Nach zweieinhalb Wochen Krieg hat der vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) geführte Weltsport die Beziehungen zu den Aggressoren Russland und Belarus weitgehend gekappt. Unter großem öffentlichen Druck vollzog das Internationale Paralympische Komitee (IPC) eine Rolle rückwärts und schloss die Kriegstreiber im letzten Moment von den Paralympics in Peking aus. Die meisten Fachverbände haben russische und belarussische Sportler aus ihren Wettbewerben verbannt. Indes hat keine Föderation Russland komplett ausgeschlossen und isoliert, auch das IOC nicht. Dass Russische Olympische Komitee (ROC) bleibt vom IOC anerkannt, man verfügte keinerlei Suspendierung. So verhält es sich auch mit den Nationalverbänden.
Propagandisten der olympischen Bewegung bejubeln dennoch den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Dabei gibt es für derlei Behauptungen keinen Anlass. Eine Überhöhung der ersten Beschlüsse führender Sportorganisationen verbietet sich. Vieles erinnert an die Legende, Russland sei seit 2016 nach der Aufdeckung des Staatsdopingsystems stets hart bestraft worden. Dabei wurde Russland nie wirklich konsequent sanktioniert und nicht komplett von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Immer fanden sich Schlupflöcher. Nie standen die Opfer des gigantischen Betruges im Mittelpunkt, nur die Täternation. Das ist jetzt ähnlich.

Wenngleich mit jedem Kriegstag und jeder neuen Gräueltat die Opfer stärker in den Fokus rücken. Und das ist auch gut so. Humanitäre Hilfe ist das Mindeste, was man von reichen Sportverbänden erwarten darf. Das IOC und die Fußballverbände Fifa und Uefa horten Milliardensummen auf ihren Konten. Bezeichnend ist einmal mehr, dass etwa das IOC zwar über sein ukrainisches Mitglied Sergej Bubka Hilfsaktionen koordiniert, selbst aber keinen Fonds aufsetzte. Dabei könnte das IOC problemlos einige Hundert Millionen Euro zur Verfügung stellen.
Die bisherigen Maßnahmen der Sportverbände, die teilweise noch immer nicht von einem Angriffskrieg Russlands sprechen, sondern von einer „Situation“ oder einer „Krise in der Ukraine“, hinken weit hinter den Forderungen aufgeklärter Sportlervereinigungen zurück – und in der Schärfe auch weit hinter den Sanktionspaketen der Europäischen Union und den USA. Alles andere als eine komplette internationale Sperre des russischen und belarussischen Sports für mindestens eine Olympiade wäre ein Hohn auf die Opfer des Krieges. Russland und Belarus sollten für die Sommerspiele und Paralympics 2024 in Paris und die Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d’Ampezzo rigoros ausgeschlossen werden. Ohne jegliche Tricks. Ohne die Teilnahme von Athleten und Mannschaften unter IOC-Flaggen oder was man in der Vergangenheit auch immer für Lösungen parat hatte.
Zur historischen Wahrheit gehört wieder einmal: Der olympische Sport musste zu diesen ersten zaghaften Beschlüssen getrieben werden. Entscheidende Fragen bleiben offen.

