Vorstoß von Olaf Scholz

Hand aufs Herz: Ist die Rente mit 70 noch abzuwenden?

Deutschland steuert auf einen unaufhaltbaren Rentenkollaps zu. Was tun? Unser Kolumnist meint: Die Babyboomer müssen nicht bis zum Umfallen arbeiten.

Warum ist die Rentenkasse leer?
Warum ist die Rentenkasse leer?imago/Westend61

Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine Rentendebatte entfacht. Ein heißes Eisen in der Politik, schließlich ist jeder dritte Wähler mittlerweile älter als 60 Jahre. Der Elefant im Raum ist das Renteneintrittsalter. Einerseits fehlen in Deutschland Arbeitskräfte, andererseits ist der Rententopf zu klein. Jedes Jahr müssen rund 100 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt zugeschossen werden, um die gesetzliche Rentenversicherung am Leben zu halten. Auch ohne Glaskugel weiß man: Wenn die Babyboomer in Rente gehen, wird die Milliardensumme noch größer.

Scholz will die Geister austreiben, die er selbst gerufen hat

Der Kanzler will dagegen etwas unternehmen. „Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können“, sagte Scholz zuletzt der Funke-Mediengruppe. Gemeint sind sogenannte Frührentner, die vor der Regelaltersgrenze von derzeit knapp 66 Jahren in Ruhestand gehen. Letztes Jahr war das mehr als die Hälfte aller neuen Rentner. Viele schon mit 63 oder 64 Jahren, also weit vor der Regelgrenze. Das geht seit 2014 sogar abschlagsfrei, wenn man 45 Jahre Beiträge gezahlt hat.

Interessant: Die Einführung der Rente mit 63 war ein Baby der SPD, das auf Olaf Scholz und Andrea Nahles zurückgeht (heute Chefin der Arbeitsagentur, 2014 Arbeitsministerin). Der Kanzler will heute also die Geister austreiben, die er selbst gerufen hat.

Warum ist die Rentenkasse leer?

Unionspolitiker sind gleich auf den Zug aufgesprungen. CDU-Programmchef Carsten Linnemann fordert zum Beispiel: „Wer noch fit ist und noch kann, der wird in Zukunft länger arbeiten müssen.“ Die Lebensarbeitszeit müsse an die steigende Lebenserwartung gekoppelt werden. Rente also bald erst ab 70 Jahren? Auf eine genaue Zahl will sich die Union nicht festlegen. In der Parteizentrale arbeite man an einem Konzept, so der CDU-Chef Merz.

Das Grundproblem: Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sechs Beitragszahler auf einen Rentner, heute sind es nur noch zwei. Jeder Beitragszahler ist heute im Schnitt aber auch dreimal so produktiv wie damals. Dem technischen Fortschritt sei Dank. Gesamtwirtschaftlich gäbe es also kein Problem, anständige Renten zu zahlen und alle zu versorgen.

Der Wohlstand und die Einkommen sind in Deutschland aber schlecht verteilt. Die Agenda 2010 hat ein Loch in die Rentenkasse geschlagen. Durch die Arbeitsmarktreformen wurde der deutsche Niedriglohnsektor zu einem der größten in Europa. Jeder Fünfte arbeitet für Niedriglöhne. Und wer wenig verdient, zahlt eben auch wenig ein. Wer hingegen viel verdient, zahlt nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze ein. Die Schere zwischen Topverdienern und Niedriglöhnern macht die Rentenkasse leer.

Warum wir Deutschen so unproduktiv sind

Die Zahlen sind eindeutig: In den letzten drei Jahrzehnten ist die Wirtschaftsleistung preisbereinigt um 40 Prozent gestiegen, der durchschnittliche Bruttolohn aber nur um 16 Prozent. Die Mehrheit der Bevölkerung bekommt demnach ein immer kleineres Stück vom größer werdenden Kuchen.

Und trotzdem: Eine leere Rentenkasse ist noch das kleinste Problem. Wichtiger ist die Frage, ob wir auch mit weniger Erwerbstätigen noch genug Güter herstellen, um alle zu versorgen. Geld kann man auf Knopfdruck erzeugen, Güter nicht. Die müssen wir produzieren. Das wird häufig in der Debatte unterschlagen. Um in Zukunft genug zu produzieren, müssen wir so produktiv wie möglich sein und möglichst alle Arbeitskräfte nutzen. Doch es gibt zwei Probleme.

Fachkräftemangel? Die Zahlen sprechen dagegen

Erstens lahmt die Produktivität seit Jahren. Der jährliche Zuwachs liegt bei unter einem Prozent. In den 1960er-Jahren waren es noch fünf bis zehn Prozent pro Jahr. Dafür gibt es viele Gründe. Einen, den die Politik verantwortet: Investitionsstau. Langsames Internet, mies ausgebaute Verkehrsnetze, Hunderte Kilometer Autobahnstau täglich und behäbige Bürokratie sind eine Innovations- und Produktivitätsbremse.

Zweitens nutzen wir nicht alle unsere Arbeitskräfte. Überall ist die Rede vom Arbeitskräftemangel, aber die Zahlen sprechen dagegen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht von 1,82 Millionen offenen Stellen im 3. Quartal dieses Jahres aus. 1,4 Millionen sind sofort zu besetzen. Und für 450.000 Stellen bräuchte es nicht einmal einen Berufsabschluss.

Gleichzeitig sind aber 2,4 Millionen Menschen in Deutschland laut der Bundesagentur für Arbeit arbeitslos gemeldet. Rund eine weitere Million sucht auch Arbeit, ist aber in Umschulungsmaßnahmen, älter als 58 Jahre oder zum Stichtag der Erhebung krankgemeldet. Sie werden nicht als arbeitslos gezählt, sind es aber de facto. Obendrauf arbeiten fast 12 Millionen Menschen in Deutschland nur Teilzeit. Etwas mehr als eine weitere Million davon unfreiwillig, weil sie keine Vollzeitstelle gefunden haben. Macht also fast 4,5 Millionen Menschen, die Arbeit suchen – die meisten volle Stellen, andere nur mehr Stunden. Auf jede offene Stelle kommen also fast drei Arbeitssuchende. Das zeigt: Nicht Arbeitskräfte sind knapp, sondern Arbeitsstellen!

Die Politik muss ihre Hausaufgaben erledigen

Damit noch nicht genug. 4,5 Millionen Teilzeitkräfte geben laut dem Statistischen Bundesamt an, dass sie wegen der Familie oder der Pflege von Kindern und Angehörigen nur Teilzeit arbeiten. Das betrifft besonders Frauen. Genau da sieht der Kanzler „Steigerungspotenzial“. Um mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, „müssen wir aber Ganztagsangebote in Krippen, Kitas und Schulen ausbauen“, so Scholz treffenderweise.

Statt also die Menschen bis zum Umfallen schuften zu lassen, muss die Politik ihre Hausaufgaben erledigen. Einerseits gehört der Niedriglohnsektor abgeschafft, dann füllt sich auch die Rentenkasse. Andererseits muss der Investitionsstau gelöst und für echte Vollbeschäftigung gesorgt werden. Die Debatte um die Altersgrenze verschleiert nur das wahre Problem.