Berlin-Anja Reich und Alexander Osang sind beide Journalisten, außerdem sind sie ein Paar. Am 11. September 2001 lebten sie mit ihren Kindern seit zwei Jahren in New York. Ein ganz normaler Septembermorgen, der von einer Unglücksmeldung aus Manhattan unterbrochen wurde. Alexander Osang, Reporter für den Spiegel, eilte zu den Türmen des World Trade Center, fand sich bald in der Rauchwolke der einstürzenden Gebäude wieder. Anja Reich blieb bei den Kindern in Brooklyn. Bald konnten sie einander nicht mehr erreichen. Erst zehn Jahre später haben sie einander erzählt, wie sie diesen Tag erlebt haben, ein Buch geschrieben über ihre parallel ablaufenden Erlebnisse, über diesen Tag.
Dieses Buch haben sie jetzt als Hörbuch eingelesen. Der Podcast „Wo warst Du? 9/11 – Ein Paar, zwei Erzählungen“, eine Produktion von Berliner Zeitung, Der Spiegel und Radioeins, läuft ab Montag, 6. September 2021, auf der Website der Berliner Zeitung, www.berliner-zeitung.de und allen Podcast-Portalen.
Wir haben Anja Reich und Alexander Osang in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg getroffen, um über ihre Erlebnisse vom 11. September 2001, das gemeinsame Schreiben und den Podcast zu sprechen. Weil wir Kollegen sind, duzen wir uns. Auf dem Tisch liegt neben den Kaffeetassen die Originalausgabe der New York Times vom 12. September 2001 mit der Schlagzeile: „US Attacked“.
Woran denkt ihr als Erstes, wenn ihr das Datum hört, 11. September? Was seht ihr?
ANJA REICH: Bei mir sind es die Bilder aus Brooklyn, von der 7th Avenue, die ich immer langgegangen bin, um unseren Sohn Ferdinand abzuholen. Auch an diesem Tag.
ALEXANDER OSANG: Es hängt so ein bisschen von meiner Stimmung ab. Als Hypochonder denke ich an meine Lungen, an die Sachen, die ich an diesem Tag eingeatmet habe. Aber ich hab gerade in den letzten Tagen natürlich auch an Afghanistan gedacht, an das, was der Tag auch dort ausgelöst hat. Da sind ja inzwischen so viele Schichten drauf. Als wir vor ein paar Wochen unser Buch über den Tag eingelesen haben, kam viel von den ursprünglichen Gefühlen hoch. Und auch die waren schon sehr komplex. Ich hatte diese Reportergefühle, du darfst nicht zu spät kommen. Die Panik zu spät zu kommen, die war bei mir zunächst viel, viel stärker als die Angst vor dem, was passieren kann.

REICH: Wir haben direkt danach so viel über den Tag und die Folgen geschrieben. Der Tag selbst hat sich von uns, also von mir zumindest, entfernt. Da war diese Feuerwache bei uns in Brooklyn, aus dem Team sind 15 Männer gestorben. Ich bin auf einen Truck gesprungen, um mit zur Beerdigung zu fahren. Dort waren Särge aufgebahrt, in manchen lag nur ein Finger, weil man sonst nichts mehr von den Menschen gefunden hat. Frauen hatten ihre Männer verloren, andere Leute hatten Freunde verloren, Kollegen. Diese Schicksale waren so viel schlimmer.

Erst Jahre später erzählen sie einander, was sie am Tag des Terrors erlebt haben. Daraus wird ein Buch, das es nun als Hörbuch gibt, gelesen von den Autoren: 9/11 – Ein Paar, zwei Erzählungen. Sechs Folgen - ab 6. September 2021 auf allen Podcast-Portalen und auf www.berliner-zeitung.de/podcast
Eine Produktion von Berliner Zeitung, Der Spiegel und Radioeins.
Vom eigenen 11. September zu erzählen, schien zu klein?
REICH: Der Tag gehörte zu meinem Leben, er war immer da, aber ich habe das nicht richtig an mich herangelassen. Bis wir fast zehn Jahre später das Buch geschrieben haben.
Bis dahin habt ihr auch miteinander nicht viel über den Tag geredet, euch nicht alles erzählt, was ihr erlebt und gedacht habt. Warum nicht?
