Frauenrechte in Afghanistan

Influencerin in Kabul: Warum den Taliban von Pizza und Burger schlecht wird

Die junge Afghanin Nadima zeichnet im Interview ein überraschendes Bild der Taliban. Für manche der jungen Kämpfer empfindet sie „fast so etwas wie Zuneigung“.

Nachdenklicher Blick über Kabul: Nach der Intervention der internationalen Truppen wurde die afghanische Hauptstadt wieder aufgebaut.
Nachdenklicher Blick über Kabul: Nach der Intervention der internationalen Truppen wurde die afghanische Hauptstadt wieder aufgebaut.Nadima

Kabul-Die Menschenrechtlerin und Social-Media-Akteurin Nadima* erreicht über Instagram und Facebook Millionen. Den Kontakt zu ihr hergestellt hat Khalid Dayani, der in der Berliner Zeitung am Wochenende vor zwei Wochen von der gescheiterten ISAF-Mission erzählte. Das erste Mal ruft Nadima über eine etwas wackelige WhatsApp-Leitung aus Kabul an. Für Smalltalk ist keine Zeit. Der Singsang ihrer Stimme ist einnehmend, ein kanadisches Englisch, dahinter summt ein leichter Pashto-Akkzent aus der Region Khost.

Was sie erzählt, ist verstörend. Es ist so, als würde die Kamera mitten in einem Katastrophenfilm einfach umschwenken und eine Handlung zeigen, die so gar nicht in das vorher abgenommene Drehbuch passt. Nach dem ersten Anruf folgen noch drei weitere an drei verschiedenen Tagen. In keinem Moment hat man das Gefühl, hier würde jemand eine Agenda verfolgen. Was sich verfestigt ist vielmehr die Gewissheit: Das Narrativ der moralischen Integrität des Westens klingt für die Betroffenen seiner militärischen Interventionen wie Hohn.

Als die Taliban am 15. August Kabul übernahmen und die Nato-Partner die Evakuierung begannen, schaute die ganze Welt gebannt zu. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Uns allen war klar, dass es schnell gehen könnte, nachdem sich in kürzester Zeit hochgerüstete Städte wie Herat, Kandahar oder die Provinz Helmand den Taliban ergeben hatten. Ich möchte gar nicht von Eroberung sprechen. Das Land wechselte in einem fließenden Übergang die Regierung, „it turned over“, wie man im Englischen sagt.

Das klingt überraschend undramatisch.

Zunächst einmal war es doch erfreulich, dass es kaum Blutvergießen gab, weder in Kabul noch in den Provinzen. Ich sprach mit Bekannten, Cousinen, Freunden. Sie alle berichteten von einer sehr ruhigen Machtübergabe. Niemand hat sich bedroht gefühlt. Ganz im Gegenteil: Viele Menschen atmeten auf, denn die Sicherheitslage entspannte sich über Nacht. Man wurde nicht mehr ständig an jedem Checkpoint angehalten und durchsucht, stand buchstäblich nicht mehr zwischen den Fronten.

Gibt es nicht auch jene, die fürchten, dass nun die Arbeit von 20 Jahren umsonst gewesen sein könnte, der Aufbau, die Förderung von Frauen in Schulen und Verwaltung?

Doch, die gibt es natürlich. Aber schauen Sie, ich bin seit 17 Monaten hier, ich habe erlebt, wie die Regierung gearbeitet hat, was für Menschen in diesem System reüssiert haben. Ich bin durch das ganze Land gereist und hatte die Gelegenheit, mit den Menschen in den Dörfern fern der Hauptstadt zu sprechen, aber auch mit Abgeordneten im Parlament und führenden Leuten in den NGOs vor Ort. Ich habe einen ziemlich guten Eindruck der Lage bekommen.

