Nachtgesichter

Die Menschenwürde

So tief unterscheiden sich die Lebenswelten hierzulande, dass dem einen die Wirklichkeit des anderen nicht nur fremd, sondern oft unvorstellbar ist.

„Wie kann der Staat etwas für menschenunwürdig halten, was er andererseits legalisiert hat?“, fragt unsere Autorin.Uwe Hauth
„Wie kann der Staat etwas für menschenunwürdig halten, was er andererseits legalisiert hat?“, fragt unsere Autorin.Uwe HauthUwe Hauth

Sex, Drugs und Swinger-Partys

Ich denke oft an eine Geschichte, die meine Bekannte Mimi mir von ihrer Mutter, einer Sozialarbeiterin aus Düsseldorf, erzählte. Mimi hielt ihre Mutter für extrem spießig. Zum Beispiel, was Haschisch angeht: In den Augen von Mimis Mutter führen wenige Gramm Haschisch direkt zur lebenslangen Abhängigkeit von harten Drogen wie Heroin. Ihre Erfahrungen entsprachen wohl dem, was sie im Sozialdienst täglich an Elend erlebte. Und in sexueller Hinsicht ließ sie es ebenfalls an Toleranz fehlen, gepaart mit einer lächerlichen Naivität.

Gesetz als Geißel

Von Hanna Lakomy

25.09.2021

Gute Freunde hatten nämlich einmal während eines Abendessens bei Mimis Mutter etwas ausgeplaudert, hatten nicht an sich halten können und am Grunde einer oder mehrerer Flaschen Wein verraten, dass sie seit einiger Zeit ein neues Hobby hatten: Sie hatten nämlich Swinger-Partys für sich entdeckt. Das sei wirklich ganz toll, es gebe sogar ein Buffet und die Stimmung sei einfach so besonders. Mimis Mutter, sehr zur Verblüffung ihrer Tochter, begrüßte das als sehr schöne Abwechslung vom Alltag. Sie erklärte gar, dass sie beim nächsten Mal gern mitgenommen werden wolle. Die Bekannten, nun doch verlegen, zögernd, fragten, ob das wirklich ihr Ernst sei. Aber Mimis Mutter ließ es sich nicht abschlagen und betonte, es müsse einfach einmal sein! Schon zur Vertiefung ihrer wunderbaren Freundschaft.

Am fraglichen Abend dann schlich Mimi um die Mutter herum, die in ihrem schicksten, wenn auch viel zu sittsamen Abendkleid vor dem Spiegel stand und Make-up auflegte.

„Bist du dir auch ganz sicher, dass du das willst, Mama?“, fragte sie.

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Am 6./7. November 2021 im Blatt: 
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„Aber hör mal, mein Kind!“, gab ihre Mutter empört zurück. „Ich liebe Swingmusik!“

Es gibt viele Menschen wie Mimis Mutter. Sie scheinen gedanklich in einem anderen Land oder einer anderen Zeit zu leben als ihre Mitmenschen. Und genau wie Mimis Mutter sind sie oft an verantwortungsvoller Stelle tätig, bestimmen über das Richtig und Falsch im Leben von anderen, von dem sie, offensichtlich, sehr wenig verstehen. Es scheint regelrecht typisch zu sein für so strebsam-beschränkte, sicherheitsversessene Charaktere, eine Beamtenlaufbahn im Dienste des Staates einzuschlagen, wo ihnen dann Verantwortung zukommt. Sie leben mit dem Selbstverständnis, dass ihnen gültiges Urteil über andere zugetraut wird – in ihrem Verantwortungsbereich und halt auch sonst überall. Die Hybris der Kleinkarierten.

Mimis Mutter möchte nicht, dass ihre Tochter mit mir befreundet ist. Denn auch Prostitution ist etwas, was für Menschen wie Mimis Mutter ein rotes Tuch ist. Sie als Sozialarbeiterin hat Prostituierte nur als Sozialfälle erlebt, mit Drogenproblemen, als Opfer von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung, obdachlos.

Das Bild von Sexarbeit, das Menschen wie Mimis Mutter sehen, prägt ihre Meinung. Und dass man sich, mit derartigem moralischem Impetus, nicht mehr fragt, ob man vielleicht relativieren sollte, ist menschlich. Leider beeinflusst die Sphäre der Sozialarbeiter vorwiegend die Sphäre der politischen Entscheidungsträger. Kein Wunder, dass manche Abgeordnete in Prostitution einen schwärenden Missstand sehen, dessen Beseitigung sie sich aufs Plakat schreiben. Ein dankbares Thema zur eigenen Profilierung, um sich aus der grauen Masse der Abgeordneten hervorzutun.