OSANG: Am Abend des 11. September hat mein Redakteur vom Spiegel angerufen und gesagt: Das hört jetzt für ein halbes Jahr nicht auf, wir machen jetzt jede Woche was dazu. Und ich war schon so müde. Es passierte das, was Anja eben beschrieben hat. Arbeit. Erst mal alles aufschreiben. Wir haben beim Spiegel gleich ein Buch gemacht, in dem wir den Tag rekonstruiert haben. Das war sicher eine Art, es zu verarbeiten. Und das hat es auch weggezogen vom Privaten.
Hinein in die Weltgeschichte.
OSANG: Als der Spiegel nach den Anschlägen erschien, stand auf dem Titel „Krieg im 21. Jahrhundert“, glaube ich. Mir ist mein eigenes Erleben unter den Füßen weggezogen und in gigantische Zusammenhänge gerückt worden. Es hat mich später auch eine wahnsinnige Überwindung gekostet, das Buch mit Anja zu schreiben. Zurückzugehen ins Private. Man hat immer das Gefühl, man muss sich in ein Verhältnis zu diesen riesigen historischen Ereignissen begeben.
Direkt nach den Anschlägen habt ihr einfach weitergemacht?
OSANG: Wir hatten eine Art posttraumatischen Stress. Ich bekam unfassbare Flugangst, Anja auch, wir hatten Angst in der Subway, in Tunneln.
REICH: Ich habe die Evakuierungspläne der Subway auswendig gelernt, wie man da rauskommt, wenn es einen Giftgasanschlag gibt. Eine Freundin von uns hat sich damit auch sehr intensiv beschäftigt und mir das alles genau beschrieben. Aber es musste ja irgendwie weitergehen. Rudy Giuliani, der Bürgermeister, hat schnell gesagt: Wir lassen uns unser Leben nicht kaputt machen. Wir leben unser Leben weiter. Das habe ich gemacht.

Habt ihr darüber nachgedacht, die Stadt zu verlassen?
REICH: Kurz, ganz am Anfang. Weil alle anderen weggehen wollten.
OSANG: Ich war am 11. September mittags bei einem Kollegen vom Spiegel, der war ziemlich panisch. Der sagte: Wir müssen weg, die Kinder, wir müssen raus. Ich hab das, glaube ich, nie gedacht.
REICH: Die Frau von Jan Fleischhauer, der damals auch für den Spiegel in New York war, aber außerhalb der Stadt lebte, hat gleich geschrieben, kommt doch zu uns. Aber wir haben abends schon gemerkt, als wir Gin Tonic bei den Armstrongs, unseren Nachbarn, getrunken hatten, dass dieser Tag auch ein Neuanfang für uns war in New York. Ich hatte mich bis dahin als Gast gefühlt. Alle waren total nett zu uns, wir kannten eine Menge Leute. Aber jetzt hatten wir etwas mit anderen gemeinsam. Es hat uns verbunden mit den anderen New Yorkern. Die Stadt war mir viel näher.

Schon am Abend war klar, dass ihr bleibt.
OSANG: Etwas später gab es diese Anthrax-Anschläge, die Milzbrand-Bakterien in Briefumschlägen. Ich habe in der Zeit einen Brief ohne Absender und mit so krakeliger Anschrift bekommen. Wir haben die Polizei gerufen. Es kamen zwei oder drei Polizeiautos. Die Cops haben den Brief auf unserer Terrasse draußen aufgemacht, aber der Brief war war dann nur von meinem Lektor beim Fischer-Verlag. Herrn Hosemann. Es gab diese Momente, in der U-Bahn, in denen ich dachte, warum hat der so einen dicken Mantel an, der jagt sich doch gleich in die Luft. Aber eigentlich hatte auch ich das Gefühl, ich bin jetzt New Yorker geworden. Das war auch eine Erlösung. Endlich dazuzugehören.
Damals habt ihr seit zwei Jahren in New York gelebt.
REICH: Ich habe Mails bekommen von einer Regionalzeitung, für die ich eine Kolumne geschrieben habe, für die sie unfassbar wenig bezahlt haben, mit der Begründung: New York ist nicht interessant genug. Das haben wir anfangs oft gehört. Und nun war New York plötzlich interessant. Journalistisch ging es nach dem 11. September richtig los für mich.
Warum wolltet ihr 1999 unbedingt nach New York?
REICH: Alex wollte unbedingt hin, es war sein Kindheitstraum. Und ich habe gesagt, na ja, mal was anderes. Hier war gerade große Aufregung, weil die Bundesregierung von Bonn nach Berlin gezogen war. Berlin wurde gerade so langweilig.
