Berlin-Bewohnerinnen und Bewohner des restlichen Kontinents müssen jetzt ganz stark sein, denn ein bisschen klingt Daniel de Schryver wie eine wandelnde Berlin-Broschüre, die Kritik an anderen europäischen Metropolen nicht missen lässt. „Brüssel ist keine Stadt. Brüssel sind 19 Gemeinden, die nie richtig zusammengewachsen sind“, sagt er. „Paris ist total uniform, sehr langweilig. Auch in Wien sieht alles gleich aus. Und London ist einfach nicht zu bezahlen.“ Also konnte es nicht die Seine, weder die Donau noch die Themse – es musste die Spree werden, in die de Schryver vor mehr als einem Jahrzehnt seinen Anker warf.
2009 zog der Belgier nach Berlin. In Antwerpen geboren, hatte er viele Jahre in Brüssel gelebt, bis ihm die Stadt, in der sich „niemand wirklich als Brüsseler oder Brüsselerin fühlt, sondern immer nur als Bewohner eines Viertels“, nicht mehr gefiel. „Hier ist das anders“, sagt de Schryver, und seine saphirblauen Augen blitzen. „Auch Berlin hat sehr eigene, ganz unterschiedliche Stadtteile, aber trotzdem gibt es dieses Gefühl des Zusammenhalts. Die Leute fühlen sich wirklich als Teil eines großen Ganzen.“ Eine gehörige Portion Stolz auf den eigenen Bezirk, den eigenen Kiez, die eigene Straße muss das ja nicht ausschließen.

Denn tatsächlich ist Daniel de Schryver so etwas wie eine wandelnde Berlin-Broschüre. Eher noch: ein wandelndes Hansaviertel-Handbuch. Er weiß viel über den kleinen Ortsteil zwischen Moabit und Tiergarten, lebt selbst in einem der Architektenhäuser, die dem Hansaviertel seinen ungewöhnlichen Charme verleihen; er ist Mitglied im „Bürgerverein Hansaviertel“ und gibt Stadtführungen durch den Ortsteil zwischen Altonaer Straße, Siegessäule und Spreeufer. Denn auch für ihn als Architekturfan gibt es hier immer wieder etwas zu entdecken.

Eigentlich arbeitet Daniel de Schryver in der Pharmaindustrie, kümmert sich bei Johnson & Johnson seit vielen Jahren darum, dass Patientinnen und Patienten schon früher und intensiver eingebunden werden in die Entwicklung neuer Medikamente. Dass es in seiner freien Zeit aber eher die schönen Künste sind, die ihn begeistern, sieht man de Schryver und seiner Wohnung durchaus an. Erstmal sind da die Kilts, die er gerne trägt. „Als Jean Paul Gaultier seinen ersten Männerrock über den Laufsteg schickte, war ich sofort fasziniert“, sagt er. „Aber damals war der noch ein bisschen zu teuer für mich.“

Irgendwann habe er dann zu einem etwas günstigeren Modell von Comme des Garçons und schließlich zu den traditionellen schottischen Kilts gefunden. Die seien nicht nur bequem, sagt er: „Wie man sich kleidet, hat auch eine Auswirkung darauf, wie die Menschen auf dich reagieren. Und ich habe gemerkt, dass sie es interessant finden, einen Mann im Rock zu sehen.“ Ob auf dem Kurfürstendamm oder in Neukölln – „die Leute finden das cool“, sagt de Schryver. „In Paris wäre das anders, da gibt es einen stärkeren sozialen Druck, der die Individualität einschränkt.“ Und individuell – so mag er es.
Nach dem Krieg standen im Hansaviertel keine 20 Häuser mehr
Deswegen war de Schryver auch wahnsinnig froh, als er vor fast drei Jahren seine neue Wohnung im Hansaviertel fand. Sie ist im Eternithaus gelegen, das 1957 vom Architekten Paul Baumgarten für die Eternit AG entworfen und gebaut wurde. Wie die anderen Gebäude in der Gegend war auch das Eternithaus Teil der Interbau, einer internationalen Bauausstellung, die architektonische Ideen sichtbar machen sollte zur Neugestaltung der kriegszerstörten Stadt. „Im Hansaviertel, das vor dem Krieg ganz dicht bebaut war, standen Anfang der Fünfziger gerade noch 17 Häuser, von denen nur drei überhaupt bewohnbar waren“, erzählt de Schryver.

Also entstand der Plan zu einer Art Westberliner Modellstadt – auch als Reaktion auf das, was in Ostberlin gebaut wurde. „Als Lösung für den massiven Wohnungsmangel entstanden im russischen Teil der Stadt die Stalinbauten, da musste man sich im Westen überlegen, wie man darauf reagiert“, sagt de Schryver. Die Antwort: mit dem Besten, was die internationale Architekturszene zu bieten hatte.

