Wirtschaft

Deindustrialisierung kein „Popanz“ mehr? Für DIW-Chef Fratzscher plötzlich „ein reales Risiko“

Der prominente Ökonom Marcel Fratzscher tat die Abwanderung der Wirtschaft früher als „Popanz“ ab, heute sieht er darin „ein reales Risiko“. Wie meint er das?

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, polarisiert mit seinen Einschätzungen über die Zustände der deutschen Wirtschaft. 
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, polarisiert mit seinen Einschätzungen über die Zustände der deutschen Wirtschaft. Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Die gestiegenen Energiekosten, die Überbürokratisierung der Verwaltung und attraktive Paketangebote mit Steueranreizen im Ausland stellen viele Unternehmen vor die Frage, ob sie ihre Zukunft noch in Deutschland sehen. Die einen investieren erst mal lieber in Nordamerika oder China, die anderen erwägen eine Abwanderung.

Vertreter der Industrie warnen in dieser Hinsicht schon seit Monaten vor einer drohenden Deindustrialisierung Deutschlands, die nach ihrer Prognose unbedingt eintreten wird, wenn die Politik nichts Wirksames unternimmt. Wie viel Panikmache ist berechtigt? Fakt ist: In Deutschland werden laut einer neuen Studie des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) kaum neue Investitionen mehr getätigt

DIW-Chef Fratzscher früher: Deindustrialisierung Deutschlands ein „Popanz“

Nicht alle Ökonomen teilen jedoch die Warnungen vor einer Deindustrialisierung. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und der wichtige Politikberater Marcel Fratzscher sorgte im Dezember des letzten Jahres für Aufruhr unter den Industrieverbänden, als er die Prognose als „einen Popanz“ abgestempelt hatte. Es sei „ein Schreckgespenst“, das aufgebaut werde, um „der Politik Geld aus den Rippen zu leiern“, sagte der Analyst der Augsburger Allgemeinen. „Wenn die BASF chemische Grundstoffe nun billiger in den USA herstellt, ist das insgesamt für das Unternehmen besser und damit auch für die deutsche Wirtschaft.“

Im letzten ZDF-Interview Anfang August behauptete Fratzscher, die wirtschaftliche Lage im Augenblick sei schwierig in Deutschland, doch es sei kein Grund, Panik zu schieben. Den Industriestrompreis lehnte 52-Jährige als „nicht nur schädlich und teuer“, sondern auch als „kontraproduktiv“ ab und forderte stattdessen „gute Rahmenbedingungen“ für mehr Innovationen. 

Darauf folgte ein emotionaler Kommentar des Hauptgeschäftsführers des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Wolfgang Große Entrup, auf LinkedIn. „Herr Marcel Fratzscher, jetzt wird’s gefährlich‼️‼️“, warnte Große Entrup – Deutschlands energieintensive Industrie sei am Standort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig. Die hohen Energiekosten seien durchaus eine Bedrohung für die Industrie, gefolgt von hohen Steuern, Fachkräftemangel, „grottiger“ Digitalisierung und schlechter Infrastruktur.

DIW-Chef Fratzscher heute: Deindustrialisierung „ein reales Risiko“

Nun veröffentlicht Fratzscher einen Beitrag unter dem Namen „Programm für Deutschlands Transformation“, in dem er seine Vorschläge für die Rettung der deutschen Wirtschaft zusammenfasst. Plötzlich nennt Fratzscher die Deindustrialisierung – den Verlust von Produktion und Arbeitsplätzen in bis dato hochinnovativen und wettbewerbsfähigen deutschen Industrieunternehmen – „ein reales Risiko“, auch weil „China und die USA mit aggressiven Programmen darauf abzielen, Investitionen und Innovation aus Europa und Deutschland in ihre Volkswirtschaften zu verlagern“. Dieser plötzliche Sinneswandel ist umso überraschender, weil Fratzscher früher auch im Handelsblatt-Gastbeitrag erklärte, diese Gefahr würde erst bestehen, wenn Firmen „den digitalen und ökologischen Wandel“ verschlafen würden.

