Kolumne

Die Verwandlung der Nemi El-Hassan

Die Journalistin war als junge Frau radikal, aber suchend. Sie erlebte Konflikte, die viele junge Menschen mit palästinensischen Wurzeln kennen.

Sabine Rennefanz
Sabine RennefanzMaurice Weiss/Ostkreuz

Berlin-In den vergangenen Tagen habe ich mich an eine Begegnung mit einer jungen Frau erinnert, die mich damals beeindruckt hat. Es war 2013, vor der Bundestagswahl. Sie war 20 Jahre alt, Medizinstudentin und Erstwählerin, mit Kopftuch. Die Grünen wollte sie wählen, weil die Energiewende das wichtigste Thema der Gegenwart sei. Diese junge Frau hieß Nemi El-Hassan. Ich schrieb über sie für die Berliner Zeitung. „Entschlossen zur Wahl“ hieß die Überschrift.

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Berliner Zeitung
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Am 18./19. August 2021 im Blatt:
Rot-Grün-Rot hat laut Umfragen eine Mehrheit im Bundestag von 52 Prozent. Ist das ein linkes Schreckgespenst oder Rettung aus der Not?

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Acht Jahre sehe ich Nemi El-Hassan wieder, in der Zeitung, ohne Kopftuch. Sie sollte als WDR-Moderatorin die Sendung „Quarks“ übernehmen. Nachdem die Bild-Zeitung aufgedeckt hat, dass Nemi El-Hassan 2014 an einer judenfeindlichen Demonstration Al-Quds-Demonstration teilgenommen hat, ist sie in einen Shitstorm geraten. Nemi El-Hassan hat sich inzwischen für die Teilnahme entschuldigt, sich von Antisemitismus und Islamismus distanziert. Der WDR hat ihr Engagement allerdings suspendiert.

Als ich Nemi El-Hassan kennenlernte, war sie vollverschleiert. Sie weigerte sich, dem männlichen Fotografen der Berliner Zeitung die Hand zu geben. Ich traf sie danach noch einmal, weil sie Wissenschaftsjournalistin werden wollte und sich dafür interessierte, welche Wege es in den Beruf gibt. 

Ich erinnere mich, dass ich sie als sehr überzeugt in ihrem Glauben wahrgenommen habe, aber auch als suchend und ehrgeizig. Wir stellten fest, dass wir aus der gleichen Gegend kamen. Sie war in Fürstenwalde in Brandenburg aufgewachsen, ich hatte meine Kindheit in der Nähe auf dem Dorf verbracht. Die neunziger und nuller Jahre, das waren auch in Fürstenwalde die Baseballschlägerjahre, eine Zeit der Radikalität. Sie hatte es als Kind libanesischer Flüchtlinge sicher ungleich schwerer als ich. Das ist keine Entschuldigung dafür, warum man auf Demonstrationen geht, bei denen „Israel vergasen“ gerufen wird. Es kann höchstens eine Erklärung sein, warum eine junge Muslimin, die kein Opfer sein will, ihrerseits sich radikalisiert.

Der Journalist Andrej Reisin macht im Blog Übermedien noch einen anderen Punkt, nämlich dass der Fall Nemi El-Hassan auf einen grundlegenden Konflikte in den Medien hinweist. Man will einerseits mehr „Diversity“, ist aber andererseits nicht drauf vorbereitet, dass diese Diversität auch bedeuten könnte, dass nicht alle Menschen mit den gleichen Grundkoordinaten aufwachsen, wie die sich selbst gerne als „Mitte“ sehende bürgerlich-weiße Mittelschicht. Die Erfahrungshorizonte, die Familiengeschichten klaffen auseinander. Das heißt nicht, dass man nicht Antisemitismus in bestimmten Milieus kritisieren kann.

Aber wann wird die Entschuldigung angenommen, wann wird jemandem ein Fehler verziehen? Ein Grüner, der auf Polizisten Steine warf mit 25, wurde später Außenminister. Ein Fußballehrenpräsident, der wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis saß, gibt dem Land weiter Lektionen. Andere Vergehen kleben für immer an der Biografie, eine Mitarbeit bei der Staatssicherheit.

Nemi El-Hassan spricht im Spiegel über die Zeit, als sie vollverschleiert war und auf radikale Demonstrationen ging. Sie sagt, dass sie sich für diese Zeit schämt: „Ich war komplett unreflektiert und uninformiert“. Sie erläutert auch, was sich geändert hat, warum sie ihr Kopftuch abgelegt hat, was sie bei Reisen in Israel erlebt hat. Viele Menschen machen mit 19 oder 20 Fehler, vertreten menschenfeindliche Positionen. Nur wenige reden später so offen darüber.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.