Geopolitik

Nord Stream: Neuer Verdacht – nun gegen Polen und Ukraine

Die Washington Post berichtet, die Berichte über eine einsame Jacht vor Rügen könnten ein „Köder“ gewesen sein. Werden die Deutschen an der Nase herumgeführt?

ARCHIV - Dieses Schiff wird bei einer möglichen Reparatur der Pipeline Nord Stream 2 vermutlich nicht helfen. Das russische Rohr-Verlegeschiff «Fortuna» ankert im Januar 2021 vor Rostock. Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa
ARCHIV - Dieses Schiff wird bei einer möglichen Reparatur der Pipeline Nord Stream 2 vermutlich nicht helfen. Das russische Rohr-Verlegeschiff «Fortuna» ankert im Januar 2021 vor Rostock. Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpadpa-Zentralbild

Nachdem der Investigativ-Journalist Seymour Hersh Anfang Februar eine umfangreiche Recherche zu den Anschlägen gegen die Nord-Stream-Pipelines vorgelegt hatte, ist in den führenden US-Leitmedien das Interesse an dem Ereignis deutlich gestiegen. Hersh hatte berichtet, dass die US-Regierung gemeinsam mit Norwegen hinter den Anschläge stecke. Beide Regierungen dementierten deutlich. Weniger später erschienen in der New York Times und in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit Artikel mit einer neuen Version: Die beiden Medien berichteten übereinstimmend, dass die Pipeline von ukrainischen Partisanen mit einer kleinen Jacht attackiert worden sei. Keines der Medien erwähnt die Recherche von Hersh.

Die deutschen Medien würdigten die Darstellung aus New York Times und Zeit ausführlich – ebenfalls oft ohne Bezugnahme auf Hersh. Eine mögliche Täterschaft Russlands ist ebenfalls immer noch auf dem Markt. So schreibt die AFP noch am 29. März: „Als Drahtzieher der mutmaßlichen Sabotage wurde unter anderem Russland verdächtigt. Laut Medienberichten führten bei den Ermittlungen zu den Explosionen jedoch auch Spuren in die Ukraine.“ In den internationalen und auch in einigen kritischen US-Medien wie dem TV-Sender Democracy Now wurden die Ergebnisse von Hersh’ Recherche weiter als plausible Darstellung verbreitet. Nicht nur russische und chinesische Staatsmedien zweifelten dagegen an der Logik der New-York-Times-Geschichte.

Nun überrascht die Washington Post mit einer neuen Version der Ereignisse. Wie schon zuvor Hersh, die New York Times und die Zeit beruft sich auch die Washington Post ausschließlich auf anonyme Quellen. Die Recherche enthält drei wesentliche Aspekte: Die Darstellung in der New York Times wird als Teil einer größeren Operation dargestellt. Laut Washington Post könnte der Verdacht auf Polen und die Ukraine gelenkt werden. Und schließlich hält die Zeitung fest, dass es im Westen kein Interesse an der Aufklärung gäbe.

Wurde Nord Stream von mehreren Schiffen bearbeitet?

Die Washington Post schreibt zu Rolle der angeblich von Ukraine-Partisanen genutzten Jacht „Andromeda“, dass „das Boot ein Köder gewesen sein könnte, der in See stechen sollte, um von den wahren Tätern abzulenken, die auf freiem Fuß bleiben“. Als Quelle nennt das Blatt „Beamte mit Kenntnis einer vom deutschen Generalstaatsanwalt geleiteten Untersuchung“.  Laut den Beamten sei davon auszugehen, dass „mehr als ein Schiff an der Sabotage der Erdgaspipeline beteiligt gewesen sein könnte“. Die Zeitung schreibt weiter, „US- und europäische Beamte“ zweifelten an mehreren Aspekten der New-York-Times-Berichterstattung: Sie „teilten die deutsche Skepsis darüber, dass eine sechsköpfige Besatzung auf einem Segelboot Hunderte von Pfund Sprengstoff gebracht“ habe, um dann die Pipeline lahmzulegen: „Experten stellten fest, dass es zwar theoretisch möglich sei, den Sprengstoff von Hand auf der Pipeline zu platzieren, aber selbst erfahrene Taucher würden herausgefordert werden, mehr als 200 Fuß bis zum Meeresboden einzutauchen und langsam an die Oberfläche zu steigen, um ihren Körpern Zeit zu geben, sich zu dekomprimieren.“

