Interview

Polens Vizeaußenminister: „Als nächstes wird Putin vielleicht Polen attackieren“

Polens Haltung ist klar: Das Land will härtere Sanktionen gegen Russland. Doch wäre das nicht eine Eskalation der Krise? Ein Gespräch mit Pawel Jablonski.

Ein Solidaritätsprotest in Warschau für die Ukraine
Ein Solidaritätsprotest in Warschau für die Ukraineimago/Piotr Lapinski

Der Ukraine-Krieg findet kein Ende, die Friedensgespräche zwischen Russland und Ukraine haben keinen Erfolg gebracht. Die Deutschen wollen die Lage nicht eskalieren lassen, sie sind trotz erster harter Sanktionen nun vorsichtiger geworden. Die Polen haben einen anderen Standpunkt, sie befürworten härtere Sanktionen gegen Russland. Wir wollten vom Vize-Außenminister Polens wissen: Wie kann man Putin stoppen? Und: Ist eine nukleare Eskalation wirklich möglich?

Berliner Zeitung am Wochenende: Herr Minister, was geht im Kopf eines polnischen Vize-Außenministers vor, während Russland einen Krieg mit Polens Nachbarland Ukraine führt? Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Pawel Jablonski: Am meisten macht mir Sorge, dass die EU nicht entschlossen agiert und Putin so erlaubt, den Krieg zu gewinnen. Russland hat zwar in diesem Krieg kaum etwas erreicht. Trotzdem ist das Land militärisch mächtiger. Russland kann diesen Krieg gewinnen. Das wäre ein sehr schlechtes Szenario für die nächsten Monate und Jahre, für uns, Europa, die Welt.

Stehen Sie mit den Ukrainern in Kontakt? Wie ist die Lage?

Ja, wir sind die ganze Zeit in Kontakt mit der ukrainischen Botschaft in Warschau und mit den ukrainischen Ministern und Regierungsvertretern. Ich bin im Gespräch vor allem mit jenen Verantwortlichen, die sich um die Organisation der humanitären Hilfe kümmern. Diese Hilfe koordiniere ich. Wir wollen wissen, was die Ukrainer am meisten benötigen, wohin die Hilfe gehen soll. Daraus besteht momentan 80 Prozent meiner Arbeit.

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Tomasz Kurianowicz
Zur Person
Pawel Jablonski wurde am 25. Januar 1984 geboren. Er hat Jura an der Universität Warschau studiert und Auslandsaufenthalte absolviert, etwa an der Universidad de Castilla-La Mancha in Spanien. Seit 2019 ist Pawel Jablonski Vize-Außenminister Polens.

Polen hat den USA angeboten, MiG-29-Kampfjets über Rammstein in die Ukraine zu schicken. Die USA haben abgelehnt. Wie reagieren Sie darauf?

Ich möchte nicht zu detailliert auf diese Frage eingehen. Trotzdem will ich klar sagen: Wir Polen sind gewillt, der Ukraine auf ganz unterschiedliche Weise zu helfen. Aber wenn es um militärische Dinge geht, wollen wir, dass die Entscheidung die Nato fällt. Es kann nicht sein, dass ein Nato-Land eine Entscheidung alleine fällt, das Risiko, das mit dieser Entscheidung einhergeht, in Kauf nimmt und mit diesem Risiko alleine leben muss. So ein Szenario wollen wir vermeiden.

Die US-Amerikaner sind nervös, und doch gibt es eine humanitäre Krise, das Morden in der Ukraine hört nicht auf. Ein Dilemma. Der Westen würde gerne helfen, auch militärisch, doch die Angst ist groß, dass die Situation mit Russland eskaliert. Halten Sie das für möglich?