Zur Person
Nadima* ist 1984 in Kabul geboren, ein Jahr später flohen ihre Eltern mit ihr über Pakistan nach Dubai, anschließend lebte die Familie in Ontario, Kanada. Im Jahr 2019 ist sie zurück nach Afghanistan gezogen. Nadima beschreibt sich als Social-Media-Influencerin für Menschenrechte. Unter ihrem Alterego Tesha de Waday erreicht sie mit ihren teils in Englisch, teils in Paschto gehaltenen Facebook-Videos mitunter ein Millionenpublikum. Ihr Haus in Kabul ist zu einer Anlaufstelle für Hilfesuchende geworden. Auf ihren Nachnamen verzichtet sie aus persönlichen Gründen. Sie sagt: „In der afghanischen Community hieß es immer, ich sei die Tochter meines Vaters, die Schwester meines Bruders, die Frau meines Ehemannes. Ich wurde von diesen Namen in Besitz genommen – und für sie haftbar gemacht. Also beschloss ich, mir selbst einen Namen zu machen.“
Frauen in Afghanistan. Sie tragen Kopftücher, einige auch Mundnasenschutz.
Frauen in Afghanistan. Sie tragen Kopftücher, einige auch Mundnasenschutz.Nadima

Das System war dysfunktional?

Lassen Sie es mich mit einem Bild erklären. Afghanistan war mit Amerika verheiratet. Man versprach sich die Treue, der Welt wurde eine perfekte Familie vorgegaukelt, mit tollen, gut gebildeten Kindern, die auf perfekte Schulen gingen. Nun ist man durch eine dreckige Scheidung gegangen und merkt plötzlich: Wir waren ja gar nicht so glücklich miteinander. Wir, die Afghanen, haben um Hilfe gebeten. Aber stattdessen haben wir Korruption bekommen, wir wurden misshandelt und bombardiert, Drogen und Waffen kamen ins Land.

Sie haben diesen Moment der Ruhe und des Durchatmens nach dem Regimewechsel beschrieben. Warum gab es dann diese panische Flucht zum Flughafen?

Ich bin an besagtem Tag ins Auto gestiegen und durch die Stadt gefahren, und ich konnte meinen Augen nicht trauen. Ob Deutschland, die USA oder Katar, plötzlich flogen alle diese Länder mit ihren Maschinen den Flughafen an, ohne vorher für ausreichende Sicherheit oder einen vernünftigen Ablauf der Evakuierung gesorgt zu haben. Ganz so, als wollte man der Welt genau diese Bilder des Chaos und der Hysterie präsentieren. Ich frage Sie: Warum durfte ein Flugzeug abheben, an dem sich noch Menschen festgehalten haben? Wer hat das genehmigt? Wer wird dafür die Verantwortung übernehmen?

Wie sah es in diesen Stunden in der Stadt aus?

Es war ein Spießrutenlauf, vor allem für Frauen. Mädchen wurden bedrängt, manche wurden auf der Straße vergewaltigt. Kleine Kinder wurden von Soldaten zurückgedrängt und mit Tränengas beschossen. Ich habe von Vätern gehört, die ihre minderjährigen Töchter an Heiratsvermittler verkauft haben, um das Geld für die Ausreise und ein womöglich neues Leben in Amerika zusammenzubekommen. Es war wie in einem Horrorfilm. Es spielten sich unglaubliche Szenen ab. Während all dies geschah, gab es keinerlei Kämpfe zwischen Taliban und Nato-Truppen. Es gab keinen Kriegszustand, nichts, was diesen Wahnsinn gerechtfertigt hätte.

Wissen Sie, was mit den Menschen geschehen ist, die ausgeflogen wurden?

Ich weiß, dass etwa Katar begonnen hat, viele von ihnen wieder zurück nach Afghanistan zu schicken.

Die erst vor wenigen Tagen Ausgeflogenen werden zurückgeschickt?

Ja. Erst erzählte man ihnen, die Zombie-Apokalypse sei ausgebrochen. In Katar steckte man sie dann unter widrigsten Bedingungen in Lager mit kaum vorhandenen sanitären Anlagen. Nun schickt man sie zurück. Doch diese Menschen haben ihr Haus verscherbelt, ihr Auto weggegeben, ihr ganzes Hab und Gut. Sie haben nichts mehr.

Sie haben sich in dieser Situation dafür entschieden, in Kabul zu bleiben. Was hat Sie dazu bewogen?