OSANG: Da kamen diese ganzen westdeutschen Journalisten mit der Regierung aus Bonn und haben die Stadt noch mal für sich entdeckt und die ganzen Geschichten, die wir schon geschrieben hatten, noch mal geschrieben. Da fühlt man sich schnell überflüssig und schlecht gelaunt. New York war meine absolute Traumstadt. Ich hatte eigentlich hinter der Mauer so was wie New York erwartet.
Am 11. September verlässt Alexander als Reporter das Haus, Anja bleibt bei den Kindern. Dann fällt der erste Turm. Anja sieht das im Fernsehen, Alexander auf der Brücke nach Manhattan. Der Moment des Schreckens. Wie oft denkt ihr daran?
REICH: Das ist ein Moment, an den man gar nicht ständig denken kann. Es ist wirklich der schlimmste Moment. Weil man ahnt, dass jetzt Tausende Menschen sterben.
OSANG: Es ist furchtbar. Ich dachte, ich sehe Tausende Menschen sterben. Und gleichzeitig habe ich gedacht: Das ist historisch. Du bist jetzt hier, du stehst auf dieser Brücke und das ist ein historischer Moment. Ich war mir am Ende selbst ein bisschen fremd, aber das ist, was ich gedacht habe. Ich hatte keine Angst, nichts, es war, als ob die Zeit stehen bleibt. Alle Leute guckten da hin, die mit mir auf der Brücke standen. Und dann rannten die natürlich alle weg, in die andere Richtung, weg davon.
Du bist nicht weggelaufen.
OSANG: Ich nicht, nein, eben. Ich wollte dichter ran. Es war auch ein gewisses euphorisches Entdeckergefühl. Es ist schwer, darüber zu sprechen.
REICH: Es ist das, was man als Reporter macht.
Wärst du, Anja, zu den einstürzenden Türmen gelaufen, wenn du auf der Brücke gewesen wärst?
REICH: Ich hätte genauso wenig gedacht, dass der zweite Turm auch zusammenstürzt. Ich glaube, wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich es eher gemacht als mit Alex. Weil er immer ein bisschen wagemutiger ist und ich dann versuche, ihn zurückzuhalten. Man glaubt ja nicht, dass man stirbt.
OSANG: Außer einmal, später, als wir als Korrespondenten in Israel lebten. Da hat Anja zu mir gesagt: Mach mal hinne, ich will hier nicht sterben.
REICH: In der Stadt Aschkelon, wir waren in einem Haus von einem Mann, der bei einem palästinensischen Raketenangriff gestorben war, in der Nacht zuvor. Plötzlich ging es wieder los. Der Schutzraum war die Speisekammer, da mussten wir immer wieder rein. Dann haben wir versucht, ins Auto unserer Delegation zu kommen, einen Kleinbus. Wir sind immer hin- und hergerannt.
OSANG: Wir haben nur noch die Sirenen und die Einschläge gehört.
Diese Bedrohung in Israel fühlte sich echter an?
OSANG: Jetzt, als ich das Buch eingelesen habe, habe ich mich verletzlicher auf der Brücke in New York gefühlt als damals. So eine Brücke ist natürlich ein Ziel für einen Anschlag, aber daran habe ich damals nicht gedacht.
REICH: Als Alex losgegangen ist, hieß es doch noch, das war ein Sportflugzeug.
OSANG: Ich hab die ganze Zeit nicht gewusst, was da eigentlich los ist. Die Verbindung brach schon so ein bisschen weg. Ich hab noch mit dem Spiegel in Hamburg telefoniert, man merkte die Aufregung der anderen, aber ich hab gar nicht richtig zugehört. Die Kategorie Krieg, die passte für mich gar nicht.
Als am 11. September der zweite Turm fällt, gerät Alexander in die Aschewolke, irrt durch eine Seitengasse, rettet sich in einen Keller, in den auch andere Menschen gehen. Das klingt nach Krieg.

OSANG: In dem Moment habe ich nicht an Krieg gedacht, ich habe an einen Brand gedacht, dass ich irgendetwas einatme, an eine Rauchvergiftung. Unten in dem Kellerraum gab es ein Radio, da haben sie etwas vom Pentagon erzählt, von einer anderen Maschine, dem Weißen Haus. Ich hatte überhaupt keinen Überblick, keine Einordnung. Du bist dicht dran an der Katastrophe, aber du verstehst eigentlich überhaupt nichts.
