Von Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst war in der Vergangenheit wenig zu erwarten. Die Gewerkschaften sind schwach aufgestellt, der Organisationsgrad ist in vielen Branchen gering. Und wie sollen die Interessen von gut besoldeten Beamten und prekär beschäftigten Erzieherinnen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden?
Die Folge waren Reallohnverluste für die breite Masse. Pflegerinnen, Erzieherinnen und Busfahrer, die während der Corona-Pandemie die Versorgung am Laufen hielten, wurden im Regen stehen gelassen. Zum Teil verzichteten Gewerkschaften während der Pandemie sogar auf Lohnerhöhungen, um die Wirtschaft nicht zu sehr zu belasten. Mittlerweile macht die Inflation das Leben für viele Beschäftigte, besonders in den unteren Lohngruppen, zunehmend unbezahlbar.
Außerdem ist der öffentliche Dienst drastisch unterfinanziert. Dem Staat fehlen laut einer Studie des Beamtenbunds fast 330.000 Mitarbeiter. Schulen und Kindergärten werden wegen des Personalmangels immer mehr zu Verwahranstalten. Ein Krankenhausaufenthalt wird für die Patienten zum Risiko, weil Pflegekräfte auf der Station allein zu viele Patienten betreuen müssen. In Berlin ist der Mangel besonders krass. Wer versucht, einen Termin beim Bürgeramt zu bekommen, kann ein Lied davon singen.
Offensichtlich wurde die Demontage der Infrastruktur im Sommer letzten Jahres. Die Ampel brachte mit dem 9-Euro-Ticket eine gute Idee auf den Weg. Familien mit geringen Einkommen sollten die Möglichkeit bekommen zu verreisen. Die finanzielle Entlastung wirkte als Inflationsbremse, weil ärmere Menschen besonders auf den ÖPNV angewiesen sind. Und das Klima wurde geschont, weil ein Bahnticket zu bezahlbaren Preisen eine ernsthafte Alternative zum Auto ist. Doch die Umsetzung entpuppte sich als Desaster für Reisende und Beschäftigte. Das Zugpersonal war dem Ansturm nicht gewachsen und bekam obendrein den Unmut der Bahnkunden zu spüren.
Die Gewerkschaften haben aus den Fehlern der Vergangenheit konsequente Schlüsse gezogen: Für gesellschaftliche Fragen müssen Bündnisse geschlossen werden. Klimaschutz kann es nur geben, wenn der ÖPNV ausfinanziert wird. Statt der Klimakleber, die durch die Blockade des Feierabendverkehrs die Wut der Berufspendler auf sich ziehen, demonstriert Verdi gemeinsam mit Fridays for Future für den nachhaltigen Ausbau des Bus- und Bahnnetzes und für mehr und gut bezahltes Personal.
Das Beispiel zeigt: Lösungen für die großen Herausforderungen wie den Klimawandel sind möglich. Nur müssen die politisch Verantwortlichen auch wollen. Dass die Arbeitgeber in den bisherigen Verhandlungsrunden noch nicht mal die 3000 Euro Einmalprämie angeboten haben, die der Bund im Rahmen der konzertierten Aktion in Aussicht gestellt hat, nehmen viele Beschäftigte als Provokation wahr.
Ein hoher Lohnabschluss wäre ein Signal an andere Branchen
Dabei ist die Lage ernst, denn ein ausfinanzierter öffentlicher Dienst ist wichtig für alle. Deshalb ist es richtig, dass die Gewerkschaften den Verteilungskonflikt ins Zentrum der Auseinandersetzung rücken. Schon vor den Streiks in der kommenden Woche mobilisieren die Gewerkschaften in Berlin zu einer Demonstration unter dem Motto „Wir zahlen nicht für eure Krise“. Während die Gewinne der größten deutschen Unternehmen auch während der Corona-Pandemie und des Ukrainekriegs gestiegen sind, sind die Reallöhne der Beschäftigten gesunken. Hohe Mieten und steigende Verbraucherpreise zehren bei allen Beschäftigten die Einkommen auf. Ein hoher Lohnabschluss im öffentlichen Dienst wäre ein Signal an andere Branchen. Die Löhne müssen auf breiter Front steigen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Verdi hat sich für die Durchsetzung der Ziele Verstärkung geholt. Die Tariflaufzeiten wurden koordiniert, sodass die Verhandlungen im öffentlichen Dienst mit der Bahn zusammenfallen. Verdi hat jetzt mit der Eisenbahnergewerkschaft EVG einen starken Verbündeten mit an Bord. Am Montag und Dienstag wird der Verkehr in weiten Teilen der Republik zum Erliegen kommen. Bahnhöfe, Flughäfen, Autobahntunnel und Wasserstraßen werden bestreikt.