Jetzt stellt er aber fest, die ökologische, wirtschaftliche und digitale Transformation sei in den letzten 15 Jahren „sehr offensichtlich“ bereits verschlafen worden, und es liege an „zu geringen öffentlichen und privaten Investitionen in neue Technologien, Produkte und Prozesse“. Es sei daher eine „Krise mit Ansage“. Die Bundesregierung müsse jetzt nicht auf ein kurzfristig angelegtes Konjunkturprogramm mit den Subventionen, dem Industriestrompreis und einer Steuersenkung für die Unternehmen setzen, sondern auf „ein langfristig angelegtes Transformationsprogramm“ mit mehr öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur und Bildung, einer Entbürokratisierung, Digitalisierung und Reformen der Sozialsysteme, fordert Fratzscher. 

Weitere Kritik am Wirtschaftsplan des DIW-Chefs – Fratzscher überrascht mit Antwort

Beginnt mit dem Umdenken des Politikberaters – anders lässt sich seine neueste Einschätzung nicht einordnen – auch eine Umkehr in der Politik? „Dass Herr Fratzscher angesichts zunehmend schlechter Wirtschaftskennzahlen eingesteht, dass die Deindustrialisierung doch kein Popanz ist, ist ja schon mal ein Fortschritt“, lobt der VCI-Geschäftsführer Große Entrup gegenüber der Berliner Zeitung. „Er erkennt endlich an, dass Deindustrialisierung den Verlust von Produktion und Arbeitsplätzen in bislang hochinnovativen und wettbewerbsfähigen deutschen Industrieunternehmen bedeuten würde.“

Die Vorschläge von Fratzscher zu Innovationen, Digitalisierung und Reformen der Sozialsysteme findet der VCI-Geschäftsführer zwar richtig und wichtig. Doch bei den „eigentlichen Ursachen der Strukturkrise wie Energieknappheit“ fehle es Fratzscher weiterhin am Problembewusstsein, so die Kritik. Hochinnovative und wettbewerbsfähige Industrieunternehmen würden nicht nur eine Transformation der öffentlichen Systeme brauchen, sondern durchaus auch akute Nothilfe. Große Entrup findet zudem die Aussage von Fratzscher bemerkenswert, es sei eine Krise mit Ansage. „Warum er dann die Gefahr einer Deindustrialisierung so lange geleugnet hat, bleibt sein Geheimnis“, so der VCI-Geschäftsführer.

Eine direkte Nachfrage bei Fratzscher löst dieses Geheimnis kaum auf. „Es hat sich nichts an meiner Position geändert und es besteht auch keinerlei Widerspruch zwischen dem, was ich kürzlich geschrieben und gesagt habe“, beharrt Fratzscher. In der Gegenwart werde nach wie vor ein Popanz aufgebaut, so Fratzscher. Die Deindustrialisierung sei aber „heute/jetzt/in diesem Jahr“ schlichtweg nicht vorhanden, genauso wie die Lohnpreisspirale. Eine Deindustrialisierung sei jedoch ein reales Risiko für die Zukunft. So will der DIW-Chef also verstanden werden. Ob das auch den Warnungen der Industrie grundsätzlich widerspricht?

Deutsche Industrie fordert mehr Klarheit bei Energiepreisen

Auffällig an Fratzschers Wirtschaftsplan ist es zudem, dass er den Industriepreis zwar ablehnt, stattdessen aber keine anderen Maßnahmen für einen langfristig günstigeren Strom fordert. In diesem Sinne zeigte sich zuletzt auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, misstrauisch, dass der Strompreis nach dem Ausbau der Erneuerbaren günstig sein wird, wie die Politik es verspricht. Russwurm wünschte der deutschen Industrie daher nicht nur einen Industriestrompreis als Brücke, sondern auch mehr Klarheit zu Energiepreisen, wenn die Subventionen auslaufen, sowie eine mögliche Senkung der Stromsteuer auf das EU-weite Minimum. 

Doch diese Klarheit kann bisher niemand schaffen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kann sich mit dem Industriestrompreis bisher nicht durchsetzen, und eine Senkung der Stromsteuer lehnt er ab, weil „die Reichen davon profitieren“ würden. Es bleibt nur wohl weiter zu beobachten, wie die Chinesen von der sinkenden Konkurrenz der Deutschen auf dem europäischen Markt profitieren

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