Der Himmel über den verschneiten Schweizer Bergen von St. Moritz ist strahlend blau. Und doch träumen im Januar 2020 einige sehr reiche und moderne Menschen davon, wie sie hinter diesem Himmel eines Tages einen Asteroiden voller Gold entdecken. Dann werde es Gold wie Sand am Meer geben, fantasieren die Winklevoss-Zwillinge im luxuriösen Suvretta House vor einem ausgesuchten Publikum. Die Zuversicht der beiden – Cameron und Tyler, vor einigen Jahren noch von Mark Zuckerberg bei Facebook ausgetrickst – wird sich später als begründet herausstellen: Zwei Jahre später werden sie aus einigen Millionen Dollar laut Bloomberg 6,4 Milliarden Dollar gemacht haben. Doch das Wunder gelang ihnen nicht mit einem Gold-Kometen, sondern mit Krypto- und Blockchain-Investments.
In St. Moritz traf sich damals wie heute die Elite der Krypto-Investoren auf der Conference Finance Crypto (CfC). Unter ihnen sieht man 2020 vor dem offenen Kamin oder der Bibliothek auch einige bekannte Gesichter aus Deutschland, wie etwa den früheren Wirtschaftsminister Philip Rösler oder den als Wirecard-PR-Mann zu einiger Bekanntheit gelangten Karl Theodor von und zu Guttenberg. Zwischen all den adrett leger gekleideten, überwiegend männlichen Machern plaudert auch Eva Kaili, damals noch einfache EU-Abgeordnete und spätere Vizepräsidentin des EU-Parlaments, in der Kaffeepause am Stehtisch mit Investoren aus aller Welt. Auf dem Podium spricht sie, wie sich Teilnehmer erinnern, über Regulierung – also darüber, wie die staatlichen Behörden die Wild-West-Methoden der ersten Jahre in ein zivilisiertes Geschäftsgebaren überführen sollen. Die Konferenz in St. Moritz spielt beim Austausch von Politik und Industrie eine wichtige Rolle. Der Chef der Konferenz, Nicolo Stöhr, erzählt: „Ein Teilnehmer hat mir einmal gesagt, er fühlt sich bei unserer Konferenz wie beim World Economic Forum (WEF) in seinen frühen Tagen.“ Das WEF gilt heute als wichtigster Treffpunkt von Regierungsvertretern aus aller Welt mit den Chefs der großen Konzerne.
Kailis „Abgang hinterlässt ein Vakuum, das gefüllt werden muss“
Drei Jahre später, im Januar 2023, ist alles anders: Am Freitag dufte Eva Kaili nach fast einem Monat erstmals wieder ihre 22 Monate alte Tochter Adriani sehen – doch nicht in der würzigen Luft der Schweizer Berge, sondern im düsteren Haren-Gefängnis in Brüssel. Dort sitzt die Griechin seit ihrer Verhaftung am 9. Dezember 2022. Ihr wird „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ sowie Korruption und Geldwäsche vorgeworfen. In ihrer Wohnung waren 150.000 Euro in bar vorgefunden worden. Das passt eigentlich nicht zu einer Blockchain-Expertin, weil die Krypto-Leute Bargeld ja ablehnen. Allerdings sei Bargeld immer noch Symbol der Freiheit in einer unübersichtlichen Welt, ist auch aus der Krypto-Branche zu hören – man weiß ja nie. Noch ist nicht klar, welche Rolle Kaili in der neuen Krypto-Welt gespielt hat. Doch ihr Anwalt ist überzeugt, dass die Härte, mit der die belgische Justiz gegen sie vorgeht, den Sinn habe, Kaili zum Reden zu bringen. Die lange Trennung von ihrer Tochter solle sie brechen, sagte Michalis Dimitrakopoulos am Donnerstag dem Sender Alpha TV.
