Tina testet

Restaurant Ernst: Essen auf Weltniveau mitten in Berlin-Wedding

Das Restaurant Ernst gilt bei Kennern rund um den Globus als der neue Hotspot der Gastroszene.

Puristisches Interior – Im Gastaraum soll nichts die Sinne vom Genuss der Gerichte ablenken. 
Puristisches Interior – Im Gastaraum soll nichts die Sinne vom Genuss der Gerichte ablenken. Salem Charabi

Ich muss gestehen, ich halte nicht viel von Bestenlisten, weder bei Podcasts noch bei Filmen und schon gar nicht bei Restaurants. Doch natürlich gibt es Restaurants, die wie keine anderen für die kulinarische DNA eines Landes stehen. Man denke etwa an die Dänen, die seit langem das Noma als Aushängeschild vor sich hertragen. Oder die Spanier, die sich und die Molekularküche durch das El Bulli unsterblich gemacht haben und nun das El Celler de Can Roca feiern.

Und wir hier in Deutschland? Wen haben wir, der uns repräsentiert?

Für mich ist die Antwort nun klar. Wir haben das Ernst. Dieses Restaurant ist ein Phänomen. Tatsächlich findet es sich nicht unter den ersten 50 der berühmten Liste „World’s 50 best Restaurants“. Auch hat es „nur“ einen Michelin-Stern. Doch wenn Restaurantkritiker heute aus dem Ausland etwas über den aktuellen Stand der Küche in Deutschland wissen wollen, fragen sie eher selten nach Tim Raue aus Berlin (Platz 40, zwei Sterne). Sie fragen auch nicht nach Sven Elversfeld vom Wolfsburger Aqua (Platz 72, drei Sterne) oder dem Vendôme in Bergisch-Gladbach (Platz 97, drei Sterne). Nein, sie fragen nach Dylan Watson-Brawn – dem Koch aus dem Ernst in Wedding, das erst auf Platz 118, dafür aber für einen radikalen Purismus steht.

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Am 7./8. August 2021 im Blatt: 
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Begeistert ins Lob der Kritiker eingestimmt

Ich gebe zu: Mir war dieser Hype bisher zu anstrengend und die einheitliche Lobeshymne meiner Kritikerkollegen suspekt. Nicht, dass ich einen Bogen um das Ernst gemacht hätte. Nur habe ich mich nie sonderlich um einen der äußerst raren Plätze bemüht, für die man wie für einen Theaterbesuch lange im Voraus ein Ticket kaufen muss. Außerdem kostet dieses 195 Euro, so etwas leistet man sich nicht oft im Leben.

Doch wer kann, sollte das einmal tun.

Auch wenn ich nun ebenso begeistert in das Kritikerlob einstimme, es ist mir egal. Mein Besuch als Ernst-Debütantin, zu dem mich kürzlich ein Kollege spontan mitnahm, war ein unvergessliches, ich will fast sagen zeremoniell-reinigendes Erlebnis. Mir war, als hätte man meine Geschmacksnerven wie nach dem Fasten wieder auf den Nullpunkt geeicht – und das, obwohl ich über 30 Gänge gegessen habe.

Könnte auch in einem Museum sein - der Speiseraum des Restaurants, die Farben sind gedeckt, die Beleuchtung ist sehr dezent.
Könnte auch in einem Museum sein - der Speiseraum des Restaurants, die Farben sind gedeckt, die Beleuchtung ist sehr dezent.Salem Charabi

Absolut puristisch ist schon das Ambiente. Kaum fiel die schwere silberne Eingangstür hinter mir ins Schloss, ließ ich meine Skepsis, mein angelesenes Wissen und auch den lauten Wedding draußen. Drinnen, fühlte ich, hätte es New York, Tokio oder auch ein moderner Museumsraum sein können, wie ihn sich manche Kleinstädte leisten. Der Ort verlor an Bedeutung. Für den Abend schmolz der Raum zur Performance zusammen, bei der ich als Gast Zuschauer und Teilnehmer zugleich war.

Es begann mit einem winzigen Trinkschälchen. Darin ein Dashi aus Kombu-Alge mit Yuzu, das mehr wie ein lauwarmes Wasser war, gewürzt mit diesem so besonderen, zwischen Mandarine und Zitrone changierenden Geschmack. Wie ein Thema in der Musik setzte es den Grundton und wurde im Laufe des Abends in vielen weiteren Gängen zitiert.

Die insgesamt fünf Köche unter der Regie des 27-jährigen Küchenchefs Dylan Watson-Brawn, einem Kanadier, der als bisher einziger Nichtjapaner in einem Drei-Sterne-Restaurant in Tokio ausgebildet wurde, schienen mir wie Zeremonienmeister. Mit präzisen, reduzierten Handbewegungen richteten sie relativ rasch aufeinander folgende Gänge mit jeweils einem Produkt als Star an.