Also stehen im Hansaviertel Wohngebäude- und -komplexe von Oscar Niemeyer neben jenen von Egon Eiermann, solche von Arne Jacobsen neben welchen von Walter Gropius, Max Taut neben Alvar Aalto, eine lockere Mischung aus Hochbauten und Flachbauten, aus langgezogenen Reihenhaus-Komplexen und freistehenden Bungalows mit Innenhof – „ein begehbarer Architekturkatalog“, sagt Daniel de Schryver. Und er selbst hat mit seiner knapp 100 Quadratmeter großen Maisonettwohnung im Eternithaus ein besonders schönes Exemplar erwischt.

Der sieben Wohnungen umfassende Bau hat etwas Schiffsähnliches, steht langgezogen zwischen den Bäumen der angrenzenden Parks; auf einen schmalen, leicht wirkenden Unterbau aus Säulen und Glassteinen folgt ein geradliniger Querriegel aus weißen und orangefarbenen Faserzementplatten, darauf thronen gläserne Kuben und Terrassen. So wirkt auch der untere Bereich von de Schryvers Wohnung – durch eine Tür auf einem Laubengang im mittleren Gebäudeteil betreten – erstmal ein wenig eng und funktional.
Auch kleine Fenster in jeder Innenwand lassen viel Licht herein
Ein kleines Schlaf- und ein kleines Arbeitszimmer, das Bad und zwei Abstellkammern, ein größerer Flur mit der Treppe nach oben – und plötzlich tut sich der obere, himmlische Wohn-Ess-Küchenbereich in einem der Glaskuben des Hauses auf. Auch alle anderen Räume sind mit größeren und kleineren Fenstern versehen, selbst die Innenwände der Wohnung lassen durch schmale, rechteckige Glasscheiben reichlich Sonnenlicht herein. Eine Wohnung, die es gut meint mit ihrem Bewohner.

„Das ist eine fantastische Art zu bauen, die aber auch viel davon vorgibt, wie man darin leben soll, die Räume, Ecken und Formen hat, denen man gerecht werden muss“, sagt Daniel de Schryver. „Einfach irgendwas reinstellen geht hier nicht – ich musste mir ganz neue Sachen kaufen.“ Also stehen in seiner Wohnung nun Möbel, die der klassisch-modernen Formsprache des Architekten Baumgarten entsprechen – ein kantiges schwarzes Ledersofa mit silbernen Beinen von Montis zum Beispiel, dazu ein blauer Loungesessel von Pierre Paulin für Artifort, Lampen von Egon Eiermann und Joe Colombo.

Vor allem aber ist es die Kunst, die hier ins Auge fällt. Begeistert sammelt de Schryver die Werke zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler – schon im Flur bringt er Gemälde und Objekte von Flavio de Marco, Alicja Kwade und Peter Witucki zusammen, die sich allesamt mit Raum und Räumlichkeit auseinandersetzen; im Arbeits- und im Esszimmer wiederum hängen farbstarke, collagenähnliche Gemälde von Gérard Fromanger.

Besonders gern mag Daniel de Schryver ein recht unscheinbar wirkendes Kunstobjekt im sonnengefluteten Wohnzimmer: eine gläserne Kugel, in dessen Zentrum ein geometrisches Muster aus feinen schwarzen Linien sichtbar wird. „Die ist von Enzo Mari, und ganz egal, wie man sie dreht und wendet“, sagt de Schryver und nimmt die Kugel in die Hand – „man sieht immer das gleiche Raster.“ Wie zum Beweis bewegt er das gläserne Objekt in seinen Händen. Tatsächlich finden sich die schwarzen Linien zum immergleichen Muster zusammen, eine geniale optische Täuschung.
Die Künstlerkugel steht im Wohnraum vis-à-vis der Leuchtskulptur
Im Wohnzimmer steht die Künstlerkugel vis-à-vis eines anderen, überaus interessanten Objekts: eine leuchtende Skulptur von Susanne Rottenbacher, die aus in sich verschlungenen gläsernen Rohren besteht, manche milchig-weiß, andere glasklar. „Ich habe nach etwas gesucht, dass die Eckstruktur dieses Raumes ein bisschen auflockert und habe erst gedacht, dass ich vielleicht von außen etwas mache.“ Ein anderes Kunstwerk auf der angrenzenden Terrasse vielleicht? Ein angebrachtes Objekt, eine Außenskulptur direkt vor den Fenstern – „aber nach langen Gesprächen mit der Künstlerin haben wir das wieder verworfen. Wir wollten die Ästhetik des Hauses von außen auf keinen Fall zerstören, weil ich es perfekt finde, so wie es ist.“
Daniel de Schryver schaut noch aus den Fenstern, während er das sagt: auf die verschneite Terrasse, auf die winterkahlen Bäume, zwischen deren Gipfeln die nahe Goldelse majestätisch in der Sonne glänzt. Ein Motiv, das sich in jeder Werbebroschüre für Berlin perfekt ausnehmen würde.


