Kürzlich lief die Dokumentation „Silence Breakers“ im Kino an. Der Film dokumentiert die Arbeit der israelischen NGO „Breaking the Silence“. Sie besteht aus ehemaligen israelischen Soldatinnen und Soldaten, die durch das Sammeln persönlicher Berichte auf den militärischen Alltag in den besetzten Gebieten und den Umgang mit der palästinensischen Bevölkerung aufmerksam machen. Wir nahmen den Film zum Anlass, mit dem Direktor von Breaking the Silence, Avner Gvaryahu, zu sprechen. Gvaryahu besuchte uns Ende März im Berliner Verlag.
Berliner Zeitung: Israel erlebte in den letzten Tagen eine Welle tödlicher Terroranschläge. Wie ordnen Sie diese Ereignisse ein?
Wir sind untröstlich darüber was passiert. Aber auch erschrocken über diejenigen, die diesen Momente nutzen, um weiteren Hass in der Region zu schüren. Diese Tage sind eine wichtige Erinnerung daran, dass wir nicht nur das Privileg haben, sozusagen „den Konflikt zu verwalten“, sondern tatsächlich auch in den Frieden investieren müssen. Das muss mit der Beendigung der Besatzung beginnen.
Wer den Film „Silence Breakers“ gesehen hat, der kürzlich in Deutschland angelaufen ist, weiß: Breaking the Silence wird in ihrer täglichen Arbeit in Israel immer wieder angefeindet.
Avner Gvaryahu: Im Laufe der Jahre gab es sehr großen Widerstand. Das ist einer der Gründe, weswegen wir Deutschland besuchen. Wir treffen hier Journalisten und Politiker und versuchen, auf unsere Arbeit und unsere Inhalte aufmerksam zu machen.
Sie haben 2012 eine Ausstellung in Berlin im Willi-Brandt-Center organisiert.
Ja, ich fürchte, heute könnte die Ausstellung in dieser Form nicht stattfinden.
Wieso?
Dies hängt mit der Stimmung rund um die deutsche BDS-Resolution zusammen. [2019 verabschiedete der Bundestag eine Resolution, welche die israelkritische Boykottbewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) als antisemitisch motiviert einstufte und ihre finanzielle Förderung durch Bundesmittel verbot, Anm. d. R.] Was wir hier in Deutschland sehen, ist das Ergebnis eines Prozesses, den wir in Israel seit Jahren kennen. Der Druck auf die israelische und palästinensische Zivilgesellschaft geht in dieselbe Richtung. Jede Art von Kritik an der israelischen Besatzung wird dort als nicht legitim abgetan. In Israel gilt man dann schnell als Landesverräter. Hier in Deutschland sagt man schnell: Kritik ist Antisemitismus.
Wie kommt es, dass Ihre Arbeit so sehr in den Mittelpunkt der Kritik gerückt ist?
Ich kann das nicht verstehen. Breaking the Silence wurde von einer Gruppe ehemaliger Soldaten gegründet, die in Hebron gedient haben. Ich habe gedient, unser ganzes Team besteht aus ehemaligen Soldaten oder Offizieren. Im Grunde sind wir der Inbegriff des zionistischen Traums. Menschen, die ihr Leben für dieses Land riskierten. Durch unsere Erfahrungen haben wir verstanden, dass wir nicht nur Teil des Problems der Besatzung waren. Sondern auch, wie wichtig es ist, darüber zu sprechen. In diesem Sinne ist, was wir tun, eigentlich nur das, was man von einer liberalen Demokratie erwarten würde.
Was erwarten Sie sich von der israelischen und der deutschen Öffentlichkeit?
Das Mindeste, was man tun kann, ist zuhören. Ein Teil der israelischen und deutschen Gesellschaft versucht, jegliche Kritik zum Schweigen zu bringen. Als Breaking the Silence 2004 gegründet wurde, konnte man in Israel zwar nicht über alles offen sprechen, aber die israelische Gesellschaft sprach dennoch viel offener als heute. Was wir in den letzten Jahren mit Netanjahu beobachten konnten, ist einer der größten Erfolge der Rechten in Israel: politische Macht und das Aufrechterhalten der Kontrolle über die Palästinenser. Um das zu erreichen, müssen sie jede Art von Dissens zensieren. Wir beobachten in den letzten Jahren einen orchestrierten Angriff von Netanjahu und Akteuren aus seinem Umfeld. Der prägt auch die Diskussionen in Deutschland stark.
