe, die man „Justemilieu“ schimpft. Wir bestellten Sauvignon Blanc beim Lieferservice Gorilla. Es wurde getrunken und mit dem Rausch kam zwangsläufig die hitzige politische Debatte.
Der einzige Berührungspunkt mit meinen Gesprächspartnern, den ich an diesem Abend feststellen konnte, war derjenige, dass wir jedweden Rechtsextremismus ablehnen und bekämpfen wollen. Doch darüber, wie dieser Rechtsextremismus zu definieren ist, entflammte bereits Streit. Ich argumentierte, dass Teile der AfD gewiss darunterfielen, es aber durchaus Wähler gebe, die die Partei aus Protest wählten. Empörung. Ich sagte, eine bürgernahe Politik, die sich ihrer Sorgen annimmt, wäre hilfreich.
Sie plädierten für Antifa als Brandmauer gegen den Faschismus. Als es um eine Autorin ging, die in der Vergangenheit immer wieder als laute antirassistische Stimme auftrat, und ich erwiderte, dass ihre Opferhaltung allein schon aus dem Grund befremdlich anmutete, dass sie auf den ersten Blick gar nicht als Migrantin wahrgenommen werde und hierzulande amtlich Karriere machte, jaulten meine Freunde. „Das darfst du als weißer Mensch gar nicht sagen“, raunte mir eine Freundin zu. Als ich darauf verwies, dass ich selbst Migrationshintergrund besitze, wurde abgewunken. Ich würde „als deutsch gelesen“, ich sei nicht betroffen.
Wie ich an diesem Abend festgestellt habe, lebe ich inzwischen in einem Paralleluniversum, in dem es politisch wenige bis gar keine Schnittmengen mit meiner Generation gibt. Die Debatten aus dem Kreuzberger Altbau stehen Pars pro Toto für die Thesen, die gerade auch medial formuliert werden; in denen die Forschung eines weißen Wissenschaftlers zur Unterdrückung von Schwarzen „strukturellem Rassismus“ gleichkommt oder in denen allen Männern nahegelegt wird, in Therapie zu gehen, um die eigene Rolle im Patriarchat zu reflektieren.
Als eine Autorin im Tagesspiegel schrieb, dass Antirassismus zu einem Geschäftsmodell geworden sei, erhielt sie wütende Zuschriften, in denen auf rechtsextreme Morde verwiesen wurde. In dieser Weltsicht ist der Weg von Hanau zur falschen Verwendung von Garam-Masala-Gewürzen nicht weit.
Meine Eltern sind das, was man heute politisch heimatlos nennt
Und an diesem Punkt stehe ich nun, eigentlich sitze ich, nämlich zwischen den Stühlen, bin ratlos und beklemmt, in Liebe zu meinen ältesten Freunden, aber in meinem Glauben bestärkt, kein Teil der „Generation woke“ sein zu wollen.
An dieser Stelle fallen die Erinnerungen, die sich in mein Gedächtnis einbrannten, zusammen, und ich denke auch an Mutter und Vater, die heute durchs Raster fielen.
Ich will das so eindeutig benennen: Für die aufgeweckte Berliner Generation sind meine weißen Eltern Feindbilder. Das Deutsch meines Vaters, das er sich bei der emsigen Lektüre der „Buddenbrooks“ aneignete und das er bis heute mit schwerem osteuropäischem Akzent spricht, birgt keinen Platz für gegenderte Substantivformen. Meine Mutter hegt Vorurteile gegenüber einigen muslimischen Mitmenschen. Kandel hat dazu beigetragen. Sie spricht das auch offen aus. Von radikalfeministischen Kämpfen halten meine Eltern nichts. Sie haben Vorurteile, äußern sich politisch inkorrekt, manchmal vielleicht rassistisch, aus der Zeit gefallen wie Velociraptoren, die eine Menge über ein anderes Gestern verraten. Gleichzeitig stellen sich meine Eltern hinter die polnische Demokratiebewegung und würden nie die AfD unterstützen. Aber zählt das noch? Viele Prämissen der „Generation woke“ verstehen sie nicht ansatzweise. Und mit den klassisch linken Klassenkämpfen haben sie ohnehin nichts gemein, denn als Polen vertreten sie auch einen antikommunistischen Grundkonsens.
