Berlin-Fritz will lieber alte Kamellen auspacken, als über die Einrichtung seiner Eltern zu reden. „Ich habe eine super Geschichte über Papa“, sagt der Siebenjährige am Küchentisch der kleinen Familie. „Irgendwann“, beginnt Fritz seine Lieblingsanekdote, „ist er mal nackt auf der Straße aufgewacht.“ Papa muss einlenken – so richtig schönreden kann aber auch er die Geschichte nicht.
An einer Straßenecke im Westend war’s, wo Gabriel Weis vor Jahren an einem kühlen Morgen kleider- und orientierungslos zu sich kam. „Ich bin dann nackt zu einem Kumpel in der Nähe gelaufen, habe dort übernachtet und mir am nächsten Morgen den Ersatzschlüssel von meiner Mutter geholt“, erzählt er. „Und als ich schließlich irgendwann zurückgekehrt war, stand meine Wohnungstür sperrangelweit offen, der Fernseher war brüllend laut angestellt, die Nachbarn haben nicht mehr mit mir geredet.“ Berlin halt – kann ja mal passieren.

Es sind wilde Geschichten wie diese, von denen Gabriel und Diana Weis vermutlich viele zu erzählen haben. Er ist gelernter Bass-Gitarrist, spielt gelegentlich für Malakoff Kowalski, kutschiert als Fahrer auch andere tourende Bands und Musiker im Nightliner durch Europa – die US-Band Toto etwa, die Wiener Indie-Rocker von Wanda, den Tomte-Gründer Thees Uhlmann. Sie ist Modetheoretikerin und Modejournalismus-Professorin, auch Autorin, eine, die sich auf Jugend- und Subkulturen spezialisiert hat allerdings – wer in Deutschland ernsthaft über Kleider schreibt, sollte Diana Weis’ brillante Texte und Kolumnen kennen.

Stecken würde man die beiden eigentlich in eine Kreuzberger Schublade, irgendwo in die Gegend um das SO36 vielleicht, wo die Nacht lang und der Morgen meistens zu hell ist. Aber das war einmal: Zusammen mit ihrem Sohn Fritz – eigentlich Friedrich – leben Diana und Gabriel Weis in einer schmucken, eklektisch dekorierten Wohnung auf der Kastanienallee. Der anderen Kastanienallee, wohlgemerkt – nicht der trubeligen im Prenzlauer Berg, sondern der weit unbekannteren, weit leiseren, geradezu beschaulichen Kastanienallee in Westend. Auch der Wunsch, nach Charlottenburg zu ziehen, habe die beiden früh zusammengeschweißt, erzählt das Paar.

„Ich habe tatsächlich ziemlich lange in Kreuzberg gewohnt, direkt gegenüber vom ‚Trinkteufel‘“, sagt die gebürtige Münchnerin Diana Weis. Als ihre Sturm- und Drangzeit etwas weniger stürmisch geworden war, habe sie das bunte Treiben rund ums Kottbusser Tor zwar noch ein paar Jahre als Zuschauerin genossen, habe mit einem Kaffee in der Hand jeden Morgen die Leute aus der berüchtigten Kneipe „Rote Rose“ kriechen sehen. „Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dieses Karree ist irgendwie auch ein Knast.“
Ich wollte nicht am Tresen in Kreuzberg altern.
Immer wieder Adalbertstraße, Mariannenstraße, Oranienstraße, immer wieder die gleichen Leute, dieselben Bars – „ich wollte nicht am Tresen altern“, sagt Diana Weis, „ich wollte lieber eine feine Dame in Charlottenburg sein.“ Vor acht, neun Jahren zogen sie und Gabriel Weis dann in ihre Dreizimmerwohnung im Westend, ein paar Monate waren die beiden zu dieser Zeit schon ein Paar. Und auch ihre Kennenlerngeschichte könnte einem Coming-of-Age-Film entsprungen sein.

Das erste Mal begegneten sich die beiden auf der Gartenparty einer gemeinsamen Freundin, Annika Line Trost, einst Gründerin des legendären Berliner Elektro-Punk-Duos Cobra Killer, heute Moderatorin bei Radio Eins. „In Spandau war das, Laubenpieper-Situation mit Wasseranbindung, ein uraltes Boot am Ufer“, erzählt Gabriel Weis.

Ein Blick auf Diana, eine kurze Diskussion mit Annika – und schon durfte er sich das betagte Ruderboot schnappen und mit der schönen Fremden gen Sonnenuntergang paddeln. Sie, die Sonne, war allerdings ziemlich schnell im Kanalwasser versunken: „Also war es plötzlich stockduster, hat angefangen zu gewittern, wir beide waren nicht mehr ganz nüchtern und wussten kaum mehr, wo wir gerade überhaupt waren.“ To make a long story short: Gabriel und Diana Weis haben es überlebt – und sich ineinander verliebt.

