Berlin-Der 9. Mai 2017 war ein trüber, grauer Tag in Moskau. Ein kalter Nieselregen fiel den ganzen Tag über der Stadt. Zum ersten Mal seit der Einführung der Luftshows bei den Paraden zum Tag des Sieges musste dieser Teil wegen schlechten Wetters abgesagt werden. Aber für mich und meine Freundinnen, vier Russistik-Studentinnen Anfang 20, die ein Auslandsjahr in Sankt Petersburg verbrachten, waren Aufregung und Vorfreude trotzdem groß.
Wir hatten eine Woche frei von der Uni, und uns war sofort klar gewesen, dass wir zum Tag des Sieges nach Moskau reisen wollten, um dort die Feierlichkeiten mitzuerleben. Wir wollten den berühmt-berüchtigten 9. Mai zumindest einmal hautnah erlebt haben. Schon an unserer Uni in England war dieser Feiertag mehrmals Thema tiefer Analyse gewesen, an ihm könne man viel Interessantes über Putins Russland lernen, hieß es immer.
Außerdem war der Tag des Sieges einfach eine dieser Kuriositäten, auf die man in einem Auslandsjahr stößt. Die Art und Weise, wie dieser Tag in Russland gefeiert wurde, war uns einerseits total fremd – aber auch irgendwie spannend und faszinierend.
Militärparade im Public Viewing
Bereits im Zug aus Sankt Petersburg lasen wir im Bordmagazin Tipps für die besten Public Viewings in Moskau, um die Parade zum Tag des Sieges zu sehen. Wir entschieden uns für das Museum des Großen Vaterländischen Krieges (wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird), weil es in der Nähe der Wohnung lag, die wir über Airbnb gemietet hatten.
Das Public Viewing lieferte, was wir in unserer Vorfreude erhofft hatten. Wir schauten zu, wie 14.000 Soldaten über den Roten Platz marschierten und mit zermürbender Koordination wiederholt „ura“ riefen (Hurra), um den „großen Sieg“ ihrer Vorfahrern zu feiern. Dann kamen die schweren Militärfahrzeuge, die Panzer.
In der Live-Fernsehübertragung beschrieb ein Moderator die Macht dieser Waffen und den Schaden, den sie anrichten konnten. Wow, dachten meine Freundinnen und ich: Das sind genau die Bilder vom sowjetischen „Reichs des Bösen“, vor dem unsere Eltern in den 80er-Jahren so viel Angst hatten.
Aber jetzt gibt es doch ein anderes Russland, oder? Am Abend zuvor hatten wir in einem veganen Hipster-Restaurant um die Ecke des Bolschoi-Theaters gegessen, in dem es die Speisekarte auch auf Englisch gab.
Dann kam Putins Rede. Dieser Teil des 9. Mai wird von 15 Millionen Russen im Fernsehen verfolgt – ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung sehen zu. Die Rede handelt nicht nur von der Erinnerung an die Opfer des Krieges, sondern auch von Aktuellem.
Putins Rede und ein ungutes Gefühl
Während er schniefend gegen den Nieselregen kämpfte, begann Putin seine Rede. Sie enthielt alle Elemente, die man von ihm bei so einer Ansprache erwarten würde: Er würdigte die Veteranen, deren Opfer Russland vor der existenziellen Bedrohung durch die Nazis geschützt hatte. Ihr Leiden werde nie vergessen und neue Generationen inspirieren. So weit, so typisch Putin, so typisch 9. Mai. Aber eine Passage fiel mir auf.
„Die Lehren aus dem vergangenen Krieg mahnen uns zur Wachsamkeit“, sagte Putin. „Und die russischen Streitkräfte sind bereit, jeder potenziellen Aggression zu begegnen. Das Leben selbst verlangt von uns, dass wir unser Verteidigungspotenzial erhöhen müssen.“ Sofort lösten seine Worte in mir ein ungutes Gefühl aus.
Es kam mir seltsam vor, so etwas zu sagen, nachdem er das Opfer von Millionen sowjetischen Soldaten und Zivilisten gewürdigt hatte. 2017 war mir auch nicht klar, welche Bedrohungen Russland, das größte Land der Welt mit der zweitgrößten Armee, so sehr beunruhigen könnten.
In der letzten Zeit musste ich oft an diese Sätze denken. Ich kann sie nur noch als Drohung empfinden – und es ist klar geworden, an wen diese gerichtet war. Mich beunruhigt, dass ich so lange gebraucht habe, um zu erkennen, wie ernst sie gemeint war, wie sie wiederholt und verschärft wurde, so dass jetzt 71 Prozent der Russen, von denen viele Familie in der Ukraine haben, den brutalen Krieg ihres Landes dort unterstützen.
Nach dem Public Viewing kehrten wir ins Stadtzentrum zurück, jetzt wollten wir der Parade des unsterblichen Regiments zuschauen. Bei dieser Parade laufen normale Russen mit Porträts ihrer Vorfahren, die im Krieg gedient haben, durch die Straße.
Es ist eine relativ neue Inszenierung. Sie findet erst seit 2014 regelmäßig und mit offizieller Billigung statt – seit der Annexion der Krim und der Eskalation der russischen Unterstützung für Separatisten in der Ost-Ukraine. Normalerweise empfinde ich extreme Ausprägungen von Patriotismus als unangenehm. Um damit umzugehen, suchte ich nach Dingen, die ich positiv wahrnehmen konnte – zum Beispiel, dass die Mitmarschierenden keine Pro-Putin-Fahnen trugen, sondern nur die Porträts ihrer gefallenen Vorfahren.
Eine amerikanische Flagge in Moskau
Dann entdeckte ich in der Menge eine amerikanische Flagge. Die Schilder, die an ihrem Mast befestigt waren, würdigten die Kameradschaft und Solidarität zwischen sowjetischen und amerikanischen Soldaten während des Krieges. „Mögen wir heute dieselbe Freundschaft wieder aufleben lassen“, stand darauf.
Auch daran danke ich heute oft. Ein Teil von mir will immer noch nicht glauben, dass so viele Russen, die mich in meinem Auslandsjahr so warm begrüßt haben und zu meinen Freunden geworden sind, den Krieg unterstützen, der sich jetzt gegen meine Freunde in der Ukraine richtet.
Wenn ich an den 9. Mai im Jahr 2017 denke, entstehen aus meinen Erinnerungen Bilder zweier verschiedener Russlands, die für mich immer noch schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Nach der Parade des unsterblichen Regiments gingen wir kurz zu McDonald’s, Kaffee holen. Auf der Straße spielten rauschende Aufnahmen sowjetischer Kriegslieder, vor allem das berühmte „Katjuscha“.
Vor einem Monat hörte ich, wie das Lied von Teilnehmenden des pro-russischen Autokorsos in Berlin gesungen wurde, die das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park besuchten. Obwohl diese Aktion doch gar nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hatte, wie der Organisator mir gegenüber später in einem Interview behauptete.




