Update Freitag 19.12., 10 Uhr: Die Entscheidung ist gefallen, die von Friedrich Merz forcierte Lösung mit den russischen Staatsvermögen hat sich nicht durchgesetzt (mehr dazu hier).
Die italienische Zeitung La Repubblica schreibt:
„Eine politische Niederlage für Ursula von der Leyen und Friedrich Merz, die bis zuletzt darauf gedrängt hatten, die Ressourcen aus den Vermögenswerten Moskaus zu nutzen. In Bezug auf die russischen Vermögenswerte wird die Kommission ihre technische Prüfung fortsetzen, um zu klären, ob dies in den kommenden Monaten zu einer praktikablen Option werden könnte. Vorerst jedoch wird sie auf unbestimmte Zeit vertagt und faktisch ad acta gelegt.
Ja, wahrscheinlich könnten sie - wie Merz erklärte - künftig dazu verwendet werden, den Kredit in Höhe von 90 Milliarden zurückzuzahlen, falls sich Russland nicht an der Wiederaufbauhilfe für die Ukraine beteiligt. Von der Leyen und Merz müssen daher die Zweifel akzeptieren, die hinsichtlich der eingefrorenen Vermögenswerte aufgekommen sind, und den klassischen Kredit akzeptieren.“
The Times aus London schreibt:
„Die erschöpfenden Verhandlungen, die erst um 3.00 Uhr am Freitagmorgen endeten, führten zu dem Kompromiss, die Ukraine durch gemeinsame Kredite von 24 Ländern zu finanzieren, die durch den Haushalt der Europäischen Union abgesichert werden. Die russischen Staatsvermögen werden nicht angetastet, bleiben jedoch gesperrt, bis Moskau die Ukraine durch Reparationszahlungen entschädigt, die dann wiederum zur Rückzahlung des zinslosen Darlehens verwendet werden sollen.
Der Kompromiss war ein Sieg für den belgischen Ministerpräsidenten Bart De Wever, nachdem Deutschland und Polen mit einem „Plan B“ ausmanövriert worden waren, den zuerst Frankreich und Italien unterstützt hatten. (...) Bundeskanzler Friedrich Merz hatte sich seit September für die Beschlagnahmung der eingefrorenen Vermögenswerte Russlands zur Finanzierung der Ukraine eingesetzt - was Belgien und andere Länder erschreckte, die finanzielle Turbulenzen befürchteten.“
Die Financial Times berichtet:
„Es gab keinen Plan B, hieß es. Bis es einen geben musste. Am Donnerstagabend, kurz nach 21 Uhr, wurde den 27 Staats- und Regierungschefs der EU eine aktualisierte Version eines von Deutschland eingebrachten Vorschlags präsentiert, der die Nutzung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte für einen 90-Milliarden-Euro-Kredit an die Ukraine vorsah. Doch die Komplexität des Vorschlags schreckte selbst wohlgesinnte Staats- und Regierungschefs ab. ,Das war von vornherein zum Scheitern verurteilt', sagte ein hochrangiger EU-Diplomat, der über die Gespräche informiert war. ,So etwas Technisches und Undurchsichtiges verunsicherte die Staats- und Regierungschefs … es wirkte wie ein Hinterhalt.'“
Politico ordnet Merz in die Rubrik „Verlierer“ ein und schriebt:
„Man kann sich kaum an einen erfolgloseren EU-Gipfel für einen deutschen Bundeskanzler erinnern. Innerhalb weniger Stunden erlitt Merz zwei schwere Niederlagen: die Verschiebung des Mercosur-Abkommens und, noch gravierender, das Scheitern des von ihm vehement vorangetriebenen Plans zur Einfrierung von Vermögenswerten.“
Ablauf des Gipfels
Brüsseler Medien spekulierten am Donnerstagabend zunächst, dass die Staats- und Regierungschefs spätabends eine Entscheidung treffen werden. Der irische Europaminister Thomas Byrne sagte Euractiv, es fänden „konstruktive Gespräche“ statt, um eine Lösung für die ukrainischen Finanzen zu finden.
Doch am späten Abend sagte ein anonymer Diplomat der Brüsseler News-Website Euractiv, dass sich die Verhandlungen noch Stunden ziehen könnten.
Desaster-Gipfel für Merz?
Euractiv analysiert um 23.20 Uhr in einem Posting die Rolle von Bundeskanzler Friedrich Merz, dem ein „Desaster-Gipfel drohe.