Wie könnten sie auch nicht, der Musiker und die Modespezialistin, die unabhängig voneinander in ähnliche Szenen abgedriftet sind. Während der gebürtige Westberliner früh Sechziger- und Siebziger-Jahre-Rock gemacht, auch in Ska- und Reggae-Bands gespielt hat, testete Diana Weis in München verschiedene Jugendkulturen für sich aus. „Immer donnerstags war im ‚Tanzcafé Größenwahn‘ Independent-Party und ich hatte mit viel Streit, Tränen und Türenknallen bei meinen Eltern durchgesetzt, dass ich da bis Mitternacht hingehen durfte“, erzählt sie. „Da sind dann die ganzen Grüppchen aufeinandergetroffen, die tagsüber in der Innenstadt abhingen.“
Immerhin weiß unser Sohn auch schon, wer Ozzy Osbourne ist.
Unter anderem Namen und demokratischer Prämisse bespielte damals noch DJ Hell das „Größenwahn“ – immer fünf Songs am Stück für jede Gruppe. „Die Punks, Skinheads und Rockabillys sind dann abwechselnd aufgestanden und haben ihre klassischen Tänze gemacht“; das rhythmische Nach-unten-Bücken der Gruftis zum Beispiel habe mit „Pfennige klauben“ oder „Pilze pflücken“ lustige Umschreibungen gefunden, die Psychorockabilly-Typen hätten indes auf eine bestimmte Art immer wieder im Kreis getanzt. „Es gab schon auch Animositäten, die Gruppen haben sich ein bisschen angemacht vor dem Club, aber eigentlich war das sehr friedlich und freundschaftlich.“

Wie dem auch sei: die Liebe zu den Jugendkulturen und zur Musik, auch enge Kontakte in die Szene sind Diana Weis und ihrem Mann geblieben – das sieht man auch und gerade in ihrer Wohnung. Da ist zum Beispiel ein Gemälde von Françoise Cactus, dass die kürzlich verstorbene Stereo-Total-Sängerin dem Paar zur Hochzeit geschenkt hat: Es zeigt Diana und Gabriel Weis auf ihrer Hochzeitsreise in Hollywood – er mit dem kleinen Fritz auf dem Arm, sie mit Sonnenbrille. Oder das gigantische Bild von Sid Vicious und Nancy Spungen im großen Flur, den Familie Weis zum gemütlichen Esszimmer umfunktioniert hat. Seit über 20 Jahren schleppt Diana Weis das geplottete Portrait mit sich herum, vor wenigen Wochen hat es endlich einen Rahmen bekommen.

Anders als die meisten anderen interessiert sie sich aber nicht bloß für den Sex-Pistols-Bassisten, sondern gerade auch für seine Freundin. „Ich bin totaler Fan von Nancy, auch von Courtney Love, und es hat mich schon immer total genervt, dass nie wirklich die Geschichte der Frauen erzählt wird“, sagt Weis. „Die werden immer schlecht dargestellt, als seien sie nur Anhängsel gewesen, die ihre Musiker-Boyfriends zu Junkies gemacht hätten.“ Dabei habe Nancy Spungen höchstpersönlich viele berühmte Bands entdeckt und Courtney Love war bekanntlich schon lange vor Kurt Cobain als Musikerin aktiv. Sei’s drum – als Märtyrer gelten immer die Jungs, zu selten ginge es um die Geschichten der Girls.

Während sich die Hausherrin für das schwarz-weiße, legendäre Portrait besonders begeistern kann, nennt Gabriel Weis geradezu betuliche, brave Kleinigkeiten als seine Lieblingsgegenstände. „Wo ich in unserer Wohnung tatsächlich gerne Zeit verbringe, ist vor dem Kühlschrank, wir sammeln ja Kühlschrankmagneten“, sagt er. Geradezu autobiografische Züge habe der kühlende Kasten, viele Magnete stammten von Reisen oder waren Geschenke. „Manchmal stehe ich davor und gerate ins Träumen: ‚Ah, da waren wir in Seattle, oh, da ist ein Stalin-Magnet, den haben wir geschenkt bekommen.‘“
Auch ziemlich bunt und charakterstark: Fritz’ Kinderzimmer, das beinahe einem kleinen Spielplatz gleicht. Das Hochbett mit Leiter und Rutsche, mit einem dicken Haken, an dem sich je nach Stimmung ein Kletterseil, eine Hängematte oder ein Boxsack befestigen lässt, hat Gabriel Weis für seinen Sohn entworfen. „Gebaut hat’s aber mein Kumpel Guido“, sagt er, „der ist ein sehr guter Ska- und Reggae -Gitarrist“ – natürlich.
Bleibt eigentlich nur eine Frage: Wie steht’s um den Musikgeschmack des Sohnemanns? „Ich gehe jeden Samstag zum Hip-Hop-Tanzen“, erzählt Fritz begeistert – oha! „Naja, er muss schon selber rausfinden, was er hören und machen will“, sagt Papa und zuckt mit seinen Schultern. „Aber immerhin weiß er auch schon, wer Ozzy Osbourne ist.“