Trotz aller Widrigkeiten sind viele der Pioniere überzeugt, dass die Zukunft im Digitalen liegt – auch was Geld, Verträge und Notariatsakte anlangt: „Krypto ist ein Bereich, der bleiben wird – auch wenn wir heute noch nicht sagen können, wie er in ein paar Jahren aussehen wird“, sagt Nicolo Stöhr. Erwin Voloder, Senior Policy Fellow von der European Blockchain Association (EBA) in München, sieht die neue Technologie im ganz großen Zusammenhang. Er sagt der Berliner Zeitung: „Krypto und Blockchain sind fundamental geopolitische Themen – hier wird entschieden, ob die Welt multipolar organisiert wird. Und da muss sich Europa fragen: Wo ist unser Platz?“ Der Platz von Eva Kaili ist vorerst verwaist. Voloder sagt: „Ihr Abgang hinterlässt ein Vakuum, das gefüllt werden muss.“
Kaili als „kompetent“ im Krypto- und Blockchain-Bereich betrachtet
Bei näherem Hinsehen zeigt sich: Eva Kaili war vermutlich wichtiger als bisher bekannt. Denn das Bild, das nach dem Korruptionsskandal in der Öffentlichkeit von ihr gezeichnet wird, scheint ihr nicht gerecht zu werden. Voloder, über die EBA eine der wichtigsten Stimmen der Branche, sagt über die gefallene Politikerin: „Sie machte einen kompetenten Eindruck und bemühte sich, das Thema unvoreingenommen zu beurteilen. Kaili habe sich seit den 2010er-Jahren mit der Materie beschäftigt, hat also ein gutes Verständnis für das Thema entwickelt.“ In einem sehr kenntnisreichen Interview mit der Oxford Blockchain Foundation auf der Website Cointelegraph sagte Kaili im August 2022, es sei „heute wichtiger als je zuvor, die geopolitische Dimension eines Regulierungsvorhabens für neue Technologien zu berücksichtigen“. Es gäbe „gegenseitige Abhängigkeiten zwischen den führenden Playern und den geografischen Regionen, die sie kontrollieren, das können wir ganz klar in Asien, Europa und Amerika beobachten“. In diesem Kontext seien „digitale Produkte und Dienstleistungen als Machtwerkzeuge zu verstehen, die großen wirtschaftlichen Einfluss haben und für eine Art ,digitalen Imperialismus‘ oder ,Techno-Nationalismus‘ sorgen“. Auch zu technischen Details äußert sie sich sehr kompetent. Daher dürfte die Lücke, die sie reißt, von Bedeutung sein. Nicolo Stöhr sagt: „Mit Eva Kaili ist von der Position her jetzt eine Befürworterin weg.“ Erwin Voloder warnt die EU davor, jetzt die ganze Branche zu verdammen und sich der technologischen Innovation zu verweigern. Es bestehe die Gefahr, „dass sich die EU nach dem Skandal sagt: Warum setzen wir an diese Stelle nicht jemanden, der sich der Branche mit einer harten Hand annimmt?“ Es wäre jedoch falsch, „wenn die EU jetzt bei der Nachfolge sagt: Wir machen Tabula rasa, um unsere Reputation wieder herzustellen“. Voloder: „Wenn das Vakuum mit jemandem gefüllt wird, der sagt, Bitcoin ist nur Mist und gefährlich, wäre das völlig verkehrt.“
Denn offenbar hat die EU im Zukunftsfeld Krypto und Blockchain still und heimlich wichtige Fortschritte gemacht: „Geopolitisch liegt Europa in diesem Spiel vor allen anderen“, sagt Voloder: „Die Lingua franca der EU ist die Regulierung – die Industrie kann sich darauf verlassen, daher ist Europa als Standort so attraktiv.“ In den USA sei noch völlig unklar, wie reguliert wird – und wer dafür zuständig ist. Die USA befänden sich in einer speziellen Situation. Sie müssen den Dollar verteidigen und werden daher zunächst vermutlich eine Regulierung für Kryptowährungen vornehmen, die an den Dollar gekoppelt sind, sogenannte Stablecoins. Erwin Voloder: „Die USA werden zunächst Stablecoins regulieren – ihr oberstes Ziel ist es, den Dollar als Weltleitwährung abzusichern. Denn der Dollar ist das wichtigste Instrument der amerikanischen Außenpolitik.“ Die EU müsse sich „gegenüber den USA und China abgrenzen. Die Blockchain könne helfen, „das Ökosystem der europäischen Werte auf der Weltbühne zu vertreten“. Viele Menschen wollen ihre Finanzen völlig eigenverantwortlich verwalten – das Ideal des souveränen Bürgers ist ein Ideal der EU und wird von der Krypto-Community unterstützt. Die EU hat im Grunde jetzt eine gute Chance, eine eigenständige Position einzunehmen und weltweite Standards zu setzen, weil in Washington aktuell innenpolitisches Chaos tobt.