Ich denke nicht, dass Russland in den nächsten Tagen oder Wochen den Konflikt weiter eskalieren wird. Einfach deshalb, weil der Mythos der unbesiegbaren russischen Armee falsch war. Russland ist noch nicht einmal imstande, mit einem Land, also mit der Ukraine, fertig zu werden, oder sagen wir: schnell fertig zu werden. Was nicht heißt, dass Russland nicht bald imstande sein könnte, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen. Wenn wir als Polen Angst haben vor einer weiteren Eskalation, dann haben wir diese Angst in einer etwas weiter gefassten Perspektive. Wenn wir als Westen Russland erlauben, diesen Krieg zu gewinnen, wird Russland bald zu neuer Kraft finden und in ein paar Monaten oder in einem Jahr das nächste Land angreifen wollen. Für alle sollte klar sein, dass Putin so eine Politik durchsetzen will. Daher ist es jetzt sehr wichtig, dass wir die Sanktionen gegen Russland erweitern.

Die Sanktionen stellt kaum jemand in Frage. Aber wie sieht es mit militärischer Hilfe aus?

Über militärische Sachverhalte will ich nicht diskutieren, das hilft nichts. Wir sprechen mit unseren Verbündeten. Klar, nicht alle haben in der Nato die gleiche Meinung. Aber ich denke, dass wir trotzdem zu einer Verständigung kommen. Was die Sanktionen betrifft, bin ich nicht Ihrer Meinung. Es gibt in Europa Länder, die gegen schärfere Sanktionen sind und ein Öl- und Gas-Embargo blockieren.

Sie meinen Deutschland?

Wir wissen es zu schätzen, dass Bundeskanzler Scholz den Mut hatte, die Haltung der deutschen Regierung gegenüber Russland zu ändern. Seine Vorgänger hatten ja eine andere Haltung. Wir freuen uns, dass er sich unsere Argumente angehört hat. Er hat ja mit unserem Premierminister Mateusz Morawiecki gesprochen. Doch heute brauchen wir noch mehr Mut. Wir müssen jetzt offen sagen, dass wir die Armee von Putin nicht finanzieren wollen. Jeden Tag verdient Putin Hunderte Millionen Euro durch seine Rohstofflieferungen nach Westeuropa. Auch von Deutschland bekommt er Geld. Ich sage ganz also ganz offen: Meine lieben deutschen Kollegen! Hört auf, die Sanktionen zu blockieren. Stoppen wir die Finanzierungsmodelle von Putin.

Nochmals zum Dilemma, was militärische Hilfe betrifft: Sehen Sie die Gefahr einer Eskalation? Einer nuklearen Eskalation vielleicht? Das wäre ein tragisches Szenario.

Ich möchte das ganz offen erklären. Für uns hat die Sicherheit Polens oberste Priorität. Das ist unsere Verantwortung. Wir wissen, dass egal, was wir tun, Russland uns als Feind ansehen wird. Selbst wenn wir nichts täten, würde Russland Polen als Feind sehen. Wir zweifeln nicht daran: Falls wir Russland den Sieg ermöglichen, wird Russland weitere Länder attackieren wollen, darunter auch Polen. Genau deshalb, aus der sicherheitspolitischen Perspektive der Polen, ist es so wichtig, den Ukrainern jetzt vielfältig zu helfen. Falls wir Putin aufhalten, falls wir seine Kriegsmaschine zerstören, also seine Wirtschaft, die den Krieg finanziert, falls wir das tun, können wir die Sicherheit von Polen und Europa garantieren. Falls wir von solchen Schritten davonlaufen, ermöglichen wir heute Putin den Sieg  und irgendwann die Attacke auf andere Länder.

Aber ganz offen gefragt: Haben Sie keine Angst, dass sich Putin bei militärischer Hilfe für die Ukraine durch die Nato eingeengt fühlt und nuklear zurückschlägt?