Als letzten Monat Spanien als weiteres EU-Land die Freierbestrafung eingeführt hat, jubilierte die Abgeordnete Leni Breymaier auf Twitter. Prostitutionsgegner wie Leni Breymaier behaupten, sie wollten lediglich die Freier kriminalisieren, die Prostituierten aber „entkriminalisieren“. Prostitution ist seit 20 Jahren legalisiert. Nicht bloß entkriminalisiert, dies ist sie seit 1927. Ausnahme bilden nur lokale Sperrbezirksregelungen, wie in Gemeinden mit weniger als 50.000 Einwohnern oder zum Beispiel in der Münchener Innenstadt. Wer also eine „Entkriminalisierung von Sexarbeitenden“ fordert, kann damit eigentlich nur die Sperrbezirke meinen. Was Prostitutionsgegner eigentlich fordern, ist natürlich die erneute Kriminalisierung von selbstbestimmter Prostitution allgemein, über den Hebel des Verbots, sich diese Dienstleistung auch bezahlen zu lassen.

Aber geht das überhaupt? Kann nach unserer Verfassung ein Beruf, einmal als solcher anerkannt, verboten werden? Ich denke bei so was sofort an das Ermächtigungsgesetz der Nazis.

Ich fragte die Rechtsanwältin Margarete von Galen um Rat. Im Ergebnis dieses Gesprächs hatte ich den Eindruck, ich müsste mir keine Sorgen machen. Das Gerede von der Abschaffung der Prostitution sei bloßer Populismus. Die Verfassung schützt auch meine Rechte auf Berufsfreiheit und Selbstbestimmung.

Subjektiv, objektiv, relativ

Doch dann hörte ich von einem Fall, der mich beunruhigte. In dem nämlich genau dies nicht zutraf. Ein Zirkusartist wollte sich im Dezember 1992 als menschliche Kanonenkugel durch die Luft schießen lassen. Die Stadt, in der er die Nummer aufführen wollte, verbat es ihm. Der Grund war, dass dieser Artist ein Mensch mit Behinderung war, er war kleinwüchsig. Der Stadt kam die Vorstellung eines Kleinwüchsigen, der durch die Luft geschossen wird, „behindertenfeindlich“ vor. Der Mann sah das nicht ein und klagte gegen die Entscheidung. Er ging bis zum Bundesverfassungsgericht. Doch er scheiterte. Laut Bundesverfassungsgericht sei diese Zirkusnummer, wenn ein Kleinwüchsiger sie ausführte, behindertenfeindlich, verstoße gegen die guten Sitten. Die Meinung der Richter war hier also relevanter als das Selbstbestimmungsrecht des Artisten.

Ich musste mich eine ganze Weile mit diesem komplexen Thema befassen. So etwas tut man als juristischer Laie halt nur, wenn man persönlich betroffen ist.

Die Verfassung wird bestimmt von zwei Prinzipien, die im Regelfall harmonisch ineinandergreifen.

Das eine Prinzip ist die subjektive Abwehrfunktion der Grundrechte: der Schutz jedes Einzelnen gegen Willkür, gegen staatliches Eingreifen in sein persönliches Leben. Das ist gemeint mit dem Begriff der „Menschenwürde“ in Paragraf 1 des Grundgesetzes.

Das zweite ist die objektive Schutzfunktion der Grundrechte: Die Verfassung muss sich selbst schützen, gegen Verletzung ihrer Prinzipien, gegen innere Widersprüche. Um die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren und zu verhindern, was gemeinhin als „menschenunwürdig“ betrachtet wird. Maßstab ist dabei die öffentliche Meinung. Oder das, was Staatsbeamte, Politiker und Juristen dafür halten. „Normale“ Menschen wie Mimis Mutter bestimmen, was normal ist.

Das Urteil im Falle des Zwergenweitwurfs schreit nach einer Neubewertung. Die Neunziger sind lange her. Entspricht diese Ungleichbehandlung wirklich noch der öffentlichen Meinung, die ja hier zur Grundlage gemacht wurde?

Zumal es auch die Ewigkeitsklausel gibt, die die Grundrechte der Staatsbürger über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stellt. Eben aus der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus, wo mit dem Ermächtigungsgesetz elementare Grundrechte durch deutsche Richter beliebig ausgehebelt werden konnten.