Inwiefern?
Es gibt Gruppen, die sich um Netanjahu gebildet haben, wie etwa „NGO-Monitor“, die seinen Verbündeten nahestehen. Diese Gruppe ist heute eins der wichtigsten Instrumente gegen internationale NGO’s. NGO-Monitor ist auch in Deutschland sehr aktiv. Obwohl sie keine Regierungsorganisation sind, werden ihre Berichte von israelischen Beamten erstellt.
Dass Israel im Herbst letzten Jahres sechs palästinensische NGO’s als „terroristisch“ einstufte, hing damit zusammen?
Definitiv. NGO-Monitor sehen sie als einen ihrer größten Erfolge an. Die Energie, die in den Versuch gesteckt wurde, Stimmen wie unsere zum Schweigen zu bringen, hat in Israel zugenommen. Wir versuchen natürlich, dagegen anzukämpfen. Und ich glaube, dass uns das in dieser neuen Regierung jetzt besser gelingt als in der letzten. Aber es hat dennoch Auswirkungen auf die Weise, wie die internationale Gemeinschaft über Israel spricht. In Deutschland gilt das besonders.
Was ist Ihr persönlicher Antrieb für Ihre Arbeit als Direktor von Breaking the Silence?
Ich glaube, dass es keinen größeren patriotischen Akt gibt als das, was wir bei Breaking the Silence tun. Ich meine das gar nicht zynisch. Junge Israelis, die gewalttätige Erfahrungen gemacht haben, verstehen, dass sie Verantwortung tragen. Sie waren Teil dieser Gewalt.
Was meinen Sie konkret?
Wir haben zum Beispiel kürzlich einen Bericht veröffentlicht, wo es um Hausdurchsuchungen in palästinensischen Häusern geht. Zusammen mit zwei Kollegen von „Physicians for Human Rights“ haben wir in unserem Team Gespräche über diesen Bericht geführt. Es gibt fast niemand in unserem Team, der nicht an solchen Hausdurchsuchungen beteiligt war. Wenn man die Aussagen von Palästinensern liest, wird klar, was für Narben solche Aktionen hinterlassen. Wenn die internationale Gemeinschaft oder Teile der deutschen Gesellschaft die rechtsextremen Argumente der israelischen Rechten einfach unkritisch übernehmen, tragen sie dazu bei, gefährliche Elemente unserer Gesellschaft zu stärken. Es lähmt unsere Fähigkeit, für ein besseres Israel zu kämpfen. Es bedeutet, dass wir gefährlichen Tendenzen nachgeben.

Sie erwähnten Israels neue Regierung. Was hat sich seit Netanjahus Amtsabtritt verändert?
Man sieht jetzt Öffnungen. Politiker von Meretz und der Arbeiterpartei begleiten uns inzwischen auf unsere Touren. Kurz vor der letzten Wahl haben wir die gesamte Meretz-Partei mitgenommen. Die neue Regierung ist nicht meine Traumregierung. Und sie wird die Besatzung sicherlich nicht beenden. Aber sie erlaubt, offenere Gespräche zu führen.
Sie haben damit mehr Spielraum, Einfluss zu nehmen?
Ganz genau. Zwar ist es nicht so, als stünde ein Stopp des Siedlungsbaus in Aussicht. Auch der Abriss palästinensischer Häuser wird nicht gestoppt. Wir sehen sogar einen Anstieg der Siedlergewalt. Siedler agieren momentan noch viel unverblümter, weil ihre politische Führung jetzt in der Opposition ist. All das ist unter der neuen Regierung also extremer geworden. Die Besatzung hat sich verfestigt und die de-facto-Annexion wird fortgesetzt. Gleichzeitig aber sehen wir, dass diese merkwürdige Koalition Möglichkeiten bietet, Gespräche über diese Probleme wenigstens auf den Tisch zu bringen.