Wir werden noch viele solcher Drohungen hören. Das ist Putins Taktik: Er will dem Westen Angst einjagen. Er wird damit drohen, nuklear anzugreifen. Aber Drohungen und deren Realisierung – das sind zwei unterschiedliche Dinge. Putin ist ein Verbrecher. Er ist zu jeder Gewalttat bereit. Aber er ist nicht verrückt. In seinen Schritten ist er rational. Er will gewinnen. Er weiß, dass ein nuklearer Angriff unumkehrbar wäre. Das würde die Möglichkeit eines russischen Sieges durchkreuzen. Und: Selbst wenn er einen nuklearen Angriff starten wollte, wäre die Möglichkeit für die Realisierung eines solchen Angriffs gering. Denn man muss dafür eine ganze Reihe von Prozeduren einleiten. Es ist ja nicht so, dass Putin einfach einen Knopf drückt und eine Rakete startet. In dieser Entscheidungskette sind viele Menschen beteiligt. Ich denke, dass viele wichtige Personen in Russland, die ganz oben in der Befehlskette stehen, vor den Konsequenzen eines solchen nuklearen Angriffs Angst hätten. Um ehrlich zu sein: Es würde schon reichen, wenn eine einzige Person um Putin herum Angst davor hätte. Also: Die hiesige Angst vor dem nuklearen Krieg ist Panikmache. Es gibt keine reale Bedrohung, dass so etwas passiert.

Ich dachte, zwei Menschen in Russland entscheiden, ob eine atomare Rakete abgeworfen wird?

Das läuft so nicht. Vielleicht ist es in Filmen so, dass die Präsidenten der USA und der Sowjetunion Koffer haben mit einem Knopf. Und dass beim Drücken dieses Knopfes eine nukleare Rakete abgefeuert wird. Das läuft in der Realität so nicht ab. Das alles ist viel komplizierter. Der böse Wille eines Mannes reicht da nicht aus. Aber man muss das unterstreichen: Würde Putin einen nuklearen Krieg wollen, müsste man davon ausgehen, dass er ein Wahnsinniger ist. Aber ich glaube nicht, dass er wahnsinnig ist. Er ist ein Bandit, ein Verbrecher, aber er macht seine verbrecherischen Schritte nur, wenn sie sich für ihn lohnen.

Die Deutschen, die Amerikaner müssten das dann ja alles auch wissen. Warum helfen Sie dann nicht?

Es ist nicht so, dass die Amerikaner, die Deutschen nicht helfen wollen. Alle wollen helfen, nur fragen sich diese Staaten, wie sie dies tun können. Es gab militärische Schritte, jetzt geht es auch noch um Sanktionen. Die letzten Sanktionen wurden ja sehr schnell und konsequent verabschiedet. Das war eine Überraschung für Putin. Er dachte, dass die EU-Staaten sich zerstreiten würden. Dass seine Wirtschaft so leidet, dass die Menschen ihre Ersparnisse verlieren, dass es kein Essen in den Supermärkten gibt – das macht Putin keine großen Sorgen. Es würde ihm aber Sorgen machen, wenn seine nächsten Verbündeten, die Oligarchen, Leute, die ihm die Macht ermöglichen, sich gegen ihn wenden würden. Wenn wir Putin vom Öl- und Gasgeld beschneiden, sehen diese Oligarchen, dass sie große Verluste erleiden. Dann wächst die Chance, dass sie zumindest versuchen werden, Putin abzuschieben.

Gibt es diplomatische Kontakte mit Russland?

Diese Kontakte hätten nur dann einen Sinn, wenn wir mit Russland ein ehrliches Verhältnis hätten. Russland sagt viel, deklariert viel, aber dann lügt das Land schließlich doch. Aktuell sieht man das ja sehr gut. Über viele Monate hat Russland gesagt, dass das Land keinen Krieg will. Doch die Entscheidung dazu wurde ja schon vor Wochen getroffen. Wenn wir von Russland Friedensangebote bekommen und derweil sehen, dass ukrainische Zivilisten von russischen Bomben getötet werden, dann zeigt das die russische Doppelmoral. Man darf Russland keine Sekunde lang vertrauen.