Es hat sich für mich einfach falsch angefühlt, in einer Zeit der Krise mein Land und die Menschen hier zu verlassen. Mir ist völlig klar, dass wir dieses jahrhundertealte afghanische Muster der Flucht außer Landes durchbrechen müssen. Wer erzählt denn sonst unsere Geschichten? Wir wurden dazu erzogen, gewalttätigen und blutigen Widerstand zu leisten. Aber so bleiben wir ewig in der Matrix stecken. Unsere Generation muss einen anderen Weg finden. Wir führen Krieg mit anderen Mitteln. Es geht um Information, Wissen, um die Wahrheit.

Ihre Eltern sind mit Ihnen 1985 aus Afghanistan geflohen, als sie ein Jahr alt waren. Das war zur Zeit der sowjetischen Besatzung. War das damals also ein Fehler?

Meine Eltern taten, was sie für richtig hielten. Vielleicht mussten sie fliehen, damit ich heute bleiben kann. Vor ein paar Tagen nahm ich meine drei Monate alte Nichte in den Arm, das Kind meiner Schwester. Sie wohnen in Kanada und waren zu Besuch. Ich flüsterte ihr ins Ohr: „Hör mal zu, meine Süße, du fliegst jetzt nach Hause. Aber eines Tages wirst du zurück nach Afghanistan kommen, und hoffentlich wirst du dann stolz auf das sein, was deine Tante hier für Arbeit geleistet hat. Hoffentlich wirst dann auch du deinen Beitrag leisten, um dieses Land in Liebe wiederaufzubauen.“

Können Sie nicht auch die Menschen verstehen, die sich ein besseres Leben im Westen erträumen?

Es gibt diese Sehnsucht nach einem Land der Träume. Für viele ist das heute Nordamerika. Ich antworte jedes Mal: Ihr werdet dort erst einmal Bürger zweiter Klasse sein, euren Namen von Mohammad zu Michael ändern und von Sozialhilfe leben. Ihr werdet euch fünf bis zehn Jahre abmühen, um eine Arbeitsgenehmigung und Sozialversicherungsnummer zu erhalten, in Gettos leben und eure Kinder auf schlechte Schulen schicken müssen. Ich weiß das, weil ich es erlebt habe. Es hat meine Familie sehr viel Kraft gekostet, sich hochzuarbeiten. Letztlich ist es gelungen, aber wir waren eine von ganz wenigen Familien aus der afghanischen Community in Ontario, die Teil des höheren Bürgertums geworden sind.

Nadima

Korrespondenten berichteten aus Afghanistan, dass sich immer weniger Frauen ohne männliche Begleitung aus dem Haus wagen und immer mehr von ihnen die Burka tragen. Macht Ihnen das keine Sorgen?

Ich sehe auf der Straße Straßen Frauen im Hijab, andere in der grünen Burka betteln und solche in normaler Kleidung und Schmuck. So war es bisher auch. Wenn jemand sagt, Frauen können nicht mehr vor die Tür treten, ohne sich komplett zu verhüllen, dann ist das nicht wahr. Ich bin erst vor ein paar Tagen in einen Beauty-Salon gegangen. Letzte Woche haben wir eine große Hochzeit mit Freunden und Familie gefeiert, auf der es tolle Musik und gutes Essen gab. Das Leben geht weiter. Man könnte sagen, dass es ein wenig ruhiger und weniger chaotisch auf den Straßen zugeht. Im Westen wird es so dargestellt, als sei Afghanistan gerade die Hölle auf Erden und Menschen würden überall sterben. Das ist Unsinn.

Sie haben jüngere Cousinen in Afghanistan. Was berichten sie?

Sie sagen mir: „Weißt du was, Nadima, weder pfeifen mir jetzt noch Männer hinterher noch grabschen sie mich an.“ Auch haben sie viel weniger Angst, auf der Straße ausgeraubt zu werden.