Hat es sich vor dem Fernseher in Brooklyn wie Krieg angefühlt, Anja?
REICH: Meine Nachbarin Phyllis Chesler hat zu mir gesagt, als ich die Mülltonnen reingestellt habe: Was sagen die Deutschen, gibt es Krieg? Mir war das fremd, ich konnte mir keinen Krieg vorstellen. Zwischendrin, als eine Meldung nach der nächsten über die Anschläge kam, dachte ich, wir müssen hier weg, wo steht das Auto? Alex hat das Auto irgendwo hingestellt und ich kann ihn nicht erreichen, wie komme ich hier raus? Aber irgendwann hörten die Anschläge auf. Ein paar Wochen später ist ja dann noch mal ein Flugzeug in New York abgestürzt.
OSANG: Da fing die Flugangst an.
Ist diese Angst nach 20 Jahren wieder weg?
REICH: Wir waren neulich essen mit den Kindern und einer Freundin der Kinder, die damals in unserem Hof in Brooklyn gewohnt hat. Wir haben uns unsere Flugangstgeschichten erzählt.
Habt ihr alle Angst vor Terror in Flugzeugen?
REICH: Die Angst ist nicht konkret, aber sie ist da. Bei unserem Sohn ist es in Europa besser, bei mir auch.
OSANG: In den ersten Wochen nach dem 11. September hatte ich Panik in Kinos, in Theatern, dann bin ich zur WM nach Japan geflogen. Der Mann, der neben mir saß, war auf dem Klo und ist ewig nicht wiedergekommen. Da bin ich zur Flugbegleiterin gegangen und habe ihn angeschwärzt. Der arme Mann hatte eine Magenverstimmung oder so. Bei einem anderen Langstreckenflug haben die Piloten die Tür aufgelassen, ich habe die immer auf und zu gehen sehen. Ich hätte sie am liebsten selbst verriegelt.
REICH: Ich buche unsere Flugtickets. Immer Gangsitze. Um das Gefühl zu haben, irgendwas machen zu können, nicht ausgeliefert zu sein. Wir sitzen immer auf beiden Seiten des Gangs.
OSANG: So, dass wir einander noch festhalten können über den Gang.
Wann habt ihr angefangen, euch doch zu erzählen, was ihr am 11. September erlebt habt, und sogar ein Buch darüber zu schreiben?
REICH: Wir waren bei einem Abendessen. Jahre später, da haben wir schon lange wieder in Berlin gelebt. Die Gastgeberin stößt gern Gesprächsthemen für die ganze Runde an. Sie hat gesagt: Alexander war ja damals am 11. September in New York.
OSANG: Sie mag es, wenn die Gäste ihre besten Geschichten erzählen.
REICH: Alex hat seine Geschichte erzählt, und ein Schauspieler, der auch da war, hat pausenlos nachgefragt. Es ging endlos und endlos. Irgendwann habe ich gesagt: Ich war übrigens auch da. Und erzählt, was ich an diesem Tag gemacht habe.
Und das hat die Runde auch interessiert?
REICH: Ja, und es hat Alex interessiert. Am meisten von allen an diesem Tisch. Das hat mich überrascht.
OSANG: Manches habe ich da zum ersten Mal gehört, glaube ich jedenfalls. Vielleicht hatte ich auch nicht richtig zugehört. Jedenfalls hatte ich vorher nie darüber nachgedacht, dass uns das zeitgleich passiert ist. Dass wir beide zur gleichen Zeit so verschiedene Dinge erlebt haben, das hat mich fasziniert.
Es war eine gute Geschichte?
OSANG: Ja, auch. Vor allem aber war die Erzählroutine gestört. Meine. Da fiel für mich noch mal ein neues Licht auf den Tag.
REICH: Alle wollten an diesem Tisch erst die Heldengeschichte hören, aber niemand hat gefragt, wo ich war, was mit den Kindern war. Mich interessieren die Geschichten von einfachen Leuten, auch in historischen Momenten. Wie war das wirkliche Leben, wie verhalten sich Menschen? Und ich war in diesem Fall die einfache Frau, die Mutter, die mit den Kindern zu Hause war, mit den Nachbarn geredet hat. Deswegen bin ich auch Reporterin, um solche Geschichten zu erzählen.

Als ihr abends nach Hause gekommen seid, habt ihr beschlossen, eure aufzuschreiben?