Gecrunchte Bienen-Larven, die wie Brotkrümel schmeckten

Zunächst kam unvergleichliches Gemüse, dessen Anbau Watson-Brawn unter anderem bei einem Mecklenburger Bauern mitbestimmt und überwacht: Auf eine gesalzene, in Milchhaut eingelegte Minigurke folgte etwa eine in Räucherbutter gegrillte, zarte Zucchini mit gecrunchten Bienen-Larven, die wie Brotkrümel schmeckten. Dann die Blüte der Zucchini, sizilianisch serviert, das heißt in den cremigsten Ricotta gewickelt. Der Zyklus seltener Gemüsegänge setzte sich fort, es gab zum Beispiel in Dinkelmehl frittierte Shiitake-Pilzköpfe mit russischem Mangold, die frischesten, süßlichen Erbsen und die gerillte Wurzel eines spargelähnlichen Salates, der auch chinesische Keule heißt und wunderbar bitter-salzig schmeckte.

Essen beginnt im Kopf, hier im Ernst gilt dieser Satz besonders – jede dieser scheinbaren Kleinigkeiten wird zur Geschmacksoffenbarung, wie sie wohl ein Baby empfinden muss. Zu meiner Erleichterung ergingen sich die Köche nicht in endlosen Erklärungen. Ob der in Dashi gegarte Kohlrabi nun einen harten Winter unter der Erde zu überstehen hatte, wurde nicht gesagt – obwohl dies natürlich seinen Geschmack beeinflusst. Die Hinweise der Köche blieben erfreulicherweise so präzise und knapp wie ihre Choreografie.

Die Küche ist dabei die Bühne, die sechs bis maximal acht Gäste pro Abend sind nur durch einen schmalen Holztresen, der zugleich der Tisch ist, von ihr getrennt. Von dort blickte ich die Köche gebannt an, die sandig-beigen Farben und Holztöne, in denen das Ernst gehalten ist, verstärken die Konzentration aufs Wesentliche. Gegessen wird übrigens meist nur mit Holzlöffelchen und sehr spitzen Holzstäbchen, lediglich bei zwei, drei Tellern gab es Besteck.

Nach den Gemüsen folgten – übergeleitet von einer wunderbaren Auster aus dem Loire-Flussdelta, die roh mit Ei umwickelt war, und einem Onsen-Ei mit dunklen Bohnen in Fleischbrühe – die Meeresfrüchte und Fischgänge. Watson-Brawn hatte einen Angel-frischen 40 Kilo-Thunfisch zerlegt, der von mager bis fett in mehreren Etappen aufgetischt wurde. Sein perfekt geschnittenes Fleisch, etwa vom fettigen Bauch, wurde, vorsichtig gewürzt, mit Reisessig und Ingwer in Spitzkohl gewickelt. Feiner isst man das sicherlich nicht in Japan. Fragt man den Küchenchef, was er in Japan gelernt habe, sagt Dylan Watson-Brawn: dass die Bedeutung des Kochs immer mehr hinter der des Produzenten zurücktrete.

Dieser Produktfetischismus im allerbesten Sinn zieht sich auch über die folgenden Hummergänge, mein Favorit: ausgelöstes Scherenfleisch, das in einem rauchigen, fast speckig anmutenden Eierstich mit Schnittlauch serviert wird. Bei den folgenden, Dessert-ähnlichen Gängen bildete eine einzelne Erdbeere den Schlusspunkt. Watson-Brawn hat sie von der Bio-Bäuerin Branca aus dem Brandenburgischen Beeskow mitgebracht. Doch veräppelt fühlt man sich danach nicht. Vielmehr erleuchtet, als hätte man diese Frucht zum ersten Mal gekostet. Tatsächlich hätte ich gern den Rest der Nacht auf einer Pritsche in diesem Raum verbracht, um nachzudenken. Mein Körper hatte das Essen aufgenommen. Doch mein Kopf wird diese intensiven Eindrücke noch länger verarbeiten müssen.


Preise und Adresse

Ticket Summer Tasting Menu 2021: 195 Euro pro Person

Buchung über: www.exploretock.com/ernstberlin

Ernst Restaurant, Gerichtstraße 54, 13347 Berlin; Mi.–Sa. 19.30 bis 0 Uhr; www.ernstberlin.de

Schwer und silbern: Der Eingang des Restaurants Ernst würde auch jeden Berliner Club schmücken.
Schwer und silbern: Der Eingang des Restaurants Ernst würde auch jeden Berliner Club schmücken.Charlotte Hansel

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