Nord Stream: Ermittler trauen Deutschen nicht

Offenbar haben westliche Ermittler auch wenig Vertrauen in die deutschen Behörden. Die Post schreibt, die „deutsche Untersuchung“ habe festgestellt, dass Spuren von „militärischem“ Sprengstoff, die auf einem Tisch in der Kabine des Bootes gefunden wurden, mit der Sprengstoffcharge übereinstimmen, die gegen die Pipeline verwendet wurde. Die Post: „Mehrere Beamte bezweifelten, dass erfahrene Saboteure solch eklatante Beweise für ihre Schuld hinterlassen würden. Sie fragen sich, ob die Sprengstoffspuren, die Monate nach der Rückgabe des gemieteten Bootes an seine Besitzer gesammelt wurden, die Ermittler fälschlicherweise zur ‚Andromeda‘ als dem Schiff führen sollten, das bei dem Angriff verwendet wurde.“ Zwar könnten die Attentäter einfach „schlampig“ gewesen sein. Ein „hochrangiger europäischer Sicherheitsbeamter zu den Beweisfragmenten“: „Es passt nicht alles zusammen“.

Nord Stream: Ist Polen involviert?

Eine Zwischenüberschrift sticht im Artikel der Washington Post besonders hervor. Sie lautet: „Der Verdacht richtet sich auf Polen und die Ukraine“. Die deutsche Untersuchung habe die Vermietung der Jacht mit einem polnischen Unternehmen in Verbindung gebracht, das wiederum einem europäischen Unternehmen gehört, das mit einem prominenten Ukrainer verbunden ist. Die Identität des polnischen Unternehmens und der ukrainischen Einzelperson sowie sein mögliches Motiv blieben unklar. Die Post schreibt: „Nach ersten deutschen Erkenntnissen tuscheln Beamte über eine mögliche Beteiligung der polnischen oder ukrainischen Regierung an dem Angriff. Polen hatte wohl ein Motiv, sagten einige, wenn man bedenkt, dass es seit seinem Beginn Ende der 1990er-Jahre zu den lautstärksten Kritikern des Nord-Stream-Projekts gehört und davor gewarnt hat, dass die Pipelines, die von Westrussland nach Deutschland verlaufen, Europa vom Kreml in Energiefragen abhängig machen würden.“ Was die Post nicht schreibt: Polen arbeitet seit vielen Jahren daran, der zentrale Energie-Hub in Europa zu werden – eine Position, die mit einer intakten Nord-Stream-Pipeline Deutschland zugefallen wäre.

Marcin Przydacz, der außenpolitische Chefberater des polnischen Präsidenten, mahnte laut Washington Post zu „Vorsicht, Schlussfolgerungen aus den ersten Beweisen zu ziehen“. Auch er teilte die Ansicht, dass die „Andromeda“ ein Ablenkungsmanöver sein könnte, sagte aber, dass sie möglicherweise von Moskau lanciert worden sei. „Daran könnte ein russisches Spiel schuld sein“, sagte Przydacz in einem Interview im Präsidentenpalast in Warschau. „Polen hatte mit diesem [Angriff] nichts zu tun.“ Laut der Post „sagten ehemalige polnische Regierungsbeamte unter vier Augen“, dass es trotz des Widerstands in Polen gegen die Pipeline zweifelhaft sei, ob „Präsident Andrzej Duda eine Handlung genehmigen würde, die das Risiko birgt, das Bündnis der Nationen zu brechen, die sich zur Verteidigung der Ukraine zusammengeschlossen“ hätten. Polnische Beamte bezeichneten den Konflikt der Ukraine mit Russland routinemäßig als „unseren Krieg“ und „befürchten, dass der russische Präsident Wladimir Putin, wenn er dort Erfolg hat, als nächstes Polen ins Visier nehmen würde“.

Ukraine gegen Verdacht

Der Verdacht habe sich, so die Zeitung, „auch gegen die Ukraine als Schuldiger hinter den Nord-Stream-Bombenanschlägen gerichtet“ – und zwar auf Grundlage von „abgefangenen Mitteilungen von Pro-Ukraine-Personen, die die Möglichkeit eines Angriffs auf die Pipelines vor den Explosionen diskutiert“ haben sollen. Ein „hochrangiger westlicher Sicherheitsbeamter mit Kenntnis der geheim gesammelten Informationen“ sagte, die Kommunikation sei erst nach dem Bombenanschlag entdeckt worden, als westliche Spionagebehörden begannen, ihre Aufzeichnungen nach Erkenntnissen zu durchsuchen.