Euractiv schreibt: „Bundeskanzler Friedrich Merz droht ein desaströser Gipfel, sollte der von ihm so vehement geforderte Reparationskredit für die Ukraine nicht zustande kommen. Berlin, das sich vehement für den Abschluss des Mercosur-Handelsabkommens am 20. Dezember eingesetzt hatte, musste bereits akzeptieren, dass sich die Unterzeichnung bis ins nächste Jahr verzögern wird. Italien und Frankreich drängten beide auf mehr Zeit für die Einigung über das EU-Südamerika-Handelsabkommen, und Ursula von der Leyen stimmte einer Wartezeit bis Januar zu.“
Und weiter zur Frage der Finanzierung der Ukraine: „Da Belgien nun weiterhin Forderungen nach einer Finanzierung der Ukraine stellt, die von vielen anderen Ländern als übertrieben empfunden werden, sieht sich Merz gezwungen, einer ihm missfallenden Finanzierungsmethode zuzustimmen: der gemeinsamen Kreditaufnahme. Gemeinsame Kreditaufnahme wird typischerweise auch von südeuropäischen Ländern wie Italien befürwortet. Frankreich hat seine anfängliche uneingeschränkte Unterstützung für den Reparationskredit deutlich zurückgefahren. Sollte Merz nachgeben und einer gemeinsamen Kreditaufnahme für die Ukraine zustimmen, könnte er gedemütigt nach Berlin zurückkehren.“
Es läuft auf gemeinsame Schulden hinaus
Der neue Entwurf der Schlussfolgerungen zur Finanzierung der Ukraine – der Euractiv vorliegt – enthält demnach Formulierungen zur „vollständigen [und unbegrenzten] Solidarität und Risikoteilung“ … „von der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten mit betroffenen Mitgliedstaaten und Finanzinstitutionen in der EU im Rahmen des Reparationsdarlehens“.
Euractiv berichtet um 21.48 Uhr , dass sich drei EU-Diplomaten zufolge die EU-Länder der Option annäherten, der Ukraine anstelle des Reparationskredits mit gemeinsamen Schulden zu helfen. Eine weitere mit den Gesprächen vertraute Person erklärte laut Euractiv, „die Stimmung bezüglich des Kreditprogramms sei nicht gut, der Reparationskredit bleibe aber das angestrebte Ergebnis“. „Bart De Wever ist sehr stur“, sagte demnach ein EU-Diplomat.
Frankreich und Italien schlagen zu
Zuvor hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag mitgeteilt, dass das Mercosur-Handelsabkommen nicht wie geplant am Samstag unterzeichnet werde, sondern erst im nächsten Monat. Frankreich und Italien hatten angekündigt, gegen die Unterzeichnung zu sein, weil Mercosur für die europäische Landwirtschaft nicht vorteilhaft sei. Von der Leyen hatte versucht, das Abkommen trotzdem durchzudrücken. Sie hatte für den 20. Dezember in Brasilien einer Unterzeichnungszeremonie zugestimmt. Nun müssen Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay die EU-Absage zur Kenntnis nehmen. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva war vom Hin- und Her der EU schon genervt, dass er drohte das Abkommen komplett platzen zu lassen.
Lula erklärte am Donnerstag laut Politico, das sich auf einen anonymen Diplomaten beruft, er habe dem Wunsch der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nach einer Verschiebung der Unterzeichnung zugestimmt, damit diese den italienischen Landwirten versichern könne, dass sie nicht durch billiges Geflügel und Rindfleisch unterboten würden. Deutschland eilte von der Leyen zwar zu Hilfe, konnte aber nicht mehr erreichen, als ein fixes neues Datum für die Unterzeichnung zu fordern, so Politico.
Merz gegen Russland
Nun hofften Merz und Ursula von der Leyen, sich wenigstens in der Frage der Ukraine-Finanzierung durchzusetzen. Von der Leyen war im Laufe der vergangenen Tage offenbar umgeschwenkt und kann der Idee von Eurobonds, also gemeinsamen Schulden einiges abgewinnen. Von der Leyen könnte die Krise überwinden, wenn Merz seinen Widerstand gegen Gemeinschaftsschulden zustimmt.
Merz setzte bisher voll auf den Zugriff auf russisches Staatsvermögen. Dieses sollte laut Merz vor allem für die ukrainische Armee verwendet werden. Merz hatte vor dem Gipfel auf X geschrieben: „Wir wollen die russischen Vermögenswerte dafür nutzen, die ukrainische Armee für mindestens zwei weitere Jahre zu finanzieren. Wir wollen diesen Schritt nicht gehen, um den Krieg zu verlängern. Wir wollen ihn gehen, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden.“
Merz wollte zunächst den Forderungen Belgiens nachkommen und auch in Deutschland festgesetztes Vermögen der russischen Zentralbank für die Unterstützung der Ukraine bereitstellen. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur am Rande des EU-Gipfels in Brüssel aus Verhandlungskreisen. Ob andere Staaten, wie etwa Frankreich, auch einlenken werden, ist noch unklar. Frankreich hat sich schon bisher bei der Finanzierung der Ukraine vornehm zurückgehalten und nur einen Bruchteil der Mittel, die Deutschland aufgebracht hat, beigesteuert.
A peak into the 'war room' of the Belgian 🇧🇪 delegation at the European Council. It will be a long day and night working hard to defend the country's interests. pic.twitter.com/MC9I0jTP7p
— Pascal Heyman (@PascalHeyman) December 18, 2025
Entscheidung bis Ende des Jahres
Die Entscheidung müsse jedenfalls „bis Ende dieses Jahres“ getroffen werden, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag in Brüssel. Ein hochrangiger deutscher Regierungsvertreter sagte der AFP nach Beginn der Gespräche, es gebe „Bewegung“ in „die richtige Richtung, aber wir sind noch nicht da“.
