Nachtgesichter

More than a feeling

Über Transfeindlichkeit. Das schillernde Spektrum der Geschlechter – und die Angst davor.

Hanna Lakomy
Hanna LakomyUwe Hauth

Aus einem Polizeibericht der vergangenen Woche:

In Kreuzberg wurde eine 16-Jährige gestern Abend von einem unbekannt gebliebenen, vermutlich Heranwachsenden verbal und körperlich angegangen. Gemäß Zeugenaussagen soll die junge trans Frau gegen 21.20 Uhr im Flur eines Mehrfamilienhauses in der Admiralstraße aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes von der Begleitung eines namentlich bekannten Nachbarn beleidigt worden sein. Als sie diese Bemerkung ignorierte, stellte ihr der Tatverdächtige hinterrücks ein Bein und schlug ihr anschließend dreimal mit der Faust ins Gesicht.

Selbstbetrug

Laut Bundesfamilienministerium begreifen sich 3,3 Prozent der Deutschen einem anderen Geschlecht zugehörig, als ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde

Diese gar nicht so kleine Minderheit tritt immer mutiger auf und fordert ein Recht auf Selbstbestimmung. Wer davon irritiert ist, beruft sich auf die Biologie. Da gebe es nun mal nur zwei Geschlechter.

Ich fühlte mich immer unglaublich tolerant, wenn ich sagte, lass sie doch – wenn sie sich selbst so sehen? Tut ja keinem weh… Aber im Stillen ließ ich es durchgehen, dass man transgeschlechtliche Menschen bestenfalls für irgendwie psychisch gestört hält.

In der Schule haben wir nur die Vereinfachung gelernt: zwei X-Chromosomen sind weiblich, XY männlich. Ein Penis ist der Beweis für Männlichkeit, Vagina für Weiblichkeit. Unabhängig davon, ob das neugeborene Kind dann im Erwachsenenalter gebärfähig oder zeugungsfähig sein wird. Es reicht die äußere Form, der Rest ist Dressur.

Zwar wusste ich, dass es außer Männern und Frauen auch noch die ganz seltenen Intergeschlechtlichen gibt. Ganz selten? Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass es 1,7 Prozent der Weltbevölkerung sind. Vergleichbar mit der Zahl von Rothaarigen. So viele! Ich habe mindestens elf rothaarige Bekannte. Der Grund, warum ich keine Inter kenne, mag die medizinische Praxis sein, solche Menschen kurz nach der Geburt zu verstümmeln und auf gut Glück einem der Normgeschlechter anzupassen. Oft ohne, dass das Opfer je davon erfährt. Zudem können die Genitalien von diesen Menschen ganz normal aussehen – und erst bei Kinderwunsch stellt sich heraus, dass sie innerlich anders sind.

Doch auch wenn der Fortpflanzungsapparat einwandfrei und funktionstüchtig ist, bedeutet das noch nichts über das Geschlecht des Menschen.

Beseitigung aller Klarheiten

Der wissenschaftliche Konsens seit über dreißig Jahren: Geschlecht ist ein Spektrum. Es schillert in allen Facetten. Der Chromosomensatz der Spermien kann bekanntlich sowohl X- als auch Y-Chromosomen enthalten. Nur ein einziges Gen auf dem Y-Chromosom ist für die Entstehung männlich assoziierter Fortpflanzungsorgane verantwortlich: das SRY-Gen. Beim Embryo aktiviert es Gene z.B. für die Entwicklung eines Penis. Doch bei dem komplizierten genetischen Entstehungsprozess gibt es immer wieder kleine Abweichungen. Und gar nicht so selten passiert es, dass ein SRY-Gen vom Y-Chromosom auf ein X-Chromosom überspringt. Es ist also möglich, dass ein Mann eine Gebärmutter hat und eine Frau einen Penis.