Wussten Putins Diplomaten, dass es einen Krieg geben wird?

Viele waren überrascht. Viele haben geglaubt, dass man Russland vertrauen und sich mit Russland verständigen kann. Wir Polen haben jahrelang vor Putin gewarnt. Als wir gewarnt haben, wurde uns gesagt, dass wir Russophoben seien. Leider hatten wir recht. Wir freuen uns nicht darüber. Wir sagen aber heute: Wir brauchen härtere Sanktionen. Vertraut uns. Lasst uns gemeinsam Putin aufhalten.

Was sagen die Deutschen zu Ihnen, wenn Sie das sagen?

Die Reaktion ist nicht entschieden genug. Man sollte jetzt Sanktionen beschließen. Wir haben eine neue Ära in Europa. Wir sagen unseren Partnern in Deutschland: Hört auf, die Sanktionen zu blockieren. Das wird euch zwar viel kosten, aber wenn wir die Kosten jetzt nicht in Kauf nehmen, wird es für uns in Zukunft noch teurer werden. Auf Deutschland ruht eine große Verantwortung. In den Händen der Deutschen liegt der Schlüssel, um Putin aufzuhalten. Wir appellieren an die Deutschen, dass sie von diesem Schlüssel Gebrauch machen.

Sie haben gesagt, die Ukraine sei nur der Anfang. Was will Putin als nächstes? Es sieht ja nicht gut aus für ihn.

Ja, es sieht nicht gut für ihn aus. Aber er denkt, dass Europa noch einknickt. Er hofft darauf, dass die Menschen wie schon früher die verbrecherische Geschichte vergessen, wie sie schon den Georgien-Krieg vergessen haben. Jaroslaw Kaczynski hat nach dem Georgien-Krieg gesagt: Nach Georgien ist die Ukraine dran, nach der Ukraine vielleicht das Baltikum, und danach vielleicht Polen. Das ist Putins Plan. Er will Europa attackieren. Er will, dass Russland Europa dominiert. Er glaubt, dass wir Angst vor ihm haben. Aber Europa ist stärker. Wenn wir entschlossen sind, können wir ihn aufhalten.

Sollten wir Nato-Truppen einsetzen?

Wir sollten keine unverantwortlichen Wege gehen. Wir wollen keine Eskalation. Wir wollen, dass Russland aufhört, Menschen zu töten. Ich bin nicht imstande dazu, ein ideales Szenario zu zeichnen. Ich bin kein Militärtaktiker. Aber zumindest will ich sagen: Wir haben militärische Möglichkeiten. Wir können die Ukraine unterstützen, etwa mit Waffen. Waffen zur Selbstverteidigung. Zugleich denke ich, dass Sanktionen besser funktionieren können als die besten Waffen.

Sind Sie enttäuscht darüber, dass die USA sich so schwach engagieren?

Überhaupt nicht. Die USA sind sehr entschlossen und sehr engagiert. Sie schicken Soldaten nach Osteuropa in die EU. Aber besonders freut es mich, dass Präsident Biden ein Embargo gegen russisches Gas eingeführt hat. Diesem Beispiel sollte die EU folgen.

Russland könnte die EU durch eine neue Flüchtlingskrise destabilisieren wollen. Wie geht Polen mit der großen Zahl an Flüchtlingen um?

Die Polen helfen unglaublich viel. Wir als Staat mussten noch keine großen Flüchtlingslager aufbauen, weil so viele Polen helfen und die Flüchtlinge in ihren Häusern und Wohnungen aufnehmen. Das ist großartig.

Wissen Sie, wie viele Flüchtlinge kommen werden?

Bislang 1,5 Millionen Menschen (Stand: 10. März). Wir gehen davon aus, dass die Zahl wachsen wird. Diese Krise wird immer größer werden. Daher muss man Putin schnell aufhalten.

Vielen Dank für das Gespräch.

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