REICH: Wir haben weitergeredet. Ich kannte auch nicht alle Details von Alex’ Geschichte. Jetzt, als wir das Hörbuch eingelesen haben, wurde mir klar, wir sind Zeitzeugen. Und Zeitzeugen sind wichtig, es ist wichtig, dass Leute wissen, was damals passiert ist.
OSANG: Neulich war ich im Wahlkampf mit Olaf Scholz in Potsdam. Da gibt es eine relativ große afghanische Community, was ich auch nicht wusste. Ein Mann erzählte Scholz von seiner Frau, die er aus Afghanistan rausholen will. Scholz stand da im strömenden Regen und hat versucht zu begründen, warum sich die Bundesregierung zu dem Afghanistan-Einsatz entschlossen hat. Das war ziemlich schwierig für ihn. Der Moment ist inzwischen begraben. Man fragt sich, was haben wir da zu suchen, am Hindukusch. Die Frage muss man sich stellen, sicher. Aber der Impuls, da mitzumachen, der ist in diesem Tag, dem 11. September, begründet. Und deswegen finde ich es richtig, diesen Tag noch mal zu entkleiden. Noch mal zu ihm zurückzukommen.
Im Buch und jetzt im Hörbuch erzählt ihr beide abwechselnd von eurem Tag. Wie ist der Text entstanden?
REICH: Ein paar Wochen nach dem Abendessen saßen wir beim Frühstück in einem Café. Da haben wir angefangen. Wir haben gesagt, wenn wir es machen, dann müssen wir ganz ehrlich sein. Wir haben dann jeder für sich geschrieben, an verschiedenen Orten.
OSANG: Wir haben nichts abgestimmt.
REICH: Als jeder seinen Text fertig hatte, haben wir sie einander geschickt.
Wie war es, zu lesen, was der andere geschrieben hatte? Es gibt die Szene, in der Alexander mit seiner letzten Münze im Spiegel-Büro anruft, nicht zu Hause.
REICH: Ich fand das nie unangenehm, für mich war wichtig, dass alles gut war, dass Alex lebt, mir war völlig egal, wen er anruft. Viel schlimmer war es, als er später nach Afghanistan geflogen ist und ich gesagt habe, bist du wahnsinnig, wieso machst du das?
OSANG: Für mich war überraschend, wie problemlos man die Texte montieren konnte.
REICH: Wir haben vorher recherchiert, wir sind unsere alten Mails und Aufzeichnungen durchgegangen und nach New York geflogen, haben die Leute noch mal getroffen. Da kam das Gefühl zurück. Wir haben den Anrufbeantworter von damals mitgenommen, im Hotelzimmer eingestöpselt und abgehört. Wir haben uns den Tag zurückgeholt.
OSANG: Ich war noch mal in der Gasse, in der der Keller lag, ich bin mit dem neuen Hausmeister noch mal runtergegangen. Ich hab auch die Leute aus dem Keller noch mal getroffen, den Polizisten.
Habt ihr heute noch Kontakt zu den Menschen, mit denen ihr den Tag verbracht habt?
REICH: Zu unseren Freunden sowieso, das sind richtig enge Freunde geworden. Das hat sicherlich auch mit dem Tag zu tun. Wir reden nie über ihn, aber er ist immer da. Am 11. September schreiben wir uns auch. Eigentlich war der Plan, dass wir jetzt hinfahren. Anfang September ist immer eine gute Zeit, es ist nicht mehr so heiß, dann sind die US Open. Aber es ist eben auch die Zeit vom 11. September.
OSANG: Meine früheren Kolleginnen und Eileen McGuire aus dem Keller, die damals für eine Stunde dachte, dass ihr Mann gestorben ist, schreiben mir jedes Jahr am 11. September.
Am Ende des Buchs, am Ende des Tages, lehnt ihr euch aneinander, trinkt Wein und schweigt.
OSANG: Mir ist das Gefühl von diesem Abend extrem präsent, weil es so friedlich war. In diesem ganzen Irrsinn war es unfassbar beruhigend. Dieses Gefühl, nach Hause zu kommen, hatte ich in New York sowieso viel intensiver als hier. Wenn ich von irgendwo auf der Welt zurück nach New York kam, habe ich immer gespürt, was es bedeutet, ein Zuhause, eine Familie zu haben. Die Frage ist ja, was man für Lehren zieht.
Und, welche Lehren?
OSANG: Es ist begrenzt. Als das Buch fertig war, war Fukushima, die Reaktorkatastrophe. Alle haben gesagt, mach das nicht, bleib hier, aber ich bin doch hingeflogen.