Die geschlechtsspezifischen Gene aktivieren bestimmte Hormone. Männerkörper produzieren den typischen Testosteronspiegel. Doch sowohl Testosteron als auch Östrogen und Gestagen finden sich bei allen Geschlechtern. Kinder unterscheiden sich im Hinblick auf die Hormone gar nicht. Erst in der Pubertät gehen vor allem die Testosteronlevel auseinander. Doch diese Differenz wurde lange überschätzt, da Testosteron nur in Männerkörpern und Östrogene nur in Frauenkörpern untersucht wurden. Heute wird an jeweils allen Hormonen in allen Körpern geforscht. So stieß man auf die Tatsache, dass die Hormonlevel viel stärker von äußeren Faktoren beeinflusst sind als von den Genen. Suchte man nach Binärität in den Hormonleveln, könnte man allenfalls zwischen schwanger und nicht schwanger unterscheiden. Denn lediglich Schwangere fallen im Vergleich zu allen anderen Menschen in Sachen Östradiol und Progesteron weit aus dem Rahmen. Und Männer haben während des Zusammenlebens mit Schwangeren weniger Testosteron.

Doch bisweilen produziert der Körper einfach nicht genug Hormone. Auch die Zellen sind ein Faktor: Zellen haben Rezeptoren, die auf die Hormone reagieren. Manchmal funktionieren diese Rezeptoren nicht.

Das Geschlecht kann sich sogar im Laufe eines Lebens verändern. Verantwortlich dafür sind Gene, die die Entwicklung der Keimdrüsen, der Eierstöcke und der Hoden steuern. Kommt es zu einer Veränderung in diesen Genen, können sich die Keimdrüsen auch bei Erwachsenen noch vom einen ins andere wandeln.

Alle Klarheiten beseitigt? Bei mir jedenfalls. Ich weiß nur eines sicher: dass ich eine Frau bin. Und Glück habe, dass ich auch so aussehe.

Ich hielt meine Toleranz gegenüber trans Menschen für ein Zugeständnis. So wie man einem spielenden Kind zugesteht, die Figur zu sein, die es gerade spielt. Trans Menschen spielen aber nicht. Die spielerische Travestie kann jedoch manchmal ein Alibi sein, um zu performen, was man sein will. Was man womöglich ist. Schminke und Kostüme sind Orakel, damit Mensch sich prüfen kann: Wie fühlt es sich an? Wann fühle ich mich richtig?

Die Travestie ist eine traditionelle Theaterkunst, weil einst auch die Frauenrollen nur von Männern gespielt werden durften. Dragqueen oder Dragking spielen ist wichtig für Menschen, die sich nicht schon als Kind durch Verkleidungsspiele selbst kennenlernen durften. Weil die Eltern glaubten, ihre Kinder so zu schützen vor dem Stigma des Aussätzigen. Wie viele trans Menschen es wirklich gibt, wissen wir frühestens dann, wenn die Stigmatisierung aufhört. Kinder vertun sich kaum in dem Wissen, was sie sind. Sie wissen es, und sie wissen es besser als ihre Eltern. Sie wissen es gegen ärztlichen Rat. Sie wissen es gegen den Druck der Klassenkameraden. Und sie wissen es lange, bevor sie in die Pubertät kommen, wo die Katastrophe beginnt, weil der Körper von Tag zu Tag eine Entwicklungen durchläuft, die nur schwer umkehrbar ist und sie in den Augen der Gesellschaft eindeutig männlich/weiblich definiert. Die Dysphorie, nie als das wahrgenommen zu werden, was man ist. Und bei jedem Einspruch, jedem Ringen um Verständnis nur Hass und Gewalt zu ernten, ist ein Grund, warum die Selbstmordrate unter trans Menschen so hoch ist.

Hass und Selbsthass

Warum ist es eigentlich so wichtig, ob man männlich oder weiblich ist? Warum löst Transidentität einen dermaßen wütenden Hass aus? Und wer ist es, der hasst?

