Kommentar

Schafft endlich alle Corona-Maßnahmen ab und umarmt das Virus

Die Kassenärzte fordern die Abschaffung aller Beschränkungen wegen Covid-19. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hält dagegen. Ein großer Fehler.

„Wir alle wollen wieder ins Berghain: Schaffen Sie endlich die Corona-Maßnahmen ab, Herr Müller!“, sagt unser Autor.
„Wir alle wollen wieder ins Berghain: Schaffen Sie endlich die Corona-Maßnahmen ab, Herr Müller!“, sagt unser Autor.Imago

Berlin-„Wenn eine Impfpflicht nicht gewollt ist – und ich will sie auch nicht –, dann gibt es politisch nur eine Alternative: Die Aufhebung aller staatlich veranlassten Restriktionen“, sagte der stellvertretende Vorstandschef des Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Stephan Hofmeister, am Freitag in Berlin. Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, forderte wiederum ein Ende der Corona-Maßnahmen zu Ende Oktober. Nötig sei „eine klare Ansage der Politik: In sechs Wochen ist auch bei uns ‚Freedom Day‘“, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung mit Verweis auf das entsprechende Vorgehen in Großbritannien im Juli. Beide Äußerungen haben zu kontroversen Reaktionen geführt. Auch bei unseren Leserinnen und Lesern. Die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende ist ähnlich gespalten wie die deutsche Gesellschaft insgesamt. Unser Team nimmt die Debatte daher zum Anlass, über die Zukunft der deutschen Corona-Politik offen und ohne Denkverbote zu diskutieren. Den Auftakt macht Jesko zu Dohna, Stellvertretender Chefredakteur der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung.

Am Wochenende habe ich mich wirklich gefreut. Der Leiter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hat ja von der Politik gefordert, bis Ende Oktober diesen Jahres alle Corona-Maßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsgebot aufzuheben. Mir sprachen jene Ärzte, die das fordern, dabei aus der Seele (und sie sind ja oft ebenso qualifiziert wie jene Ärzte, die das Gegenteil fordern). So etwas wie den vorgeschlagenen „Freedom Day“ am 30. Oktober braucht es meines Erachtens dabei zwar nicht. Aber ich finde, die Abschaffung der Corona-Maßnahmen ist schon längst überfällig.

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Enya Mommsen
Zum Autor
Jesko zu Dohna wurde 1987 in Dortmund geboren, er ist Historiker und Absolvent der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München. Er arbeitete für den Deutschlandfunk (DLF), Playboy und das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL und baute das Medien-Start-up Media Pioneer (Gabor Steingart’s Morning Briefing) mit auf. Seit März 2021 ist er bei der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung. Jesko zu Dohna verantwortet die gesamte Wirtschaftsberichterstattung, Food & Drink und ist Stellvertretender Chefredakteur.

Aber wie das so ist in diesen Zeiten, habe ich mich zwar gefreut, aber gleich schon geahnt, dass unsere hasenfüßigen Politiker dabei nicht mitgehen werden. Und tatsächlich, am Sonntag meldete sich dann Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) zu Wort: Angesichts der derzeitigen Impfquote sei dies nicht möglich. Zunächst müssten sich mehr Menschen impfen lassen, sagte er der ARD. Und weiter: Ihm sei „schleierhaft“, warum sich nicht mehr Menschen impfen lassen wollen.

Für mich steckt in diesem Wort „schleierhaft“ die ganze Ohnmacht der Politik. Es verdeutlicht für mich, dass jetzt das Handeln des Staates in der Pandemie an einen Punkt angelangt ist, an dem es nicht mehr weitergeht. Und deswegen schließe ich mich jetzt frohen Mutes der Forderung der KBV an. Schaffen wir endlich alle Corona-Maßnahmen ab und umarmen wir dieses Virus! Denn es gehört jetzt nicht nur wie die Grippe und andere Erreger zu unserem Alltag, sondern es ist auch gekommen, um zu bleiben. Herzlich willkommen!

Jeder hatte die Chance, sich impfen zu lassen

Ja, am Anfang der Pandemie herrschte große Ratlosigkeit bei Medizinern und Wissenschaftlern und auch große Angst bei Politik und Bevölkerung. Die Maßnahmen und die Lockdowns waren mehrheitlich richtig. Aber jetzt brauchen wir das alles nicht mehr. Denn: Außer ein paar ganz wenige Gefährdete, die sich nicht impfen lassen können und die unseren speziellen Schutz und unsere Solidarität mit Sonderrechten verdienen – haben jetzt alle die Möglichkeit gehabt (oder haben sie natürlich weiterhin), sich impfen zu lassen. Das Ganze dauert nur höchstens fünf Minuten beim Hausarzt. An alle Impfgegner: Trauen Sie sich!

