Als Russin, die schon seit zweieinhalb Jahren in Berlin lebt, entwickle ich in der derzeitigen Krisenstimmung eine neue Sicht auf das Leben. Der Ukraine-Krieg steht im Vordergrund: mit meinem Land, so weh es mir auch tut, als Aggressor und der Ukraine als Opfer. Da kann es keine zwei Meinungen geben.
Auf der anderen Seite lebt ein gewisser Teil meines Wesens immer noch in Russland, vor allem, weil ich noch nicht so lange in Deutschland lebe und vor dem Krieg mein Heimatland regelmäßig besucht hatte. Umso mehr, weil meine Familie und Freunde in Russland sind. In einem südrussischen Dorf weit weg von Moskau.
Nicht alle wählen Putin
Was können die Menschen, die ihr Leben lang in diesem kleinen russischen Dorf gelebt haben, für Russlands Ukraine-Krieg? Damals, in den 2000er-Jahren, haben sie Putin noch gewählt und später zum Großteil nicht mehr. Die meisten sind auch gegen Putins „Sonderoperation“ in der Ukraine, den Angriffskrieg also. Es wäre insofern merkwürdig, von einem Dorf mit kaum 500 Einwohnern (wobei die Hälfte von ihnen über 60 Jahre alt ist) Antikriegsproteste zu erwarten. Diese Menschen kümmern sich viel zu sehr um ihren eigenes Überleben. Bei vielen sind noch sowjetische Denkmuster und Ängste lebendig. In der Küche oder im Privatgespräch über die korrupten Beamten herziehen? Ja, das geht auf jeden Fall … Aber es gehört sich nicht, auf die Straßen zu gehen. Denn es gilt nach wie vor: Die im Kreml wissen es schon besser, was zu tun ist.
Diese Menschen, die so oder so ähnlich in vielen Dörfern Russlands leben und denken, lassen sich leicht von den Staatsmedien beeinflussen. Sie informieren sich aber nicht nur über das Staatsfernsehen, sondern auch über das Internet, wo sie auf eine vielfältige Bandbreite an Informationen stoßen: zensierte Nachrichten, in denen Wahrheiten über die russische Armee verboten sind und die Invasion nicht als solche bezeichnet werden darf, aber auch authentische Bilder des Schreckens von ukrainischen Opfern. Man muss wissen: In einem russischen Dorf ist die Internetverbindung oft viel besser als am Stadtrand Berlins.
So ist es möglich, dass sich Whatsapp-Gespräche zwischen mir und meinen Bekannten in Russland überhaupt erst ergeben können, aus denen ich die Logik meiner Landsleute im Krieg zu verstehen lerne. Ich erzähle ihnen über die Gräueltaten von Butscha und die tote vierjährige Lisa aus Winnyzja. Sie hören aufmerksam zu, bestreiten nichts und verteidigen auch niemanden und sagen am Ende fast flehend: „Bitte lass uns nicht darüber reden, ich schlafe sowieso so schlecht.“ Oder: „Wir haben nicht alle Informationen über diesen Krieg.“ Eine typische Ausrede, wenn man sich nicht mit den Verbrechen der eigenen Leute auseinandersetzen will. Ich werde emotional, lege den Hörer auf, versuche es später noch mal: aufklären, ohne einen direkten Konflikt zu wagen.
Am Ende geht es ihnen um andere Sachen. Sie verdrängen den Krieg und interessieren sich dafür, wie es den Menschen in Deutschland geht, ob sie wirklich unter der Inflation leiden und die Rezession fürchten – wie die Russen eben.