Mutter und Vater sind das, was man heute politisch heimatlos nennt.
Die Identität des Postidentitären
Auch heute klackern noch Springerstiefel auf deutschem Asphalt; auch heute gibt es reale Fälle migrantischer Gewalt; und vielleicht sind beide Erkenntnisse Teil einer großen Wahrheit, aus der sich meine Generation ein neues Selbstverständnis ziehen kann, das sich von dem Selbstverständnis von Mutter und Vater abhebt, aber gleichzeitig nicht völlig damit bricht.
Zu diesem Eingeständnis gehört zuerst eine ganze Portion Dankbarkeit. Unsere Urgroßväter kämpften in Weltkriegen gegen Soldaten, unsere Eltern in totalitären Systemen für Freiheit – und unsere Generation in Kreuzberger Altbauwohnungen gegen das generische Maskulinum und die Frage „Woher kommst du?“. Allein das legt schon Zeugnis darüber ab, wie gut es uns geht.
Heute fühle ich mich immer mehr einer (migrantischen) Community zugehörig, die man postidentitär nennen könnte und die mit dem Zeitgeist brechen will. Wir sind Menschen mit türkischem, jüdischem, libanesischem, äthiopischem, österreichischem, armenischem und italienischem Migrationshintergrund, aber unter uns sind auch Deutsche, die unsere Weltsicht teilen. Manche sind queer, manche straight, einige wenige wohlhabend geboren, die meisten soziale Aufsteiger. Manche nenne ich Freunde, viele kenne ich aus dem Internet. Wir sind noch eine kleine Gruppe, aber wir wachsen.
Was uns eint, ist, dass wir uns nicht als Opfer sehen. Wir haben keine Lust, in einem weltoffenen Land mit Aufstiegschancen an jeder Ecke Rassismus zu wittern. Wir wollen Menschen auch nicht auf Grundlage von identitären Kriterien in Kollektive einteilen, in Privilegierte und Unterprivilegierte, in Täter und Opfer, in Cis-Hetero und „FLINTA“. Niemand sucht sich schließlich seine Familiengeschichte, sein Geschlecht, seine Hautfarbe oder seine sexuelle Orientierung aus. Menschliche Identitäten sind für uns hochkomplex und widersprüchlich.
In Migranten sehen wir keine Feinde, aber auch keine schutzbedürftigen Kuscheltiere, die man stets verteidigen muss. Wenn Dinge in der multikulturellen deutschen Gesellschaft schieflaufen, dann sprechen wir das an, ohne Angst zu haben, als Rassisten zu gelten. Wir „cultural appropriaten“ die deutsche Sprache, wie wir wollen, „wallah billah“, lieben die Ästhetik von Afrobeat, Gypsyfolk, Haftbefehls brachiale Sprache und britischen Indierock. Wenn wir wollen, lassen wir uns unsere weißen Haare zu Dreadlocks flechten oder kochen jamaikanisches Jerk Chicken, ohne dabei Niedertracht gegenüber den Kulturen zu empfinden, aus denen diese Frisuren und Speisen stammen.