REICH: Vielleicht war das für Alex ein Moment des Nachhausekommens, aber er hat auch schon wieder an die nächste Geschichte gedacht. Und für mich war er einer von denen, die etwas erlebt hatten, was ich auf Bildern gesehen hatte, aber nicht nachempfinden konnte. Ich war nicht mittendrin, so wie er.
Gibt es etwas, was man nie verstehen wird, wenn man diesen Tag in New York nicht erlebt hat?
OSANG: Es gibt Dinge, über die man schwer sprechen kann, deswegen wollte ich eigentlich nie wieder Interviews über diesen Tag geben. Der Moment, in dem ich dachte: Du stirbst jetzt. Den hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben, als ich dort stand, in dieser Wolke. Totale Dunkelheit. Ich hab die Luft angehalten, bis ich sie nicht mehr anhalten konnte und das dann eingeatmet. Die Schwüre, die man sich in diesem Moment macht. Ich höre auf mit diesem Beruf.
Am Abend waren die Schwüre vergessen.
OSANG: Na ja. Es geht dann eben doch immer weiter. Manche Dinge sind mir jetzt erst klar geworden, als wir den Text zusammen eingelesen haben. Zum Beispiel wie Anja sieht, dass ich abends schon wieder telefoniere, recherchiere. Ich konnte diese Fremdheit, die sie empfunden hat, erst jetzt, 20 Jahre später, richtig nachvollziehen. Ich war so müde. Aber ich dachte, ich kann jetzt hier nicht versagen, in dieser Stadt, und dann noch beim Spiegel.
REICH: Ich wollte an diesem Abend niemandem erzählen, warum Alex da rüber gelaufen ist, zu den Türmen, das war mir unangenehm. Er hat da niemandem geholfen, er war Journalist. Aber das sehe ich inzwischen anders, es ist wichtig, dass berichtet wird.
Wie war es, das Buch nach noch einmal zehn Jahren jetzt einzulesen?
REICH: Wir waren ganz allein in einem Studio am Wannsee. Der Tontechniker saß in einem anderen Raum. Wie in einer Raumkapsel haben wir beide uns den Tag noch mal erzählt.
OSANG: Es war schön. Intim. Einige Sachen habe ich da erst wirklich verstanden. In einem Tonstudio. Auch irre. Vor der öffentlichen Sendung habe ich ein bisschen Angst, aber für die Aufnahme hat sich’s gelohnt.
Hat euch dieser Tag in New York in eure Träume verfolgt?
OSANG: Wir haben die gleichen Flugzeugträume. Flugzeuge, in denen wir tief durch die Stadt fliegen, unter Brücken hindurch ganz dicht an Häuserwänden entlang.
REICH: Aber wir kommen immer durch. Wir träumen beide das Gleiche. Ich habe es zuerst erzählt und Alex hat gesagt, das kann doch nicht wahr sein, dasselbe träume ich auch.
Was macht ihr in diesem Jahr am 11. September?
REICH: Ich werde meine Freunde vorher anrufen. Ich hab immer gedacht, die New Yorker interessiert das gar nicht mehr richtig. Aber man muss sie nur anstupsen, dann kommt eine Geschichte.
OSANG: Gefeiert haben wir den Tag nie. Als wir später noch mal in New York gelebt haben, direkt am East River, da gab es am 11. September eine Installation, Lichtsäulen. Das war schon Wahnsinn.
Das Buch ist euren Kindern gewidmet, Mascha und Ferdinand. Haben sie es gelesen?
OSANG: Ferdinand vielleicht, aber Mascha garantiert nicht.
REICH: Als wir es vor zehn Jahren geschrieben haben, haben wir ihnen angeboten, es zu lesen. Wir haben ihnen die Fotos gezeigt, die ins Buch kommen. Vorn auf dem Buch ist auch eine Zeichnung von Ferdinand. Es ist für beide einfach sehr dicht dran. Mascha hat das Gefühl, sie hat alles verpasst, sie war damals drei. Und Ferdinand hat seine eigene Geschichte, die hat er auch schon manchmal geschrieben. Damals in seiner Grundschule haben die Kinder sehr intensiv darüber gesprochen und geschrieben.
OSANG: Ich würde auch nicht so gern eine Ehegeschichte meiner Eltern lesen. Im Prinzip ist es ja eine Ehegeschichte, eine Liebesgeschichte.