Kein olympischer Weltverband hat ein aktives russisches Vorstandsmitglied suspendiert
Es bleibt skandalös, dass das IOC nicht zugleich die Nationalen Olympischen Komitees (NOK) von Russland und Belarus suspendiert. Es hätte alle Mittel dazu, die Olympische Charta gibt das problemlos her. Das IOC hatte einst das mörderische Apartheid-Regime in Südafrika für drei Jahrzehnte aus der olympischen Bewegung ausgeschlossen.
Es bleibt skandalös, dass die drei Dutzend olympischen Weltfachverbände nicht ihre russischen Mitgliedsorganisationen ausschließen.
Es bleibt skandalös, dass das IOC nicht seine zwei russischen IOC-Mitglieder suspendiert: die Putin-treue Olympiasiegerin Yelena Isinbayeva und den ehemaligen Sportminister und KGB-Spion Shamil Tarpishev, der seit Ewigkeiten beste Beziehungen zur russischen Mafia pflegt und schon in den 90er-Jahren Milliardensummen veruntreut hat.
Es bleibt skandalös, dass kein olympischer Weltverband ein aktives russisches Vorstandsmitglied oder gar einen aktiven russischen Präsidenten suspendiert hat. Der Oligarch Alisher Usmanov, Präsident des Fecht-Weltverbandes FIE, hat sich lediglich selbst suspendiert, nachdem er auf die Sanktionsliste der Europäischen Union gesetzt wurde.
Selbst-Suspendierungen sind ein Klassiker im mitunter kriminellen olympischen Milieu. Das IOC führt seit vielen Jahren zwei Mitglieder unter diesem Label: Patrick Hickey aus Irland, der 2016 während der Sommerspiele in Rio de Janeiro wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung im IOC Hotel verhaftet wurde; und Scheich Ahmad Al-Fahad Al-Sabah aus Kuwait, ein Schmiergeldzahler, der in der Schweiz zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Selbst-Suspendierungen können dauern. Hickey zog 2016 diese Karte, Scheich Ahmad 2018.
Olympische Orden für Putin-treue Präsidentin
Usmanov, ein Freund des IOC-Präsidenten Thomas Bach, hat angekündigt, alle juristischen Mittel gegen die Sanktionen auszuschöpfen. Zwar wurden erste Vermögenswerte des Multimilliardärs eingefroren, die Mittel für teure Anwaltskanzleien sollten aber noch verfügbar sein. Usmanov spielte eine Schlüsselrolle in Putins sportpolitischer Armada. Seine Anwälte sind Weltklasse darin, die Vita ihres Klienten zu säubern. Mitunter hat man das Gefühl, das ganze Internet würde gesäubert, und dabei geht es nicht nur um die Neuinterpretation einer Haftstrafe, zu der der gebürtige Usbeke einst in der Sowjetunion verurteilt wurde.
Dem IOC ist Usmanov aus vielerlei Gründen wichtig. Vor zwei Jahren ersteigerte er für 8,8 Millionen Dollar das Original-Manifesto des IOC-Gründers Pierre de Coubertin und schenkte es dem Olympischen Museum in Lausanne. Thomas Bach, der sich quasi als Coubertin-Nachfahre betrachtet und vor einem Jahr öffentlich behauptete, er hätte im Garten des IOC-Hauptquartiers mit Coubertin gesprochen, lobte Usmanov einmal mehr in den höchsten Tönen.
Olympia ist ein Familienbusiness. Usmanovs Ehefrau Irina Viner-Usmanova, langjährige Nationaltrainerin in der Rhythmischen Sportgymnastik, Präsidentin des russischen Verbandes und Putin-treu bis ins Mark, hat schon 2015 von Bach den Olympischen Orden erhalten. Usmanov ist seit 2008 FIE-Präsident. Als er 2021 erneut im Amt bestätigt wurde, saß Bach, Fecht-Olympiasieger von 1976, an seiner Seite.
Ohne die gewaltigen Zuschüsse von Usmanow könnte die FIE nicht lange existieren. Das ist im Weltverband der Sportschützen (ISSF) und im Weltverband der Boxer (IBA, früher AIBA) ähnlich. Auch dort amtieren mit dem Oligarchen Wladimir Lissin und dem Millionär Umar Kremlev zwei Russen. Kremlev ist Mitglied des Putin-nahen nationalistischen Motorrad-Rockerklubs Nachtwölfe.

Einige Sportinstitutionen haben Putin, seinen Oligarchen und russischen Politikern Ehrenpräsidentschaften und Orden aberkannt. Das sind vorerst nur symbolische Handlungen. Man wird noch viele solcher Wendemanöver erleben. Die Funktionäre würden am liebsten Geschichte umschreiben und so tun, als sei das alles nur ein großes Missverständnis gewesen. Die historische Wahrheit aber ist: Dieser olympische Sport mit dem IOC an der Spitze hat sich vom Massenmörder Wladimir Putin nicht nur vereinnahmen lassen – dieser olympische Sport hat genau das gewollt: den Zuspruch Putins, das Geld des Kremls, der Staatskonzerne und Oligarchen.
Insofern stehen die internationalen Sportorganisationen auf der Seite der Täter. Deshalb bedarf es transnationaler kriminalistischer Ermittlungen. Eigentlich muss die Verquickung der olympischen Familie mit der Kreml-Mafia – einiges ist bereits Gegenstand von Kriminalverfahren – von einem internationalen Gerichtshof aufgearbeitet werden. Alles andere wäre inakzeptabel.
KGB und FSB haben über mehr als 50 Jahre die olympische Welt ausspioniert
Wer könnte wenige Tage nach den Propagandaspielen von Peking unter Schirmherrschaft eines anderen Diktators, Xi Jinping, bei vollem Verstand behaupten, im Sport habe ein Umdenken eingesetzt, eine Zeitenwende? Es handelt sich keinesfalls um eine Richtungsänderung. Denn andere Sport-Schurkenstaaten, wie eben China, wie Katar, wie Saudi-Arabien, sind längst mit ihren Milliarden für Russland eingesprungen. Im Russland wurde genug kassiert, nun werden andere gemolken.
Mit ersten noch zaghaften Beschlüssen gegen Russland stieg für das IOC und seine Satelliten allerdings die Gefahr, von Putin in einer historisch einmaligen Art vorgeführt zu werden. Das Zauberwort heißt Kompromat, dieser aus dem Jargon des sowjetischen Geheimdienstes KGB stammende Begriff: kompromittierendes Material.
Putin und seine Oligarchen verfügen über genügend Wissen und Dokumente, um die olympische Welt auffliegen zu lassen. Nachweislich haben der Geheimdienst KGB und dessen Nachfolgeorganisation FSB über mehr als 50 Jahre die olympische Welt ausspioniert. Der Militärgeheimdienst GRU hat dies zuletzt auf die Spitze getrieben, etwa mit Hackerattacken auf das IOC, die Fifa, drei Dutzend andere Organisationen und die Organisationskomitees der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro, Pyeongchang und Tokio. Es gibt nur eine Person, bei der alle Fäden der russischen Sportpolitik zusammenliefen, es gibt nur eine Person, die mit den Fingern schnipste und damit Dutzende Oligarchen in Bewegung setzte, die ihrerseits alles unternahmen, um Stimmen, Großereignisse und Olympische Spiele zu kaufen, Verbände und Funktionäre.
Diese Person heißt Wladimir Putin.
Deshalb ist die Angst in der olympischen Familie gewaltig.