Vor kurzem veröffentliche Amnesty International einen Bericht, der Israel Apartheid vorwarf. In der deutschen Öffentlichkeit wurde er von vielen leichtfertig als antisemitisch abgetan. Inwiefern beeinflusst das Ihre Arbeit?
Ich finde es hochinteressant. In diesen Wochen lesen wir zahlreiche Berichte von Amnesty über Menschenrechtsverletzungen, die Russland in der Ukraine begeht; und plötzlich gilt Amnesty als glaubwürdig. Aber dieselben Leute, die diese Berichte schreiben, sollen nicht glaubwürdig sein, wenn es um Israel geht? Das ist absurd. Unser Auftrag bei Breaking the Silence ist klar. Wir sammeln Zeugenaussagen von Soldaten aus den besetzten Gebieten. Insofern sind wir auf das beschränkt, was in den besetzten Gebieten passiert. Gilt die Realität, die viele Apartheid nennen, nur dort – oder auch innerhalb Israels anerkannter Grenzen? Dieses Gespräch will unsere Regierung nicht führen. Ihr Argument ist: Jede Behauptung von Apartheid, egal wo, sei antisemitisch und illegitim.
Für wie kontrovers halten Sie die Frage nach Apartheid?
Führende Persönlichkeiten israelischer Politik wie die ehemaligen Premierminister Ehud Barak und Ehud Olmert, die ehemalige Außen- und Justizministerin Tzipi Livni oder der ehemalige Geheimdienstchef Ami Ayalon sagen seit langem: Wenn wir nichts Drastisches tun, haben wir Apartheid. Ich stimme nicht unbedingt zu, dass es in ganz Israel Apartheid gibt. Aber dass sie in den besetzten Gebieten vorherrscht, daran kann kein Zweifel bestehen. Das wird von niemandem noch ernsthaft in Frage gestellt.
Woran machen Sie das fest?
Stellen Sie sich ein israelisches Kind eines Siedlers vor, das in Hebron im Westjordanland lebt, und ein palästinensisches Kind, das ebenfalls dort lebt. Wenn beide dasselbe Verbrechen begehen – zum Beispiel werfen sie einen Stein auf einen Soldaten –, dann würden sie von unterschiedlichen Justizsystemen belangt. Das israelische Kind fällt unter die zivile Rechtsprechung, das palästinensische unter die militärische. Es gibt zwei getrennte Systeme, die Palästinenser eindeutig diskriminieren. Man muss nicht „Apartheid“ sagen. Man kann es nennen, wie man will. Aber es ist klar, dass die gesetzlich festgeschriebene, ethnische Ungleichbehandlung sich verfestigt. Das gilt nicht nur für Steinewerfen, sondern auch für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, für die Errichtung von Gebäuden und so weiter.
Wer heute israelische Medien konsumiert, kann das Gefühl bekommen, dass in Israel niemand mehr wirklich an die Zwei-Staaten-Lösung glaubt. Glauben Sie noch daran?
Ich persönlich bin Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung. Unser Problem war aber noch nie ein Mangel an Lösungen. Eher fehlender politischer Wille, sie umzusetzen. Die israelische Führung will keine Lösungen. Es geht darum, den Status quo beizubehalten und die Besatzung aufrechtzuerhalten. Das heißt nicht notwendigerweise Annexion, aber eine Realität der Ungleichheit mit hohem Preis: palästinensische Todesopfer, israelische Gelegenheitsopfer.
Inzwischen wird immer öfter über eine binationale Ein-Staaten-Lösung diskutiert.
