Die Bundesanwaltschaft hat in der Nacht zu Donnerstag aufgrund eines Europäischen Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 18. August den ukrainischen Staatsangehörigen Serhii K. in der Provinz Rimini (Italien) durch Beamte der Carabinieri-Station in Misano Adriatico festnehmen lassen, wie der Generalbundesanwalt (GBA) mitteilt. Der Zugriff erfolgte in enger Kooperation mit dem Dienst für Internationale Polizeiliche Zusammenarbeit.
Der Verdächtige soll in San Clemente Urlaub gemacht haben. Die italienische Zeitung LA Stampa schreibt, der Mann sei über das Gäste-Warn-System identifiziert worden, mit dem die Beherbergungsbetriebe routinemäßig bezüglich ihrer Gäste die Polizei informieren. Der Nachrichtenagentur Ansa zufolge hielt sich der 49 Jahre alte Mann seit einigen Tagen mit seiner Familie an der Adriaküste auf. Nach der Festnahme sei er ins Gefängnis gebracht worden. Die Entscheidung über die Vollstreckung des vorliegenden Europäischen Haftbefehls liege nun beim Berufungsgericht der norditalienischen Stadt Bologna.
Der Beschuldigte ist des gemeinschaftlichen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion (§ 308 Abs. 1 StGB), der verfassungsfeindlichen Sabotage (§ 88 Abs. 1 Nr. 3 StGB) sowie der Zerstörung von Bauwerken (§ 305 Abs. 1 StGB) dringend verdächtig.
In dem Haftbefehl wird ihm laut GBA im Wesentlichen folgender Sachverhalt zur Last gelegt: „Serhii K. gehörte zu einer Gruppe von Personen, die im September 2022 nahe der Insel Bornholm Sprengsätze an den Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 platzierte. Bei dem Beschuldigten handelte es sich mutmaßlich um einen der Koordinatoren der Operation. Für den Transport nutzten er und seine Mittäter eine Segeljacht, die von Rostock aus startete. Die Jacht war zuvor mithilfe gefälschter Ausweispapiere über Mittelsmänner bei einem deutschen Unternehmen angemietet worden. Die Sprengsätze detonierten am 26. September 2022. Durch die Explosionen wurden beide Pipelines schwer beschädigt.“
Der Beschuldigte wird nach einer Überstellung aus Italien dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs vorgeführt.
Die Vorsitzende des BSW, Sahra Wagenknecht, forderte einen Untersuchungsausschuss des Bundestags. Sie sagte der Berliner Zeitung, dieser „staatsterroristische Akt“ müsse konsequent aufgeklärt werden. Es sei „komplett abwegig, dass der nun Festgenommene und seine Mittäter ohne Rückendeckung der ukrainischen Führung und der damaligen Biden-Administration in den USA handelten“. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj „sollte vor einem Untersuchungsausschuss im Bundestag aussagen müssen“. Es sei „völlig absurd, dass Deutschland viele Milliarden für Ukraine-Hilfen ausgibt, aber niemals Aufklärung von Selenskyj einforderte“. Auch die Frage nach einer Entschädigung müsse gestellt werden.
Der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, sagte der Berliner Zeitung: „Die russische Seite besteht weiterhin auf einer objektiven und vollständigen Ermittlung des Terroranschlages auf die Nord-Stream-Pipelines, der Feststellung und Ahndung der Täter und Organisatoren.“ Die Sprengungen seien „eklatante Akten des internationalen Terrorismus“.
Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) sprach nach der nun bekannt gewordenen Festnahme in Italien laut AFP von einem „beeindruckenden Ermittlungserfolg“. Die Sprengung der Pipelines müsse aufgeklärt werden, „auch strafrechtlich“, betonte sie.