Die objektive Schutzfunktion ist auch der einzige Grund, dass Sexarbeitende keine Fortbildungen vom Jobcenter erhalten. Ihre Tätigkeit wird vom Jobcenter als menschenunwürdig angesehen, also darf der Staat sie nicht unterstützen. Nicht mal durch einen Sprachkurs oder Tipps zur Existenzgründung. Mehrere Sexarbeiterinnen haben bereits vergeblich dagegen geklagt.

Wie kann der Staat etwas für menschenunwürdig halten, was er andererseits legalisiert hat und wofür er Steuern und Abgaben verlangt? Von innerer Harmonie und Logik der Verfassung kann hier keine Rede sein.

Dieser Widerspruch ist kein rein juristisches, sondern ein rechtsphilosophisches Problem, eine Frage der Ethik. Und von der Aufgabe, solche Fragen zu klären, sind einzelne Richter überfordert. Hier hilft nur die öffentliche Debatte.

Die Zeiten ändern sich

Die öffentliche Debatte hat uns schon oft darüber belehrt, dass die Welt anders ist, als sie uns persönlich scheint. Und dass sie sich ständig verändert. Mimis Mutter hatte nie zur Kenntnis genommen, dass so etwas wie Swinger-Partys existieren und bis in bürgerliche Kreise hinein zu einer Normalität geworden sind. Es musste ihr beigebracht werden, durch die betreffenden Zeugen dieser Tatsache. Ohne Austausch mit Menschen unterschiedlicher Lebensrealitäten kann die Demokratie nicht bestehen, sie wird starr, unlebendig und richtet sich am Ende gegen das Leben, das sie beschützen soll. Die Politiker sind qua Amt nicht im Besitz ewiger Wahrheiten, sie, wie auch das von ihnen abgesonderte Beamtenmilieu, dürfen sich dem ständigen Zufluss von frischen Informationen aus der Welt der Betroffenen ihrer Machtausübung nicht entziehen.

Wir sehen es am Beispiel Haschisch: Warum darf der Staat entscheiden, womit ich mich berausche? Die Begründung bislang: Allein Alkohol gehöre zur landestypischen Kultur und Tradition, seit Jahrhunderten, Haschisch hingegen nicht. Oder, deutlicher ausgedrückt: Der gute Deutsche ist ein Säufer, aber kein Kiffer. Kiffen, das tun doch nur Gangster, es ist die Droge der Schwarzen und der Araber, und weil wir nicht sind wie die, nehmen wir auch nicht ihre Drogen.

Es gehört zum Erkenntnisprozess der öffentlichen Debatte um Haschisch, dass das Verbot rassistische Züge trägt. Ein internalisierter Rassismus, der spätestens bei der Willkür von Polizeikontrollen offensichtlich ist.

Mittlerweile aber dürfte sich die öffentliche Meinung hier zumindest geändert haben. Gelegentliches Kiffen gehört für eine breite Mehrheit der Bevölkerung zum Alltag. Die Rufe nach einer legalen Regelung dieses Konsums werden lauter. Nicht, weil es neuerdings dem Selbstbestimmungsrecht entspricht. Sondern, weil die Öffentlichkeit so weit ist.

Auch in Sachen Prostitution hat sich etwas geändert in den letzten 20 Jahren.

Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2021 sind über 70 Prozent der Deutschen gegen ein Verbot von Prostitution. Prostitution wird nicht per se als menschenunwürdig betrachtet, auch weil es in der Öffentlichkeit viele Beispiele gibt, wie Prostitution würdevoll ausgeübt werden kann. Prostitution gehört zu Deutschland. Viele kennen inzwischen Menschen aus ihrem Umfeld, die Sexarbeit machen, oder tun es sogar selbst. So wie auch die Verfasserin dieser Kolumne. Dies ist übrigens der Grund, warum Prostitutionsgegner meinesgleichen so hassen. Unsere Stimmten verändern die öffentliche Meinung.

Als jüngst ausgerechnet Leni Breymaier für die Koalitionsverhandlungen der neuen Regierung in die SPD-Arbeitsgruppe „Gleichstellung und Vielfalt“ berufen werden sollte, brach ein Shitstorm los – und wirkte. Neopuritaner bezeichneten die Kritiker Breymaiers als „hip-woke Berliner-Polit-Blasen- und Queer-Community“. Mit anderen Worten: die gesellschaftliche Veränderung, die sich nicht aufhalten lässt.


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