Ich denke, eine Ein-Staaten-Lösung ist unrealistisch. Sehen Sie: Was in diesen theoretischen Diskussionen verloren geht, ist die alltägliche Realität, die Millionen Menschen schadet. Die Siedlungen erzeugen Wellen der Gewalt. Communitys von israelischen Siedlern sind im Westjordanland von speziellen Sicherheitszonen umgeben, die Palästinensern den Zugang zu ihrem Land verwehren. Das Militär übt zudem proaktiv Kontrolle aus, nach dem Motto: „Angriff ist die beste Verteidigung“. Langsam, aber sicher dehnen die Siedlungen sich immer weiter aus. Das setzt sich fort und drängt Palästinenser in städtische Gebiete. Palästinenser werden in eine Art „Bantustans“ gedrängt. Sprich, in eng zusammenhängende Wohngebiete. Das verschärft die Realität vor Ort. Insofern hat die Diskussion über einen Bündnisstaat zwischen Israel und Palästina momentan leider keinen großen Einfluss auf die Realität.
Breaking the Silence besteht, wie Sie erwähnten, aus ehemaligen Soldatinnen und Soldaten. Sprechen Sie mit diesen jungen Menschen, bevor sie den Militärdienst antreten?
Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, Gruppen zu treffen, die kurz vor dem Militärdienst stehen. Das sind immer sehr interessante Begegnungen. Wir hatten Leute, die uns vor ihrem Armeedienst kennengelernt haben und uns gegenüber sehr kritisch waren. Während ihres Dienstes haben sie genau das gesehen, wovon wir erzählt haben, und kamen dann zu uns.
Arbeiten Sie mit palästinensischen Organisationen vor Ort zusammen?
In den ländlichen Gebieten nahe Hebron gibt es Communitys, die seit Hunderten von Jahren hier leben. Sie erhalten von Israel, im Gegensatz zu den anliegenden Siedlungen, keine Genehmigungen für den Anschluss an das Wasser- oder Stromnetz, Häuser- oder Straßenbau. Es gibt da ein kleines Dorf in diesem Gebiet, das Dorf Thabani. Dies ist eine der wenigen Gemeinden, die tatsächlich eine Baugenehmigung erhalten haben. Es handelt sich um eine kleine, mutige Gruppe von Menschen, die sich gewaltfrei organisiert und die Realität dokumentiert. Wir sind oft vor Ort und haben seit Jahren Verbindungen zu solchen Communitys, auch innerhalb Hebrons. Wir versuchen, das Bewusstsein zu schärfen und bringen israelische und internationale Gruppen dazu, diese Communitys zu treffen. Erst gestern Nacht ist eine Gruppe von etwa 15 Soldaten in das erwähnte Dorf eingedrungen, um „Präsenz zu zeigen“, sprich der Gemeinde das Gefühl zu geben, dass sie verfolgt wird. Warum das Militär sie schikaniert? Weil sie die „Dreistigkeit“ besitzen, gewaltfreien Widerstand zu leisten. Palästinenser werden so in eine gefährliche Ecke gedrängt. Es ist gefährlich für sie, aber genauso sehr für uns.
Wer sind Ihre Partnerorganisationen in Israel?
Beispielsweise Physicians for Human Rights, Yesh Din, B’Tselem, Peace Now und Combatants for Peace.
Was erwarten Sie für Israels nahe Zukunft?
Das erste Mal in der Geschichte ist heute eine arabische Partei in der Koalition vertreten. Das hätte zum jetzigen Zeitpunkt so niemand für möglich gehalten. Andererseits haben wir in der jetzigen Regierung einen Rechtsextremisten wie Itamar Ben’Gvir legitimiert. Yair Lapid hat unsere Organisation in der Vergangenheit öfter angegriffen. Derzeit sieht er sich als Führer der linksliberalen Mitte. So wird alles momentan von gegensätzlichen Energien zusammengehalten. Ich würde mein Geld darauf setzen, dass die nächste Regierung eine Mitte-Rechts-Regierung sein wird. Das wird die progressiven Aspekte zurückdrängen, die wir jetzt sehen. Und all die korrupten Elemente zurückbringen, die wir in der Vergangenheit gesehen haben.
Sie sind kein Optimist.
Ich bin ein Realist. Wir haben jetzt ein paar Jahre Zeit, zu sagen: Okay, Netanjahu ist raus. Wir haben Meretz und Labor in einer Koalition. Lasst uns diesen Moment nutzen, um eine wichtige politische Diskussion wiederzubeleben. Auch in Deutschland.
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