Unter der Woche sah man Taliban, wie sie auf protestierende Frauen einprügelten.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass diese Demos orchestriert wurden. Ich spreche mit vielen internationalen Journalisten hier. Viele sehen das genauso. Können wir das beweisen, wissen wir wer dahintersteckt? Nein. Sie können es mir glauben oder nicht. Aber nur so viel – und zitieren sie mich gerne: Frauen haben in diesem Land 20 Jahre alles dafür geopfert, dass ihre Stimmen gehört wird und sie als gleichwertig angesehen werden. Sprechen wir über unsere Erfolge und den Vorteil, den es hätte, uns an der Regierung zu beteiligen. Das Recht, frei zu sprechen, ist uns von Gott gegeben worden, wir lassen es uns nicht wegnehmen. Aber hören wir bitte auf, für westliche Medien auf Kommando auf die Tränendrüse zu drücken.

Imago

Wie kann es sein, dass der Blick westlicher Medien auf die Situation in Kabul so anders ist als Ihre eigene Wahrnehmung?

Das kann ich ihnen nicht sagen. Der Westen hat sich gegenüber Afghanistan immer wieder als heldenhaft aufgespielt und uns letztlich doch immer wieder betrogen. Als das schreckliche Selbstmordattentat am Flughafen geschah, ging es vor allem um die amerikanischen Soldaten, die gestorben sind. Über hundert afghanische Opfer waren nur eine Randnotiz wert. Man sieht in den Medien, wie Soldaten ein Baby über die Absperrungen heben, aber nicht, wie sie Tränengas auf Minderjährige abfeuern. Das macht mich wahnsinnig traurig. Wann wagt sich jemand hervor und sagt endlich: „Sorry, wir haben Mist gebaut! Wir hätten diese Panik niemals schüren dürfen. Wir hätten nicht das viele Geld ins eigene Militär stecken, sondern die Menschen hier mit dem Nötigsten versorgen sollen.“ Die Taliban tun dies übrigens. Warum sollte man sie bekämpfen?

Wie kann man sich diese neue Generation der Taliban vorstellen, wie sehen sie aus?

Die Taliban, die man auf den Straßen sieht, sind teilweise ganz junge Männer. Das sind Jungs, die anderswo mit Freunden Basketball spielen oder in Bands spielen würden. Wenn ich mir diese Kids anschaue, fühle ich fast so etwas wie Zuneigung.

Bestätigt sich dieser Eindruck im direkten Kontakt?

Erst heute (Mittwoch, 8. 9. 2021, Anm. der Redaktion) bin ich ins das edle Serena Hotel in Kabul gegangen, um dort einen deutschen Journalisten zu treffen. Am Tor standen drei Taliban. Junge Männer, der Bart noch nicht voll ausgewachsen, mit sauberen, unschuldigen Gesichtern, die Kleidung handgewoben und makellos. Ganz so wie aus einem der „Herr der Ringe“-Filme (lacht). Sie waren extrem respektvoll zu mir. Während wir auf meine Anmeldung warteten, kamen wir ins Gespräch. Der eine sagte mir, er sei zum ersten Mal in Kabul und noch nie von seiner Mutter getrennt gewesen. Ich fragte alle drei, ob man sie hier gut behandelt und ihnen Essen bringt. Sie sagten, dass sie das Essen nicht vertrügen. Diese Jungs kennen nur ganz frischen Jogurt oder hausgemachtes Maisbrot, das Essen ihrer Heimat. Von Burgern oder Pizza wird ihnen schlecht. Das sind die Taliban, die ich tagtäglich erlebe. Ich möchte ihnen mit Respekt, in Liebe und Freundschaft begegnen, nicht mit Hass und Parolen auf irgendwelchen Demos. Wozu soll das führen? Dieses Land hat genug gelitten. Wir sind müde. Müde des Krieges und des Konfliktes. Müde, im Namen der Menschenrechte bombardiert zu werden.

Was haben Sie den Taliban am Hotel erwidert?

Ich habe ihnen versprochen, besseres Essen zu kochen und vorbeizubringen. Und das werde ich auch tun! Um ihnen zu zeigen, dass eine Frau auch eine Schwester sein kann, dass auch sie jemanden haben, der auf sie aufpasst. Weil sie keine Zombies sind, sondern junge Männer, die ihre Mutter vermissen – weit weg von zu Hause.

*Name ist der Redaktion und dem Autor bekannt.

Website von Nadima: https://www.teshadewaday.com

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.