Selenskyj hatte vor dem Gipfel erklärt, fall keine Einigung erzielt werde, wäre dies „ein großes Problem für die Ukraine“. Ein Stopp der europäischen Ukraine-Hilfe sei gefährlicher als die Nutzung der russischen Vermögen. „Rechtliche Schritte“ Moskaus seien „nicht annähernd so beängstigend, wie wenn Russland an den eigenen Grenzen steht“, sagte er. Solange die Ukraine Europa verteidige, „müsst ihr der Ukraine helfen“, forderte Selenskyj.
Russland geht gegen österreichische Bank vor
Ein russisches Gericht wies unterdessen die größte noch in Russland aktive westliche Bank an, 339 Millionen Euro Entschädigung an das russische Unternehmen Rasperia zu zahlen. Die Raiffeisen Bank International (RBI) aus Österreich erklärte, der Betrag entspreche dem aufgrund der EU-Sanktionen in Wien eingefrorenen Vermögen des Unternehmens.
Selenskyj drängte als Gast auf ein schnelles Votum. „Die heutige Entscheidung bedeutet, ob uns die Partner verstehen oder nicht“, sagte der Staatschef des von Russland angegriffenen Landes bei einer Pressekonferenz am Rande des Treffens. Spätestens Ende des Jahres müsse Klarheit herrschen. Wenn man die Ukraine nicht unterstütze, seien die Chancen hoch, dass das Land nicht bestehen könne, so Selenskyj. „Dann wird Europa bereits nicht mehr mit Geld, sondern mit Blut bezahlen.“ Er pflichtete damit Polen Regierungschef Donald Tusk bei, der vor Beginn des Treffens entsprechend gemahnt hatte: „Entweder heute Geld oder morgen Blut.“ Er meine damit nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa.
Für die militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine wird in den kommenden zwei Jahren Schätzungen des IWF und der EU-Kommission zufolge voraussichtlich ein dreistelliger Milliardenbetrag benötigt. Der Finanzbedarf belaufe sich im Zeitraum 2026 bis Ende 2027 auf etwas mehr als 137 Milliarden Euro. Europa will davon zwei Drittel abdecken.
Selenskyj meldet militärische Erfolge
Die Rückeroberung der Stadt Kupjansk durch ukrainische Truppen habe an Selenskyjs Einschätzung Eindruck auf seine amerikanischen und europäischen Gesprächspartner in Berlin gemacht. „Die Tatsache, dass ich persönlich dort war, hat klargemacht, dass Putin lügt, wenn er über neue besetzte Gebiete spricht“, sagte Selenskyj der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine in Kiew zufolge. „Das hat meine Gespräche mit den Amerikanern beeinflusst, es hat die Gespräche mit den Europäern sehr stark beeinflusst.“ Russland gibt seit November an, dass die Stadt im Gebiet Charkiw von seinen Truppen besetzt sei. Laut westlichen Informationen sollen ukrainische Einheiten in den vergangenen Wochen aber weite Teile von Kupjansk wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben.
Selenskyj besuchte am Freitag der dpa zufolge Kupjansk. Bei seinen Gesprächen in Berlin führte er den Besuch als Beleg an, dass das russische Vorrücken unaufhaltsam sei. Das russische Verteidigungsministerium blieb auch am Donnerstag bei der Darstellung, dass Kupjansk „zuverlässig unter Kontrolle“ sei. Russische Staatsmedien räumen allerdings ein, dass dem nicht so sei und berichten, die Lage würde sich „zuspitzen“, beide Seiten „ringen um Kontrolle“.
EU auf Kurs Erweiterung
Auf dem EU-Gipfel herrschte am Vormittag Einigkeit, dass eine Erweiterung der EU anzustreben sei. Zu diesem Zwecke hatten sich Staats- und Regierungschefs der Westbalkanländer – darunter Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro und Nordmazedonien – mit ihren EU-Angestellten zu einem Gipfeltreffen in Brüssel getroffen. Serbien sagte die Teilnahme kurzfristig ab. Serbien gilt der EU zu Russland-nahe. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić sagte, er wolle sein Volk nicht in die Irre führen und den Eindruck erwecken, es gäbe Fortschritte bei den Gesprächen mit der EU. Während der Beitritt für die Ukraine als Teil der Friedensverhandlungen gilt, werden die Hoffnungen anderer Länder regelmäßig gedämpft.
Protest der Landwirte in Brüssel
Während des Gipfels waren Landwirte aus ganz Europa nach Brüssel gekommen, um gegen die geplante Haushaltsreform der Kommission zu protestieren. Sie prangerten die Kürzungen der Subventionen und den vorgeschlagenen „Einheitsfonds“ an, der ihrer Ansicht nach die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) gefährdet. In den frühen Morgenstunden rollten laut Brüsseler Medien Traktoren in die Stadt, und die Landwirte versammelten sich zu einem Marsch ins Europaviertel, während die EU-Staats- und Regierungschefs im Rat tagten. Die EU-Landwirtschaftsverbände Copa und Cogeca, die den Protest anführten, sprachen von 10.000 Demonstranten aus den 27 EU-Ländern.
