Die Bundesregierung hat erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz geht es um das „Leitbild der integrierten Sicherheit“, wie er am Mittwoch bei der Präsentation der Strategie in Berlin sagte. Scholz sagte, bisher habe man den Stand der Sicherheit im „Weißbuch“ für die militärische Landesverteidigung gefunden, welches eine Art Vorläufer der nunmehr formulierten Strategie sei. Nun ist der Begriff viel breiter gefasst, ist mit den entsprechenden Ausrichtungen von EU und Nato akkordiert und umfasst alle Teile der Gesellschaft.
Folgerichtig betonten auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Bundesfinanzminister Christian Lindner den Begriff der „integrierten Sicherheit“. Baerbock sagte, dass die Medikamentensicherheit in den Apotheken, die chinesische Überwachung von Chats, russische Bots und die Versorgung der Deutschen mit sauberem Trinkwasser künftig ebenfalls unter dem Aspekt der Sicherheitsrelevanz gesehen würden. Baerbock hob die aus ihrer Sicht überragende Bedeutung des Schutzauftrags in der politischen Positionierung der Bundesregierung hervor und sagte: „Wenn die Hälfte der Gesellschaft nicht sicher ist, ist niemand sicher.“
Lindner sagte, dass sich diese breite Definition auch bei der Haushaltsverteilung auswirken werde. Er sprach im Hinblick auf Sicherheit von einer „360-Grad-Perspektive“ und sagte, dass „Schwerpunkten für Sicherheit gegenüber anderen Aufgaben, die von den Menschen erbeten werden“, unter Umständen eine „überragende“ Bedeutung beigemessen werden könnte. Lindner sagte, dass das sogenannte Sondervermögen zur Neuaufstellung der Bundeswehr bald ausgeschöpft sein werde und Sicherheitsthemen danach in den regulären Haushaltsplanungen abgebildet werden müssten. Dadurch werden sich naturgemäß Diskussionen über „Prioritäten“ ergeben.
Auf die Frage von mehreren Journalisten, wann denn die Bundesregierung gedenke, das Zwei-Prozent-Minimalziel der Nato für Rüstung zu erreichen, hielten sich Scholz und Lindner bedeckt. In der Strategie heißt es dazu: Landes- und Bündnisverteidigung seien „Kernauftrag der Bundeswehr“. Dieser umfasse „auch unseren Beitrag zur Abschreckungsfähigkeit der Allianz“. Und weiter: „Zunächst auch durch das neu geschaffene Sondervermögen Bundeswehr werden wir im mehrjährigen Durchschnitt unseren 2%-BIP-Beitrag zu den NATO-Fähigkeitszielen erbringen.“ Zugleich will die Bundesregierung „Investitionen in den Schutz Kritischer Infrastrukturen, Cyberfähigkeiten, eine handlungsfähige Diplomatie, den Bevölkerungsschutz, die Stabilisierung unserer Partner sowie eine engagierte humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit stärken“. Lindner sagte bei der Pressekonferenz, die zwei Prozent würden sich auch in den kommenden Jahren aus einer Kombination des Verteidigungshaushalts („Einzelplan 14“) und anderen Ausgaben zusammensetzen, die unter die Nato-Aufgaben subsumiert werden können.
Auf mehrere Fragen von Journalisten, warum die Sicherheitsstrategie keine ausdrückliche Positionierung gegen China enthalte, verwiesen Scholz und Baerbock auf eine geplante, eigene „China-Strategie“, die „bald“ vorgelegt werden solle. In der Nationalen Sicherheitsstrategie heißt es, China sei „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“. „Wir sehen, dass … die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den vergangenen Jahren zugenommen haben; zugleich aber bleibt China ein Partner, ohne den sich viele der drängendsten globalen Herausforderungen nicht lösen lassen.“
Klar positioniert sich die Bundesregierung gegen Russland: „Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum.“ Russlands „Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Bruch des Völkerrechts und der europäischen Sicherheitsordnung“. Im Hinblick auf die veränderte geopolitische Lage heißt es in der Strategie: „Wir leben in einem Zeitalter wachsender Multipolarität. Einige Staaten versuchen, die bestehende internationale Ordnung entsprechend ihrer Auffassung von systemischer Rivalität umzugestalten.“
Einen sehr konkreten Ansatz zur Verhinderung dieser Umgestaltung will die Bundesregierung im Kampf gegen „Desinformation“ entwickeln: Sie will „Angriffen auf die Integrität demokratischer Willensbildungsprozesse und einer systematischen Unterwanderung unserer offenen Gesellschaften und liberalen Demokratien entgegenwirken“. Der „Aufdeckung gezielt gestreuter Desinformation durch in- oder ausländische Akteure“ komme dabei „eine besondere Bedeutung“ zu. Die Bundesregierung stellt zwar fest: „Zu den größten Errungenschaften unserer pluralistischen Demokratie gehören der Schutz und die gegenseitige Anerkennung vielfältiger, auch einander widersprechender Überzeugungen und Meinungen.“ Sie räumt auch ein, dass „in offenen und demokratisch verfassten Gesellschaften das Vertrauen in deren Institutionen stets aufs Neue gewonnen werden“. Doch müsse Deutschland „im Sinne einer Integrierten Sicherheit“ seine Abwehrfähigkeiten „gegenüber offenen und verdeckten Angriffen auf unsere demokratischen Werte, auch in der Europäischen Union“, auf „breiter gesellschaftlicher Ebene“ stärken.
Die Bundesregierung will daher gemeinsam mit Nato und EU die „Instrumente der Früherkennung von manipulativer Kommunikation im Informationsraum ausbauen, unsere Resilienz und Reaktionsfähigkeiten verbessern und auch auf unsere Fähigkeiten zielen, unsere demokratischen Werte und unsere Sichtweisen international überzeugend zu vertreten“. Um die „Verbreitung radikalisierender Inhalte über das Internet zu verhindern, müssen rechtswidrige Inhalte noch schneller identifiziert und gelöscht werden“. Die Urheber müssten „ermittelt und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden“.
Freie und unabhängige Medien spielen nach Ansicht der Bundesregierung eine „zentrale gesellschaftliche Rolle“ im Kampf gegen die Desinformation. Die Bundesregierung verspricht, sie werde „mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit sicherstellen, dass transparente, verlässliche Information über Regierungshandeln einfach zugänglich ist, um relevante mediale Räume nicht Desinformationskampagnen zu überlassen“.


