In einem langen Tweet befasst sich der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn mit neuen Verhandlungen zwischen Pfizer und der EU-Kommission. Sonneborn bezieht sich auf Recherchen der Financial Times (FT) und Reuters. Beide Medien berichten, dass zu viele Covid-19-Impfstoffdosen eingekauft wurden. Millionen Dosen müssten gelagert oder nach Ablauf des Verfallsdatums vernichtet werden. Mehrere EU-Mitgliedsstaaten weigern sich, die überdimensionierten Mengen abzunehmen und zu bezahlen. So schrieb Polen kürzlich laut Politico einen Brief an die Aktionäre von Pfizer, mit der Aufforderung, die Verträge neu zu verhandeln. Pfizer sagte Reuters im Januar, man verhandle über Preise immer im Hinblick auf die wirtschaftlichen Fähigkeiten einer Region. Biontech sagte, das Unternehmen arbeite „mit der Europäischen Kommission und den Regierungen zusammen, um pragmatische Lösungen zu finden und dabei die zwischen den Parteien beim Abschluss des Abkommens vereinbarten Grundprinzipien zu respektieren“.
Um das Dilemma aufzulösen, schlägt die EU-Kommission nun vor, auf 220 Millionen ursprünglich bestellter Pfizer-Dosen zu verzichten und dafür eine „Stornogebühr“ von 2,2 Milliarden Euro zu bezahlen. Politico schreibt, der zur Diskussion stehende Vorschlag sehe vor, dass Dosen storniert werden sollten. Im Gegenzug sollte die EU einen höheren Preis pro Dosis für die verbleibenden Lieferungen zahlen, was in der Praxis zu einer „Stornierungsgebühr“ führen würde. Die FT schreibt, der EU-Vorschlag sehe vor, dass die EU-Staaten für jede stornierte Dosis den halben Preis, etwa zehn Euro, zu bezahlen haben. Laut Sonneborn gibt es außerdem „im Gegenzug eine als umwidmende Nachverhandlung getarnte Neubestellung über 280 Millionen Einheiten, die mit einer Summe zwischen 5,6 Milliarden und einer anderen, die wir nicht mehr zuverlässig ausrechnen können, zu Buche schlägt“. Laut FT umfasst diese Neubestellung modifizierte Impfstoffe, die auf zukünftige Covid-Varianten angepasst seien.
Pfizer ist nach den massiven Profiten mit den Covid-19-Impfstoffen in den USA unter Druck geraten, weil die Regierung im Zuge eines neuen Gesetzes eine drastische Reduktion der Medikamenten-Preise für das Medicare-Programm verlangt. Bourla bezeichnete die US-Pläne, über die Preise verhandeln zu wollen, als „Verhandlungen mit der Waffe am Kopf“ und sagte, er erwarte, dass Arzneimittelhersteller klagen, um den Prozess zu stoppen. „Es handelt sich überhaupt nicht um Verhandlungen. Es geht um die Festlegung von Preisen“, sagte Bourla kürzlich bei einer Reuters-Veranstaltung und bezog sich dabei auf die von der Biden-Regierung unterzeichnete Reform der Arzneimittelpreise, die Teil des Inflation Reduction Act (IRA) ist. Das Gesetz zielt darauf ab, durch Preisverhandlungen bis 2031 etwa 25 Milliarden US-Dollar für die Amerikaner einzusparen, die mehr für Medikamente bezahlen als jedes andere Land. Laut Reuters machte Pfizer dank der Impfstoffe im Jahr 2020 einen Gewinn von 80 Milliarden Dollar, im Jahre 2022 erwirtschaftete das Unternehmen einen Gewinn von 100 Milliarden Dollar.
Sollte der neue Deal mit der EU durchgehen, würde das Pfizer-Monopol gefestigt. Dies sei, so Martin Sonneborn, „nicht nur ein erneuter Verstoß gegen das EU-weit sakrosankte Wettbewerbsprinzip, sondern steht auch in krassem Gegensatz zum Gebot der Diversifizierung, das für die EU-Beschaffungspolitik nicht weniger gilt als für ihr Gesundheitsportfolio“, nämlich die „Diversifizierung des Portfolios“. Die FT schreibt, würde der Deal wie geplant abgeschlossen, würden die Mitbewerber Moderna, Novavax und Sanofi faktisch „aus dem Markt gedrängt“. Sanofi habe laut FT nur einen Bruchteil seiner Ware ausgeliefert, große Teile hätten vernichtet werden müssen. Der Aktienkurs von Novavax ist eingebrochen, es bestehen „substantielle Zweifel“ an der Zukunft des Unternehmens, so die FT.
