Inflation und Armut

Inflation und Preisanstieg: „Wir brauchen Hilfe für die Ärmsten in Berlin“

Die Schuldenberatung der AWO stellt sich wegen der gestiegenen Preise auf mehr Ratsuchende ein: „Jetzt müssen Familien vor der Armutsspirale bewahrt werden.“

Freiwillige der Berliner Tafel: Seit Jahresbeginn sortieren sie weniger, es fehlen Spenden.
Freiwillige der Berliner Tafel: Seit Jahresbeginn sortieren sie weniger, es fehlen Spenden.dpa

Berlin-Im November 2003 sagte der ehemalige Regierende Bürgermeister seinen berühmtesten Satz. Dass Berlin „arm, aber sexy“ sei, behauptete Klaus Wowereit ausgerechnet im neoliberalen Wirtschaftsmagazin Focus Money. Der Rausch der wilden 1990er-Jahre war da schon vorbei, die Hauptstadt stand vor einem riesigen Schuldenberg. Ein Jahr nach dem Wowereit’schen Leitmotiv wurde das städtische Immobilienunternehmen GSW dann auch privatisiert. Berlin blieb mit den daraus resultierenden 400 Millionen Euro Einnahmen trotzdem arm, der Wohnungsmarkt angespannter. Sexy war das für viele nicht mehr.

Auch heute, fast 20 Jahre später, kämpft Berlin noch mit der Armut. Jede fünfte Person in der Hauptstadt lebt armutsgefährdet, nur Bremen geht es noch schlechter. Eine halbe Million Menschen bekamen allein im Dezember vergangenen Jahres Leistungen aus der Grundsicherung. Neben Hartz IV gehört dazu auch Sozialgeld für „Aufstocker“ – Menschen, deren Niedriglohn nicht zum Überleben reicht. Und jetzt steigen überall die Preise.

Sozialverbände fordern Hilfen für „die Ärmsten in unserer Gesellschaft“

Allein im März stiegen die Verbrauchspreise in Berlin aber um 7,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, wie das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg vergangene Woche mitteilte. Preistreibend waren vor allem stark gestiegene Energie- und Nahrungsmittelpreise. Allein Lebensmittel wurden um mehr als sieben Prozent teurer im Vergleich zu 2021.

Aufgrund dieser extremen Mehrbelastung stellt sich der Landesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) auf einen erhöhten Bedarf in ihren Schuldenberatungen ein. Christina Müller-Ehlers, Fachreferentin für Existenzsicherung, sagte im Gespräch mit der Berliner Zeitung, dass man sich dort auf einen erhöhten Zulauf vorbereite, „sobald die ersten Abrechnungen den Menschen zugestellt werden“.

Erst im Juni hatte der Bundesverband der AWO gemeinsam mit 16 anderen Organisationen und Sozialverbänden einen offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und mehrere Minister aus der Bundesregierung veröffentlicht. Sie forderten „angesichts dauerhaft hoher Preissteigerungen und pandemiebedingten Mehrausgaben“ konkrete und zügige Hilfen „für die Ärmsten in unserer Gesellschaft“.

Erhöhung von Hartz IV gleicht Inflation nicht aus

In den Beratungsstellen spüre man bereits jetzt eine große Unsicherheit bei den Ratsuchenden. Vieles hänge miteinander zusammen: Energiepreise, Wohnungsmarkt, Kosten für Lebensmittel, Corona: „Die Menschen sind aktuell einfach unsicher.“

Der Berliner Mieterverein sieht allein durch die Energiepreisentwicklung für einkommensschwache Mieterinnen und Mieter erhebliche zusätzliche Wohnkostenbelastungen. Mehr als die Hälfte der Gasgrundversorger habe für dieses Jahr bereits Preiserhöhungen angekündigt, allein „in Berlin hat die Gasag die Preise um insgesamt 40 Prozent erhöht“, erzählt die stellvertretende Geschäftsführerin, Wibke Werner dieser Zeitung. Sie fordert deshalb, die steigenden Preise deshalb mit einem überarbeiteten und verstetigten Heizkostenzuschuss zu kompensieren und das Wohngeld entsprechend an die Preisentwicklungen anzupassen.

Christina Müller-Ehlers von der AWO warnt dagegen vor zwei Gefahren: Zwar erkenne sie in dem kürzlich beschlossenen Entlastungspaket der Bundesregierung, Bestrebungen, einkommensschwache Haushalte teilweise zu berücksichtigen, Empfängerinnen und Empfänger von Sozialleistungen bekommen demnach eine Einmalzahlung von 100 Euro. Dennoch müssten „die Regelbedarfe perspektivisch wirklich erhöht werden, damit Menschen nicht immer von Sonderzahlungen oder einmaligen Zuschüssen leben müssen“.

Im Januar stieg der Hartz-IV-Satz um drei Euro beziehungsweise 0,67 Prozent im Monat – wie soll damit aber eine Inflation von knapp 8 Prozent aufgefangen werden? Ein weiteres Problem sieht Christina Müller-Ehlers auch in der großen Gruppe von Menschen, die zwar keine Transferleistungen bekommen, deren niedriges Einkommen die gestiegenen Preise aber kaum ausgleichen kann: „Oft Familien, die dringend vor der Armutsspirale bewahrt werden müssen.“ Mittel- und langfristig könne hier nur mit höheren und sichereren Löhnen entgegengewirkt werden: „Menschen müssen durch Arbeit so viel verdienen, dass sie solche Preissteigerungen aushalten können.“

Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung nötig

Die, die das nicht mehr aushalten können, treffen in Berlin auf Sabine Werth, Gründerin der Berliner Tafel. Über 40 Ausgabestellen gibt es in der Hauptstadt, seit Jahresbeginn geht die Spendenbereitschaft von Lebensmitteln aber merkbar zurück. „Das ist keine neuerliche Entwicklung mit Kriegsbeginn, sondern wir haben seit Jahresbeginn rund ein Drittel weniger Spenden“, erzählt Werth am Telefon. Gleichzeitig kommen immer mehr Menschen zu den Ausgabestellen, konkrete Zahlen könne man nicht nennen.

Nach zwei Pandemiejahren gebe es aber immer mehr „Corona-Opfer“ unter den Wartenden: „Viele hat Corona einfach voll erwischt. Die vergangenen zwei Jahre haben sie es finanziell einigermaßen ausgehalten, jetzt geht aber doch nichts mehr.“ Insolvenz, Arbeitslosigkeit, fehlende Ersparnisse. „Die können jetzt nicht mehr weiter“, meint Tafel-Gründerin Werth. Dazu kämen vermehrt Geflüchtete.

Sabine Werth fordert endlich auch für Deutschland ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung, ähnlich dem in Frankreich. Seit mehr als fünf Jahren werden Kaufhallen mit mehr als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche dort verpflichtet, unverkäufliche, aber essbare Lebensmittel an soziale Einrichtungen abzugeben. Nur einen Wunsch hat sie: „Ich würde auch kleinere Läden verpflichten. Ich finde, die Kleinen müssen auch mithelfen.“