– „Ja“, sage ich einem Freund am Telefon bei einem persönlichen Gespräch. „Die Lebensmittel sind richtig teurer geworden. Und viele Familien und Rentner leiden darunter. Gerade bei Gas, Strom und Sprit drehen die Preise völlig durch.“
– „Siehste“, antwortet er. „Aber ist es nicht so, dass der Westen gerade ein Ölembargo gegen Russland durchgesetzt hat? Dann ist es doch logisch, dass die Preise steigen? Warum tut man das, wenn die eigenen Menschen am Ende schlechter leben?“
– „Weil man nicht von einem Land abhängig sein will, das gerade einen Angriffskrieg führt“, erkläre ich die westliche Entscheidung. Sie ist für die Menschen in Russland nicht immer offensichtlich. Ich frage provokant: „Warum führt Putin diesen Krieg, wenn sogar die eigenen Menschen am Ende leiden, ganz zu schweigen von den Ukrainern? Gazprom hat den Europäern das Gas gedrosselt. Jetzt warten die Deutschen auf das Ende der Wartung von Nord Stream 1 am 21. Juli mit der Hoffnung, dass danach wieder Gas aus Russland fließt. Sonst werden die Deutschen frieren. Was soll das Gerede in Moskau, man sei ein verlässlicher Lieferant?“
– „Geht es also bei der Gasdrosselung nicht um die Turbine, die Kanada nicht ausliefern wollte?“, fragt mein Freund verblüfft zurück. „Darum kommt doch weniger Gas nach Deutschland, oder? Gazprom braucht die Turbine.“
– „Gazprom hat den Pipeline-Durchlauf um 60 Prozent gedrosselt“, entgegne ich. „Kann es an einer einzelnen Turbine liegen? Selbst Gazprom-Chef Miller sagt dazu: ‚Unsere Ware, unsere Regeln‘. Man macht keinen Hehl daraus, dass man den Westen unter Druck setzen will. Und in Deutschland nennt man das Erpressung.“
Und trotzdem spricht aus ihnen gekränkter Stolz
Mein russischer Bekannter verstummt für einige Sekunden und kommt mit neuen Argumenten zurück.
– „Der Westen hat uns Russen einen Wirtschaftskrieg erklärt“, sagt mein Bekannter. „300 Milliarden Dollar (das Vermögen der russischen Zentralbank, Anm. d. Red.) wurden im Westen eingefroren. Warum eigentlich? Russland hat dafür doch jahrelang ordentlich Öl und Gas geliefert. Und jetzt wird das Geld weggesperrt? Tausende von westlichen Unternehmen haben ihre Verträge mit Russland einseitig gekündigt und gegen ihre vertraglichen Verpflichtungen verstoßen. Jetzt kommt eine Arbeitslosenwelle auf uns Russen zu. Und das Land rutscht ins Mittelalter ab.“
– „Der Wirtschaftskrieg ist eine Antwort des Westens auf Russlands Krieg in der Ukraine“, weise ich auf die Kausalitäten hin. „Ist es nicht etwas naiv, zu erwarten, dass der Krieg für Russland keine Folgen haben wird?“
– „Der Krieg ist scheiße. Die Ukrainer tun mir unendlich leid, das habe ich dir immer wieder gesagt. Aber wie kann ich das ändern? Sag du mir auch: Gab es in der neuesten Geschichte für andere Kriege mit Millionen von Opfern Sanktionen diesen Ausmaßes? Also stellt euch bitte nicht so naiv hin und fragt nicht so ungläubig, warum Gazprom jetzt das Gas drosselt. Wie du mir, so ich dir. Ist ein altes Gesetz. Nicht nur wir sollen wirtschaftlich leiden. Außerdem sagen die Politiker bei euch ja sowieso ständig, dass sie weg vom russischen Gas wollen.“
– „Der Westen wollte selbst entscheiden, wann Schluss ist“, erkläre ich. „Das eigentliche Leid findet in der Ukraine statt.“
– „Das Leid findet überall auf der Welt statt. Die Frage ist anders: Sind die Deutschen bereit, für die Ukraine zu frieren? Aber hab keine Angst: Niemand wird am Ende frieren. Man wird euch vielleicht ein bisschen einschüchtern und dann wieder mehr Gas liefern.“
Das hat mir ein Freund, Mitte 30, so wie ich ihn kenne, kein Putinist, voller Zuversicht im Gazprom-Namen versprochen. So sind die Russen. Sie mögen die Oligarchen nicht und stehen trotzdem noch zum Slogan aus der alten Werbung: „Gazprom, unser nationaler Schatz“. Als würden sie die russischen Bodenschätze mitbesitzen. Dabei bleibt es ihnen nicht verborgen, wie sehr die Oligarchen sich am „nationalen Schatz“ bereichern.
Viele fragen sich: Warum stellen sich die Menschen in Russland nicht gegen Putin? Sie sollten doch irgendwie einsehen, dass nicht der Westen sie wirtschaftlich ruiniert, sondern Putin? Sie müssten die eigenen Sorgen doch endlich Putin zur Last legen? Einsehen, dass der Krieg gegen die Ukraine die Ursache für ihr Leid ist und nicht die Sanktionen des Westens? Doch irgendwie erfüllen viele Russen auch diese Erwartung nicht. Nicht einmal diejenigen, die Putins Kriegskurs nicht unterstützen.