Sonneborn sieht den Deal als „Hütchenspiel“: Laut seiner Berechnungen „schlägt die Kommission vor, die Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 Milliarden Euro durch eine Pfizer gegenüber bestehende Zahlungsverpflichtung in Höhe von 10 Milliarden Euro zu ersetzen“.
Sonneborn beschreibt im Folgenden, wie die EU in diese Lage gekommen ist. Er nennt den Vertrag, den die EU-Kommission im Mai 2021 abgeschlossen habe, den „größten Deal der Pharmageschichte“: „Es war der mit Abstand umfangreichste aller EU-Impfstoffverträge – und mit einem (mutmaßlichen) Volumen von 35 Mrd. Euro auch der größte Kaufvertrag, den die Kommission je mit einem singulären Marktakteur geschlossen hat.“ Reuters hatte im Januar berichtet, dass die Zahlungsverpflichtung der EU aus diesem Vertrag in einer Größenordnung zwischen 7,8 Milliarden Euro und 9,75 Milliarden Euro liege.
Sonneborn weiter: „Mit diesem dritten Pfizer-Vertrag stieg nicht nur die Abnahmemenge um 25 Prozent, sondern auch der Preis: von 15,50 auf 19,50 Euro pro Dosis. Ein historisch einmaliger Megadeal, bei dem mit zunehmender Abnahmemenge auch die Stückpreise steigen?“ Mit dem Deal habe „die Kommission dem Unternehmen Pfizer, das den Markt bereits zuvor dominiert hatte“, außerdem „das Quasi-Monopol für den EU-Impfstoffmarkt, ein offener Verstoß gegen das – ansonsten mit Argusaugen gehütete – EU-Wettbewerbsrecht“, verschafft.
Sonneborn kritisiert die Tatsache, dass der Deal von Ursula von der Leyen „über Monate in direktem fernmündlichen & kurznachrichtlichen Austausch mit Albert Bourla“ ausverhandelt worden sei. Von der Leyen habe „die offiziellen EU-Vertragsgespräche mit der Pharmaindustrie, die nach einem festgelegten Protokoll von mandatierten Verhandlungsführern und Experten der Kommission durchzuführen waren, allem Anschein nach erfolgreich unterlaufen und die Verhandlungen für diesen dritten, größten, teuersten, wettbewerbsverzerrendsten und stümperhaftesten Pfizer-Vertrag in seinen entscheidenden Teilen an sich gezogen – unter Überschreitung ihrer Amtszuständigkeit als Kommissionspräsidentin und Verletzung der für EU-Beamte verbindlichen Verfahrensvorschriften“. Auch die FT merkt an, dass die EU-Kommission trotz der laufenden Untersuchungen des ursprünglichen Deals durch die EU-Staatsanwaltschaft erneut mit Pfizer verhandle.
Sonneborn kritisiert, dass „die Kommission dem Europäischen Rechnungshof für diesen einen Vertrag – im Unterschied zu allen anderen – keinerlei internes Bürokratiebeiwerk vorlegen konnte, keine Verhandlungsmitschriften, keine Vorverträge, keine handgekritzelten Galgenmännchen mit Zahlen dran, nichts“. Sonneborn kritisiert, dass es über die Vorgänge keinerlei Transparenz gäbe: „Selbst Parlament und Untersuchungsausschuss bekommen nichts als durch Schwärzung unkenntlich gemachte Ausfertigungen zu Gesicht.“
Der Abgeordnete geht schließlich auf die Vorwürfe der Europäischen Bürgerbeauftragten Emily O’Reilly ein, die EU-Kommission betreibe Obstruktion, weil sie sich weigere, die „vertragsvorbereitenden SMS-Nachrichten zwischen von der Leyen und Bourla“ herauszugeben, nennt „zahllose Beschwerden und Klagen“ auf Herausgabe, wie etwa jene der New York Times ebenso wie „die strafrechtliche Untersuchung der ursprünglichen Verträge durch die Europäische Staatsanwaltschaft EPPO“. Trotz all dieser Verfahren habe sich die EU-Kommission „in neue Verhandlungen mit Pfizer begeben“. Wieder werde „hinter verschlossenen Türen in geheimen Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Umgehung ihrer (eigenen) Rechenschaftspflicht über die Verwendung von EU-Geldern zum EU-weiten Ankauf von Produkten eines einzigen US-Herstellers entschieden“. Sonneborn sieht „ein hinter institutionellem Gestrüpp verschanztes System“, welches „seine notorische Unfähigkeit zur Selbstkorrektur“ zeigt.
Pfizer wickle die Transaktion außerdem über die EU-Steueroasen Irland, Niederlande und Luxemburg ab. Der Gewinn sei mit 12,5 Prozent zu versteuern, ein „Steuersatz, der Ihnen da draußen Tränen in die Augen treiben dürfte“, so Sonneborn.



