Porträt

„Die Amerikaner haben Afghanistan zu einem Pulverfass gemacht“

Maqboul Sidiqi lebt seit 2011 in Deutschland. Doch seine drei Schwestern und seine Mutter sind in Afghanistan. Jetzt will er sie außer Landes schaffen.

Der Afghane Maqboul Sidiqi ist seit 2011 in Berlin. Jetzt sorgt er sich um seine Familie in Afghanistan.
Der Afghane Maqboul Sidiqi ist seit 2011 in Berlin. Jetzt sorgt er sich um seine Familie in Afghanistan.Lena Giovanazzi

Berlin-Maqboul Sidiqi steht an der Boxhagener Straße in Friedrichshain an seinem Fahrrad und raucht eine Zigarette. Seine Augen sind glasig, sein Lächeln wirkt fast verschämt. Der gebürtige Afghane, der sich in der Flüchtlingshilfe in Treptow-Köpenick engagiert, ist seit 2011 in Deutschland. Seit zehn Jahren lebt er in einem Land, das ihm Schutz und Sicherheit gewährt. Doch die vergangenen Tage waren für Maqboul Sidiqi alles andere als ruhig. Sie waren von Panik und Angst geprägt. Die Ereignisse in Afghanistan lassen den 32-jährigen Mann nicht los. Ständig schaut er auf sein Handy und prüft, was in seinem Heimatland passiert. Er muss an seine Familie denken, die in Kabul lebt und seit Tagen das Haus nicht verlässt, seitdem Taliban-Kämpfer die Stadt erobert haben.

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„Ich denke vor allem an meine Schwester“, sagt Maqboul und nimmt einen Zug an seiner Zigarette. „Sie studiert im sechsten Semester Medizin. Sie hatte ein gutes Leben in Afghanistan. Das ist jetzt vorbei. Die brutale islamistische Rechtsprechung der Taliban erlaubt es den Soldaten, Frauen und Mädchen als Kriegsbeute zu betrachten und sexuell zu versklaven. Davor habe ich große Angst.“ Maqboul Sidiqi ist mit 14 Jahren aus dem Land geflohen. Trotzdem kann er sich gut an die Terrorherrschaft der Taliban erinnern, weiß, was passiert, wenn Islamisten das Land regieren. Er nennt sie Barbaren und macht sich über die Zukunft seines Landes keine Illusionen. „Viele Männer in Afghanistan werden schon klarkommen. Aber für die Frauen ist die Situation eine Katastrophe. Meine Schwester wird nicht mehr studieren dürfen. Und meine Mutter? Bisher hatte sie die Wahl, ob sie mit oder ohne Kopftuch auf die Straße geht. Ab jetzt wird sie eine Burka tragen müssen.“

Das, was den Mann umtreibt, ist die Sicherheitslage seiner Familie, die gemeinsam in einem Haus in Afghanistan lebt. Wie kann Maqboul seine Schwestern und seine Mutter sicher außer Landes bringen? Die Situation ist schwierig. Pässe stellen die Behörden nicht mehr aus. Eine legale Ausreise scheint aktuell aussichtslos zu sein. Trotzdem: Die einzige Chance auf ein normales Leben sei nur außerhalb der Landesgrenzen von Afghanistan möglich, daher will Maqboul alles dafür tun, um seine Familie in die Nachbarländer, in die Türkei, nach Pakistan oder, was am wahrscheinlichsten ist, in den Iran zu bringen. „Ich habe noch eine Schwester, die nicht bei meiner Mutter wohnt. Deren Mann hat als Sicherheitskraft für die amerikanische Botschaft gearbeitet. Die Amerikaner haben ihm und seiner Familie versprochen, dass sie sie aus Afghanistan holen. Aber wann und ob das wirklich passieren wird, weiß ich nicht.“

Flucht in den Iran, nach Pakistan oder Usbekistan

Für seine drei anderen Schwestern und seine Mutter will Maqboul auf eigene Faust eine Ausreise finanzieren – mithilfe einer Spendenaktion, die seine Kolleginnen und Kollegen vom Projekt „Integrationslots_innen für Treptow-Köpenick“ auf die Beine gestellt haben. „Viele benachbarte Länder haben, wie die westlichen Staaten, mittlerweile ihre Botschaften in Kabul geschlossen“, sagt Maqboul. „Die Preise für Ausreisevisa und Transportmöglichkeiten sind ins Unerschwingliche gestiegen. Ich arbeite in Deutschland und unterstütze meine Familie bereits seit Jahren, so gut ich kann“, fügt er hinzu. „Aber um fünf Familienmitglieder derzeit aus dem Land zu schaffen, reicht mein Verdienst bei weitem nicht.“

Deshalb ist Maqboul auf Spenden angewiesen. Sollte sich in den nächsten Wochen eine Gelegenheit für eine Ausreise ergeben, möchte er seiner Familie die finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, die für eine Flucht in den Iran, nach Pakistan, Usbekistan oder in andere benachbarte Staaten benötigt wird. Es geht um Pässe, Visa und Transportkosten. Jeder, der ihn unterstützen will, kann eine Website besuchen und mit einer Geldspende ihm und seiner Familie helfen (betterplace.me/hilfe-afghanistan). Maqboul will seine Unterstützer mit regelmäßigen Updates über ihr weiteres Schicksal informieren.

