Berlin-Jeden Morgen vor Sonnenaufgang geht jemand aus meiner Familie zu einem Brunnen, um Wasser zu holen. Meist sind es Ammah, Rawasi oder An Hanouf, das sind Kinder meines Bruders, sie sind noch Teenager. Der Weg dauert drei Stunden, ist aber nötig, weil es sonst hier im Ort kein Wasser gibt. Sie müssen Pausen machen auf dem Rückweg, weil der 20-Liter-Wasserbehälter sehr schwer ist.
Ihr Vater, mein Bruder, Ahmed, wurde erschossen. Er war Lehrer. Er ist in einem Krieg gestorben, von dem gerade keiner mehr sprechen will. Alle reden nur von Russland und der Ukraine, aber seit sieben Jahren tobt im Jemen, in meinem Heimatland, ein Krieg, von dem keiner weiß, wie er beendet werden kann. Eine von Saudi-Arabien geführte sunnitische Militärallianz kämpft gegen Rebellen vom Stamm der schiitischen Huthi, aber gleichzeitig kämpfen Separatisten gegen den sogenannten Islamischen Staat und Al-Qaida. Es ist manchmal selbst für uns unübersichtlich, wo die Frontlinien verlaufen.
Meine Heimatstadt Sana’a ist seit Jahren ein großes Gefängnis, wir befinden uns in einem Belagerungszustand, alle Zugänge zum Hafen sind gesperrt. Wir stehen unter der Kontrolle der Al-Houthi-Rebellen, und das versetzt uns zurück in die 1970er-Jahre. Damals gab es keinen offiziellen Staat, keine Bürgerrechte, keinen Strom, kein Öl oder Gas, keine Gesundheitsfürsorge, Bildung und Arbeit. Nur heulende Sirenen. Kürzlich haben die Rebellen Dubai und Abu Dhabi mit Drohnen und ballistischen Raketen getroffen. Als Antwort werden Sana’a und andere Städte täglich von 22 Uhr abends bis 5 Uhr morgens angegriffen. Die Luftangriffe beginnen immer pünktlich.
Sana’a ist eine sehr alte und jetzt eine Stadt, die stirbt. Manchmal denke ich, so muss es in Berlin gewesen sein, als die Mauer noch stand: Jeder sucht einen Weg in die Freiheit, aber es gibt keinen. Die Menschen stehen tagsüber Schlange für Wasser, Brot, Gas zum Kochen, Benzin, Medizin – sogar für den Tod. Wer ein Grab braucht, muss sich hinten anstellen, es gibt keine Särge mehr. Wenn es doch jemand in die Freiheit schafft, ohne erschossen zu werden, wird das Haus der Familie angezündet. Wir sind die Geiseln der Houthi-Rebellen.
Das alles ist schon schlimm genug, doch seit einigen Monaten erleben wir etwas Neues: Die Zahl der erweiterten Selbstmorde erhöht sich. In Aden tötete ein Mann erst seine Söhne, dann seine Frau und dann sich selbst; in Dhamar tötete ein junger Mann seine Eltern, seine Neffen, seine Frau und die Frau seines Bruders und dann sich selbst. Die Menschen hier haben Angst vor einem langsamen und stillen Tod durch Hunger und Krankheit, sie wählen lieber den schnellen Tod für ihre Familien und sich. Es gibt Tage, da verstehe ich das. Auch unter Studenten und Schülern nehmen die Selbstmorde zu.
Es gibt keine genaue Statistik über die Zahl der Opfer, aber es müssen mindestens 100.000 sein, schätze ich. Das Leben, das wir kannten, ist vorbei. Meine Mutter und meine Schwester sind an Covid gestorben. Die Pandemie hatten wir ja auch noch. Unser Land wurde schon lange vom Westen vergessen. Unser Krieg ist es jetzt auch.
Für Spenden für Jemen und die Kinder von Sana'a folgen Sie bitte diesem Link: https://www.geef.nl/nl/actie/red-kinderen-in-jemen-van-hongersnood/donateurs?fbclid=IwAR2yQP33NmfcJBQDuLMjwCSAU-L5cY2rD7A0ldt4Btd0Ljh22-u3ern-jWY


