Berlin-Der hochverschuldete chinesische Immobilienentwickler Evergrande kann seine Schulden nicht mehr zahlen. Am Donnerstag gab die Ratingagentur Fitch bekannt, dass Evergrande die Zahlung von ursprünglich am Montag fällig gewordenen Zinszahlungen nicht bestätigt habe. Fitch änderte das Rating des Unternehmens entsprechend auf „restricted default“, bei Brancheninsidern gilt das Rating als Vorstufe zur Insolvenz. Am Freitag entstand dann Gewissheit: Evergrande hatte seine in Dollar laufenden Schulden bei einem außerchinesischen Gläubiger in Höhe von 82,5 Millionen Dollar tatsächlich nicht beglichen und auch die Nachfrist zur Zahlung ergebnislos verstreichen lassen.

Am 11./12. Dezember 2021 im Blatt:
Wie kommen wir durch die Feiertage, ohne Corona-Streit mit denen anzufangen, die wir doch lieben? Fünf persönliche Geschichten und ein Interview mit einer Expertin
100.000 Soldaten an der Grenze: Greift Putin nach der Ukraine? Und was wird aus Nord Stream 2?
„Ich bin Patient null“: Unser Kollege brachte Omikron aus den Ferien mit nach Berlin
Silvester ohne Böller? Unsere Autoren streiten, ob das sinnvoll ist
https://berliner-zeitung.de/wochenendausgabe
Die Märkte regieren gelassen
Die Märkte reagieren bis jetzt ruhig auf die Ankündigung. Der Shanghai Composite Index, der wichtigste Aktienindex des chinesischen Festlands (ohne Hongkong), hatte am Freitag mit 0,18 Prozent nur geringfügige Verluste zu verzeichnen, auch der Hongkonger Hang Seng Index gab am Freitag lediglich um 1,07 Prozent nach. Seit Sommer dieses Jahres haben die Aktien des Unternehmens massiv an Wert verloren, am Montag brachen sie nochmals um 20 Prozent ein. Evergrande ist der zweitgrößte Immobilienentwickler Chinas und betreut derzeit über 1300 Projekte in 280 chinesischen Städten. Während das Kerngeschäft des Konzerns im Immobilienbereich liegt, hat sich das Unternehmen in den letzten Jahren stark diversifiziert und ist mit der chinesischen Wirtschaft eng verzahnt: 2014 startete die Evergrande Group eine eigene Mineralwassermarke, 2018 stieg der Konzern in den Elektroautoentwickler Faraday Future ein, weitere Geschäftsbereiche bilden das Geschäft mit Lebensversicherungen und Krankenhäusern.
Die Evergrande Group ist insgesamt mit über 300 Milliarden Dollar verschuldet, dabei bilden Schulden bei Auslandsgläubigern in Höhe von 19 Milliarden Dollar nur einen kleinen Teil der Gesamtverschuldung. Ein großer Teil der Schulden besteht demnach bei der wachsenden chinesischen Mittelschicht, deren Vertreter von Evergrande ein Eigenheim erwerben wollten und dafür in Vorleistung treten mussten. Wie viele Bauträger in China verkaufte Evergrande Wohnungen an einzelne Verbraucher, bevor die Objekte fertiggestellt waren. Auf diese Weise konnte das Unternehmen Liquidität sicherstellen, während es gleichzeitig Kredite für die Entwicklung der Immobilien aufnahm. Die in den letzten 20 Jahren stark steigenden Immobilienpreise in China erleichterten den aggressiven Expansionskurs des Unternehmens. Zuletzt machte der Wert der in der Entwicklung befindlichen Immobilien etwas mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens von Evergrande aus. Evergrande erhielt auf Grundlage des steigenden Werts des Immobilienportfolios immer neue Kredite. Der Durchschnittspreis für Wohnhäuser und Apartments in China hat sich zwischen 2001 und 2019 mehr als vervierfacht. Auch Bemühungen der chinesischen Regierung, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, konnten diesen Trend nicht stoppen.
Die chinesische Regierung will eine Immobilienblase vermeiden
In Peking begann man 2016, den Slogan „Häuser sind zum Wohnen da, nicht zur Spekulation“ zu propagieren, um einer möglichen Immobilienblase in China entgegenzuwirken. Im letzten Jahr folgten auf die Ankündigung der chinesischen Regierung auch Taten: Im August 2020 beraumten chinesische Beamte ein offizielles Treffen mit zwölf Immobilienkonzernen an und verlangten, dass diese die Abhängigkeit von neuen Schulden künftig senken und in ein ausgeglicheneres Verhältnis zu den verwalteten Immobilienbeständen bringen müssen. Evergrande gelang es jedoch nicht, die Schuldenlast zu reduzieren. Das Unternehmen war zu stark darauf angewiesen, neue Kunden zu gewinnen, um den laufenden Verpflichtungen nachkommen zu können. In diesem Jahr löste Evergrande deshalb zahlreiche Firmenbeteiligungen auf und verkaufte auch Immobilienbestände weit unter den sonst üblichen Marktpreisen, um die finanzielle Situation zu stabilisieren. Davon konnte mitunter auch der chinesische Staat profitieren, so wurden Anteile an der Shengjing Bank für umgerechnet 1,3 Milliarden Euro an einen staatlichen Investor verkauft. Wie sich am Montag jedoch zeigte, genügten diese Bemühungen nicht, um den laufenden Kreditverpflichtungen nachzukommen.
Die chinesische Regierung machte bereits klar, dass sie auch im Falle einer kompletten Evergrande-Pleite nicht die Absicht habe, weitergehend zu intervenieren, sondern lediglich die Umstrukturierung der Schuldenlast auch im Interesse der chinesischen Verbraucher begleiten werde. Klartext: Der chinesische Staat wird Evergrande nicht mit staatlichen Geldern unterstützen. Chinas Zentralbankchef Yi Gang gab bekannt, dass die systemischen Risiken durch Evergrande überschaubar seien, und bezeichnete die sich abzeichnende Insolvenz des Konzerns als normalen Marktvorgang, mit dem „nach den Grundsätzen des Marktes und der Rechtsstaatlichkeit“ zu verfahren sei.