„Es gab Soldaten, die kämpfen wollten“

Wenn Maqboul auf die vergangenen Monate zurückblickt, dann packt ihn die blanke Wut. „Wir haben in Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren so viel erreicht. Mädchen dürfen die Schule besuchen, Frauen dürfen studieren. Dass die Deutschen und die Amerikaner jetzt einfach das Land verlassen haben und gar nicht darüber nachdenken, was weiter passieren wird, macht mich fassungslos. Wozu war das ganze Geld gut? Wozu haben wir so viele Menschenleben geopfert? Wozu das alles?“

Die Verantwortung der Amerikaner steht auf der einen Seite. Doch was ist mit den Afghanen? Wieso haben so viele Soldaten nicht gekämpft, sich nicht gegen die Taliban gewehrt? Maqboul hat einige Antworten darauf. Er ist überzeugt davon, dass die Amerikaner das Land falsch verwaltet hätten. Statt ein föderales System aufzubauen und alle ethnischen Gruppen an der Macht zu beteiligen, habe pure Korruption und ein zentralistisches System geherrscht. „Es gab einen Präsidenten, der die ganze Macht verwaltet hat“, sagt Maqboul. „Er hat darüber bestimmt, wer Minister und wer General wird. So wurde nur eine kleine Kaste an der Macht beteiligt.“

Viele führende Köpfe in Afghanistan wie Hamid Karzai seien von den Amerikanern installiert worden. Sie hätten keine spürbare Verbindung zum Land gehabt. Einige von ihnen hätten nicht einmal die Landessprache gesprochen. Diese Konzentration von Macht habe dem Land nicht gutgetan und zu Korruption geführt, sagt Maqboul. Die vielen ethnischen Minderheiten hätten sich etwa durch den Präsidenten Aschraf Ghani nicht repräsentiert gefühlt. Diese geringe Identifizierung mit der Führungsriege habe dazu geführt, dass die afghanischen Soldaten nicht bereit waren zu kämpfen. Außerdem sei ja in Doha, so Maqboul, zwischen der Trump-Regierung und den Taliban ein Friedensvertrag geschlossen worden. Maqboul geht davon aus, dass der schnelle Sieg der Taliban auch mit diesem Vertrag zu tun hat. „Es gab einige Soldaten, die kämpfen wollten. Doch die Generäle haben ihren Untergebenen befohlen, sich nicht zu wehren.“

Maqboul Sidiqi ist jetzt auf Spenden angewiesen, um seine Familie in Kabul nach Deutschland zu holen.<br>
Maqboul Sidiqi ist jetzt auf Spenden angewiesen, um seine Familie in Kabul nach Deutschland zu holen.
Lena Giovanazzi

Afghanistan als Pulverfass

Dem aktuellen Friedensversprechen der Taliban traut Maqboul nicht. Die Afghanen wüssten, wie die Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001 ausgesehen habe. Minderheiten wurden unterdrückt, Menschen anderer Glaubensrichtung wurden ermordet. „Unter den Taliban ist Afghanistan ein Gefängnis“, sagt Maqboul. Aus diesen Gründen war er auch froh, als die Amerikaner 2001 das Land besetzten. Der Einzug der Amerikaner wäre eine Chance gewesen, die Taliban zu besiegen und Frieden nach Afghanistan zu bringen. Doch stattdessen sei ein korruptes System aufgebaut worden.

Und wie geht es jetzt weiter? Was wird mit Afghanistan passieren? Maqboul ist sich sicher, dass es Proteste geben wird. Er schätzt, dass etwa 50 Prozent der Afghanen die Taliban unterstützen. Etwa die Hälfte der Menschen ist frustriert über die falschen Versprechungen der Amerikaner und über die 20 Jahre lang andauernde Korruption. Die enttäuschten Afghanen sehen jetzt die Taliban als Chance für eine bessere Zukunft, die Struktur und Ordnung ins Land bringen könnte. Doch die andere Hälfte hat Angst und wird kämpfen, sagt Maqboul. Was die Amerikaner und die Deutschen mit dem Abzug geschaffen haben, sei ein Pulverfass. Bevor dieses Pulverfass explodiert, will Maqboul dringend seine Familie außer Landes bringen.

Möchten Sie Maqboul Sidiqi helfen? Alle weiteren Infos zur Spendenaktion unter: https://www.betterplace.me/hilfe-afghanistan

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.