Es ist eine heilige Allianz aus Rechten und Rechtsradikalen, sogenannten Radikalfeministinnen wie Alice Schwarzer oder Birgit Kelle und religiösen Fundamentalisten aller Couleur. Wie ich in meiner letzten Kolumne schrieb, haben die Rechten keinerlei Berührungsängste, wenn es um Zweckbündnisse geht.

Ist es nicht die patriarchale Logik selbst, die in sich zusammenfällt, wenn das männliche Geschlecht nicht mehr eindeutig zuzuordnen ist?

Das schillernde Spektrum untergräbt die Herrlichkeit des Herrenrechts. Der Mann muss sich seiner Männlichkeit absolut sicher sein können. Es stört ihn ebenso, wenn eine Frau sich anmaßt, ein Mann sein zu wollen, wie wenn ein Mann das männliche Geschlecht entwürdigt, indem er sich zur Frau degradiert.

Es wird klar: Nur die verinnerlichte Ideologie, dass ein Geschlecht mehr wert sei als das andere und über das andere herrschen soll, erklärt die Verweigerung vor der Wahrheit der schillernden Vielfalt des geschlechtlichen Spektrums.

Unsere Ideen von Männlichkeit und Weiblichkeit sind nichts als neoplatonistische Dogmen, nur aufrechtzuhalten durch die üblichen Mittel der Kultur: Lüge und Gewalt.

Aber warum stützen auch Radikalfeministinnen diese überkommene Ideologie? Der Grund könnte spiegelbildlich sein: das Rachebedürfnis am „Mann“. Man will Männer und Frauen unterscheiden, um den Mann als Ziel der Rache ins Visier zu nehmen. Um keinen Preis soll „er“ der Rache entgehen, indem „er“ sich zur Tarnung in Frauenkleider hüllt.

Trans Frauen werden von Feministinnen aus der rechten Ecke als Eindringlinge diffamiert, die sich durch Verstellung und Verkleidung weibliche Privilegien erschleichen – zum Beispiel einen Quotenplatz im Bundestag, wie Tessa Ganserer. Dieses Abgrenzungsbedürfnis gipfelt in Angstphantasien wie denen, dass „Männer im Rock“ in „weibliche Safe-Spaces“ wie Toiletten, Umkleidekabinen oder gar Frauenhäuser eindringen, um dort Frauen zu missbrauchen. Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: Da nehmen Männer erniedrigende psychologische Gutachten und jahrelange, strapaziöse Hormonbehandlungen auf sich, zahlen dafür sehr viel Geld und lassen sich sogar den Penis entfernen, nur um Frauen auf dem Mädchenklo nachzustellen? In der Welt, in der ich lebe, können Männer das leichter haben.

Wenn es doch nur ein philosophisches Thema wäre, ein Streit um Begrifflichkeiten. Die einen hängen der einen Definition an, die anderen bezweifeln sie. Die einen haben die Gelassenheit, sich offen neuen Erkenntnissen zu stellen, die anderen machen die absurdesten Verrenkungen, um ihre Definitionen zu retten. Doch wenn ich an den jungen Mann denke, der in der Admiralstraße eine Sechzehnjährige niedergeschlagen hat – niemals könnte ich dem beikommen mit SRY-Genen oder Hormonleveln. Mit keiner Vernunft. Weil da zu viele Minen im Feld der Selbsterkenntnis verborgen liegen.

Es gibt wohl für uns alle irgendeine innere Wahrheit, die wir nicht ertragen können. Darum sollten wir behutsam umgehen gerade mit denen, die am heftigsten hassen: Hass ist ein Gift, das sich niemand zum Spaß verabreicht. Es gehört in die Klasse der Betäubungsmittel. Die Lüge des Mann/Frau-Dualismus betrifft nicht nur die cirka 3,3 Prozent trans Menschen in Deutschland. Sie betrifft uns alle. Es geht um nichts Geringeres als die Wahrheit über das Menschengeschlecht.


Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.

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