Die italienische Zeitung Corriere della Sera, die in Sicherheitsdingen gewöhnlich exzellent informiert ist, meldete den Vorgang sehr spät und berichtete lediglich unter Bezugnahme auf die Bild-Zeitung. Auch die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass berichtete zunächst nur über die Mitteilung des GBA. Aktuelle politische Stellungnahmen gab es dazu vorerst nicht. Die Tass schreibt jedoch: „Laut dem russischen Außenminister Sergej Lawrow ist Moskau davon überzeugt, dass die Sabotageakte an der Nord-Stream-Pipeline mit US-Unterstützung durchgeführt wurden. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat Ermittlungen wegen eines Akts des internationalen Terrorismus eingeleitet.“
Es ist dies die erste Verhaftung im Zusammenhang mit der Sprengung. Im August 2024 erließen die deutschen Behörden einen Haftbefehl gegen einen weiteren ukrainischen Taucher, Wolodymyr Z., der verdächtigt wurde, an dem Vorfall beteiligt gewesen zu sein. Berichten zufolge floh er aus Polen in die Ukraine, bevor er festgenommen werden konnte.
Es ist unklar, ob sich die Sprengung wirklich so zugetragen hat, wie der Haftbefehl insinuiert. Der Ablauf stimmt mit Medienberichten überein, die einige Monate nach der Sprengung in den USA und Deutschland erschienen sind. Zuvor war spekuliert worden, Russland könne seine eigene Pipeline gesprengt haben. Investigative Rechercheure wie der Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh vertreten die Auffassung, dass die USA gemeinsam mit Norwegen die Sprengung veranlasst haben. Der Trump-nahe Journalist Tucker Carlson, der auch den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin interviewt hat, behauptet ebenfalls, dass die Sprengung von den Amerikanern durchgeführt wurde.
Donald Trump selbst sagte auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus im Mai 2025: „Wenn ich bestimmte Leute fragen würde, könnte ich es Ihnen sagen, ohne viel Geld für eine Untersuchung verschwenden zu müssen … Ich denke, viele Leute wissen, wer sie in die Luft gejagt hat.“ Zuvor hatte ein Reporter Trump gefragt, ob er beabsichtige, eine formelle Untersuchung der Explosionen der Nord-Stream-Pipeline einzuleiten. Trump antwortete im Weißen Haus und deutete an, er verfüge bereits über genügend Informationen, ohne Steuergelder auszugeben. Trump sagte außerdem im Scherz, er selbst habe die Sprengung veranlasst – ein Scherz, den der Präsident nach seinem freundschaftlichen Treffen mit Putin in Alaska eher nicht mehr öffentlich wiederholen würde.
Die Verhaftung kommt zu einem kritischen Zeitpunkt. Russland hat nach Informationen der Berliner Zeitung während der laufenden Verhandlungen mit den USA über die Normalisierung der Beziehungen von Anfang an darauf bestanden, dass die Täter ausgeforscht werden. Anfang August sagte Dmitri Poljanski, amtierender Ständiger Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, laut Tass, die „Wahrheit über die Sprengung der Pipelines Nord Stream und Nord Stream 2“ werde „trotz des Widerstands westlicher Länder ans Licht kommen und alle Verantwortlichen würden gefunden und bestraft“.
Wenn die Segelboot-Version mit ukrainischer Beteiligung offiziell bestätigt wird, könnte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unter Druck geraten. Denn es ist zu erwarten, dass Spekulationen über die Verbindung der mutmaßlichen Täter zur Regierung aufkommen. Russland betont, dass der Anschlag aufgeklärt werden müsse, um gegen Angriffe auf die internationale Energie-Infrastruktur abzuschrecken. Erst vor wenigen Tagen hatte die Ukraine die Druschba-Pipeline unter Beschuss genommen, die für die Energieversorgung Ungarn von zentraler Bedeutung ist.
Seit Anfang Juli hat die Ukraine nach Angaben Kiews mindestens vier große Ölraffinerien in Russland angegriffen. Solche Angriffe haben in den vergangenen Monaten laut der Financial Times (FT) zugenommen. Der jüngste ukrainische Drohnenangriff ereignete sich am Donnerstag auf die Raffinerie Nowoschachtinsk in Südrussland, die jährlich rund fünf Millionen Tonnen raffinierter Produkte produziert, die sie normalerweise größtenteils exportiert.