Wir sind der Meinung, dass Sprechverbote verabschiedet gehören und nicht die eigene Befindlichkeit darüber entscheiden soll, ob man sich zu Themen äußern darf. Deutsche sollen über den Islam, Türken über den Holocaust und straighte Menschen über LGTBQ-Rechte sprechen, warum auch nicht? Dabei ist auch nicht jede Meinung, die vom gutmenschlichen Berliner Konsens abweicht, gleich die wortgewordene Wiedergeburt des Faschismus. Auch unser Verhältnis zu den „Almans“, dem Kampfbegriff der „Generation woke“, den auch ich schon genutzt und verteidigt habe, unterscheidet sich. Wir belächeln die Deutschen, aber schmähen sie nicht. Sie sind für uns keine „alten weißen Männer“ oder „Menschen mit Nazihintergrund“, sondern liebenswürdig und schrullig, weil sie Konzepte wie die Kehrwoche oder den Brückentag haben und Worte wie „Fingerspitzengefühl“, „Teutonengrill“ oder „Kaltschnäuzigkeit“ sagen.
In jedem Fall glauben wir nicht an politische Dogmen oder geschlossene Weltbilder: Nicht alles, was rechts ist, ist für uns falsch, und nicht alles, was links ist, ist für uns richtig – das gilt aber auch vice versa. Moral ist in politischen Streitfragen kein guter Ratgeber für uns. Vor allem sehen wir in uns keine Verfügungsmasse für das Gutgewissen der „Generation woke“, die Migranten vor den Ungerechtigkeiten dieser Welt beschützen muss, um fehlende Zugehörigkeit zu kompensieren und die Schuldlast der eigenen Geschichte in Gerechtigkeitskämpfe der Neuzeit zu überführen. Vieles, was heute „woke“ ist, nehmen wir als reaktionär, illiberal und mitunter sogar neorassistisch wahr.
Ich will auch migrantische Gewalt ansprechen dürfen
Ich will an dieser Stelle klarstellen: Wie viele andere Menschen war auch meine Familie von Rassismus betroffen. Ich will das nicht kleinreden. Wir wurden „Polacken“ genannt, und wer im Westdeutschland der 90er-Jahre aufwuchs, der weiß, dass Rassismus auch für Polen alltäglich war, teilweise noch ist. Doch die Reaktion meiner Eltern war kein krampfhafter Verweis auf die rassistische deutsche Mehrheitsgesellschaft, sondern der Hinweis, dagegen aufzubegehren, sich zu wehren; dumme Menschen gebe es schließlich überall. „Nigdy nie ma lekko“, sagt man auf Polnisch, und vielleicht verrät dieser Satz (zu Deutsch etwa: „Nie wird dir etwas geschenkt werden“) auch etwas darüber, was der „Generation woke“ abhandengekommen ist.
Inzwischen habe ich mich vom „Deutschland verrecke“-Duktus der Antideutschen verabschiedet. Ich habe keine Lust mehr darauf, denn das Deutschland, in dem ich lebe, ist nicht mein Feind, sondern ein Land, dem ich alles verdanke und das ich gelernt habe zu lieben. Trotz der kopfzerbrechenden Bürokratie und trotz des noch immer vorhandenen Rassismus, des immer noch vorhandenen Antisemitismus. Denn ja, natürlich gibt es diesen, er ist real, er mordet in Hanau und Halle, aber er hat nichts mit den plärrenden Elitendiskursen zu tun, bei denen sich selbstgerechte „Vorkämpfer*innen“ neue Spielwiesen suchen, auf denen immer neue Rassismen gesucht, gefunden und dekliniert werden, bis das Konzept Rassismus wirklich bis zum letzten Tropfen verwässert ist.
Wenn ich heute an Neuköllner U-Bahnhöfen stehe, glaube ich, dass ich Slimes Losung umschreiben muss. „Woke muss sterben, damit ich leben kann“ vielleicht? Oder „Deutschland muss leben, damit ich sterben kann“?
Sollte ich irgendwann verelenden, dann jedenfalls im Wissen, dass hierzulande nur noch sehr wenig an das Deutschland erinnert, das Mutter und Vater präsent vor Augen hatten, als sie in den 80er-Jahren in das Land des Tätervolks aufbrachen. Im Wissen um Freiheit und Fortschritt werde ich mich weiterhin klackernden Springerstiefeln in den Weg stellen. Aber auch migrantische Gewalt ansprechen.
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