Die, die sich dieser wirklich rationalen Entscheidung immer noch entziehen, müssen eben jetzt mit dem Risiko leben, dass sie gefährdeter sind als ich, der sich gerne und schnell impfen hat lassen. Stand heute sind in Deutschland laut Robert-Koch-Institut (RKI) 63 Prozent und damit fast 53 Millionen Menschen vollständig geimpft. Das reicht zwar noch nicht für die Herdenimmunität, aber so viele Menschen, die wirklich stark durch einen schweren Krankheitsverlauf gefährdet sind, sind in den restlichen 37 Prozent – Stichwort Kinder und Jugendliche – doch gar nicht mehr enthalten. Und: Laut einer Umfrage des RKI liegt die Impfquote in Deutschland wohl weit höher, als in den offiziellen Zahlen ausgegeben. Umso besser also.

Und das Argument der überfüllten Intensivstationen – das viele Kritikinnen und Kritiker jetzt anführen werden – schwächt sich doch auch immer mehr ab. In Deutschland waren die Kliniken flächendeckend vor Einführung des Impfstoffes doch zu keinem Zeitpunkt wirklich überlastet. Unser Gesundheitssystem fährt in Deutschland auf Puffer. Spreche ich mit Freunden aus England, berichten die mir, dass britische Kliniken in strengen Wintern auch schon vor der Pandemie manchmal triagieren mussten, um allein die riesige Menge an Grippepatienten zu behandeln. Dagegen ist der Zustand unseres Gesundheitssystem doch fast schon Luxus, frotzeln sie.

So absurd sind die Corona-Regeln inzwischen

Und auch abgesehen von den ganzen Risiken sind die Regeln, die jetzt noch Bestand haben, doch total ineffizient. Man braucht nur ein paar Fragen in den Raum zu werfen, um das ganze Dilemma zu erklären: Wie oft wurde ihr Impfzertifikat am Eingang eines Restaurants wirklich eingängig kontrolliert? Warum darf ich im Restaurant am Tisch ohne Maske stundenlang herumsitzen und mich anregend unterhalten, muss aber eine Maske tragen, wenn ich einsam und alleine aufs Klo gehe? Warum setze ich am Arbeitsplatz im engen Büro die Maske ab, muss sie aber aufsetzen, wenn ich schnell mal ein paar Kippen kaufe? Warum darf ich im Vabali in der engen Sauna ohne Maske sitzen, muss aber im textilfreien Außenbereich Maske tragen? Warum müssen unsere Schüler im Unterricht mit 1,5 Meter Abstand Maske tragen, dürfen sie aber beim Sportunterricht abnehmen? Und warum gelte ich ein paar Wochen nach meinem positiven PCR-Test beim Dönerladen als „Genesener “, aber nicht, wenn der Arzt in der Charité bei mir hohe Antikörperwerte feststellt? Warum haben Clubs eigentlich wieder geöffnet in Berlin?

Sie sehen wahrscheinlich schon, wie absurd das ganze Theater inzwischen geworden ist. Und ein Argument möchte ich hier auch noch einmal herausstellen. Ob jemand unvernünftig ist, ist angesichts der beschriebenen Situation wirklich nicht mehr wirklich von Belang, denn die überwiegende Mehrheit der Impfwilligen ist bereits geimpft und konnte sich gegen einen schweren oder tödlichen Verlauf schützen. Und für die anderen ist es doch mittlerweile nicht mehr viel schlimmer als das Ketterauchen. Man muss eben selber einschätzen, welche Risiken man eingehen möchte.

Und wenn Sie meine Ausführungen jetzt immer noch unsolidarisch finden, dann kann ich Sie beruhigen. Denn auch Ungeimpfte werden – ebenso wie andere teure Patienten wie Raucher, Basejumper, Fallschirmspringer, Fußballspieler oder Alkoholiker – ganz solidarisch in den Krankenkassen von uns allen mitfinanziert. Und dabei handelt es sich anders als beim Masketragen um echte Solidarität mit den Unvernünftigen. Warum? Weil unsere Gesundheit und damit ein kostspieliger Krankenhausaufenthalt ja auch oft nicht nur mit dem Lebenswandel, sondern gar nicht selten mit Zufall zu tun hat. Jeder von uns kennt schließlich einen kerngesunden Verwandten oder Bekannten, bei dem aus völlig heiterem Himmel ein Tumor gefunden wurde.

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Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.