„Der Regulator muss selbst verstehen, worum es bei der Technologie geht – nur dann kann er den Bürgern sagen: Wenn du nicht verstehst, worum es geht, solltest du eine solche Technologie nicht verwenden.“
„Die EU ist die erste Jurisdiktion in einer großen Volkswirtschaft, die eine Regulierung hat.“ Allerdings sind die amerikanischen Behörden immer für Überraschungen gut: „Die Amerikaner werden entweder gar nichts machen oder mit einer schnellen Regulierung kommen, die dann für den ganzen Krypto-Bereich als Modell dient“, sagt Voloder.
Auf der Suche nach einem digital kompetenten Nachfolger
Das Problem der Krypto-Regulierung bestehe darin, dass die Blockchain „kompliziert und mehrdimensional“ sei. Eva Kaili hatte als Politikerin der jungen Generation einen Vorteil bei digitalen Themen. Aber es sei nicht nur eine Frage des Lebensalters, „Politiker können und müssen sich immer weiterbilden in Bereichen, wo sie für die Gesellschaft wichtige Entscheidungen treffen“, sagt Voloder. Die Bundesregierung hat die Bedeutung der neuen Möglichkeiten im geopolitischen Kontext allerdings noch nicht erkannt. Erwin Voloder zeigt sich nach einem kürzlich abgehaltenen Hearing im Bundestag ernüchtert. Für ihn „und für viele aus der Industrie“ sei die Veranstaltung ein Schock gewesen. Experten hätten nicht Sachargumente vorgetragen, sondern rein ideologisch argumentiert. Voloders Fazit: Deutschland wolle mit Verve „gegen einen angeblichen Hyper-Kapitalismus vorgehen“. Man sehe in Berlin nicht, dass „der Gesellschaft ein Schaden entsteht, wenn sich die Technologie nicht entwickeln kann“.
In diesem Bereich scheint Eva Kaili wichtiger gewesen zu sein als bisher bekannt. Sie engagierte sich im Übrigen nicht nur in den Bereichen Krypto und Blockchain. Der Hamburger Piraten-Abgeordnete Patrick Breyer hatte mit ihr im Bereich der Überwachung und Kontrolle von Chats zu tun: „Sie hat auf mich einen vernünftigen Eindruck gemacht, wenngleich ihr im Bereich Chatkontrolle eindeutig fachliche Kenntnisse gefehlt haben.“ Kaili habe „als Vizepräsidentin mitten im Gesetzgebungsverfahren mit Mitteln des Parlamentspräsidiums Partei ergriffen für die Interessen von Unternehmen“, sagte Breyer der Berliner Zeitung. Dies sei „absolut inakzeptabel“. Sie habe bei der Chatkontrolle „eine Position vorweggenommen, die das Parlament bis heute noch gar nicht festgelegt hat“. Breyer wirbt dafür, dass die EU-Vizepräsidenten künftig keine politischen Aufgaben nach außen übernehmen sollten. Das könnten „die Ausschussvorsitzenden übernehmen, die sind demokratisch legitimiert und fachlich geeignet“. Breyer räumt allerdings ein, dass Fachkompetenz auf der politischen Seite wichtig ist: „Es wäre schon gut, wenn wir jemanden im Präsidium haben, der vom digitalen Zeitalter etwas versteht.“ Also vielleicht jemanden wie Eva Kaili?