Mykhailo Podolyak, Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, hatte bereits nach dem New-York-Times-Bericht gesagt: „Die Ukraine hat sich absolut nicht an dem Angriff auf Nord Stream beteiligt.“ Die Post schreibt: „Einige Beamte sagten, dass ukrainische Saboteure oder Saboteure aus anderen Ländern, die ihrer Meinung nach im besten Interesse der Ukraine handelten, Nord Stream ohne Selenskyjs Wissen angegriffen haben könnten, und argumentierten, dass er keinen vollständigen Einblick in alle Operationen seiner Regierung oder des Militärs habe. Diese Art von plausibler Leugnung könnte den gefeierten Führer schützen und die politischen Folgen eines dreisten Angriffs auf sein Land dämpfen, sagten diese Beamten.“

Die Washington Post streift in dem Bericht auch die Idee, Russland könnte die Pipeline selbst in die Luft gejagt haben. Das Land hätte bereits den Gasfluss durch Nord Stream 1, der älteren der beiden Pipelines, gestoppt. Dies „deutete darauf hin, dass Moskau bereit war, sich mit Energielieferungen auf eine Art politische Erpressung einzulassen“.

Kiesewetter: Wem nutzt Streit über Nord Stream?

Die Post zitiert in diesem Zusammenhang den CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter, „der Teil eines Ausschusses ist, der im vergangenen Monat von Geheimdienstbeamten über den Fortschritt der Untersuchung informiert wurde“, mit den Worten, er glaube, dass die Ermittler noch keine Ergebnisse mitgeteilt hätten, weil die „Beweise viel zu dünn“ seien. Kiesewetter sagte, unbegründete Spekulationen über die Täter könnten den Zusammenhalt in Europa gefährden. „Wir sollten weiter fragen, wer ein Interesse an der Detonation hatte“ und wer „von Unsicherheiten und Anschuldigungen profitiert“, sagte er.

Die Washington Post schließt ihren Bericht mit Überlegungen zu der Frage, warum es im Fall eines noch nie dagewesenen Terror-Angriffs auf eine europäische Energie-Infrastruktur offenbar keine Eile bei der Ermittlungen gibt.

„Reden Sie nicht über Nord Stream!“

Bei Treffen europäischer und Nato-Politiker habe sich laut einem „hochrangigen europäischen Diplomaten“ das Motto herausgebildet: „Reden Sie nicht über Nord Stream.“ Die Staats- und Regierungschefs würden „wenig Nutzen“ darin sehen, „zu tief zu graben und eine unbequeme Antwort zu finden. Der Diplomat sagte, einige Kollegen seien der Meinung, sie wollten „sich lieber nicht mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass die Ukraine oder Verbündete beteiligt sind“. Man sei „nicht bereit, Verdächtigungen zu teilen, die versehentlich eine befreundete Regierung verärgern könnten, die an der Bombardierung von Nord Stream beteiligt gewesen sein könnte“. Mangels konkreter Anhaltspunkte herrsche daher „betretenes Schweigen“. „Es ist wie eine Leiche bei einem Familientreffen“, sagte der europäische Diplomat der Zeitung und griff nach einer düsteren Analogie. Jeder kann sehen, dass dort eine Leiche liegt, tut aber so, als wären die Dinge normal: „Es ist besser, es nicht zu wissen.“

Russland war erst kürzlich im UN-Sicherheitsrat mit einem Vorstoß für eine internationale Untersuchung zu den Explosionen gescheitert. Bei einer Abstimmung im mächtigsten Gremium der Vereinten Nationen votierten in New York nur drei der 15 Mitgliedstaaten - Russland, China und Brasilien - für eine entsprechende Resolution. Die anderen zwölf Staaten enthielten sich.

In dem Resolutionsentwurf hatte Russland die Vereinten Nationen aufgerufen, eine „umfassende, transparente und unparteiische Untersuchung“ zu den Explosionen vom vergangenen September vorzunehmen. Zur Begründung erklärte Moskau, Russland sei von den von Deutschland, Dänemark und Schweden eingeleiteten Ermittlungen ausgeschlossen worden. Es gebe „große und wohlbegründete Zweifel“ an der Objektivität der nationalen Ermittlungen, sagte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensia.

Die Versicherer Allianz und Munich Re haben Reuters zufolge die Versicherung der nach einer Explosion stark beschädigten Gasleitung Nord Stream 1 erneuert. Das sagten fünf mit dem Vorgang vertraute Personen aus der Versicherungs- und Energiehandelsbranche der Nachrichtenagentur. Die Versicherungspolice beziehe sich auf Schäden an der Pipeline sowie Geschäftsunterbrechungen, sagte ein Insider. (mit AFP)