Irgendwo auf der Welt-Im Tattoostudio summen die Nadeln. Konzentriert injizieren die Mitarbeiter Blumen, Haustiere und Kindernamen aus Tinte unter die Haut der Kunden. Auch Tribals sind dabei, jene gekreuzten Kringelborten mindestens indigenen, wenn nicht keltischen Ursprungs. Wir schreiben das Ende der 90er-Jahre, die Clubkultur blüht und der Trend zum Tattoo nimmt Fahrt auf. Die dermale Gravur, die noch wenige Jahre zuvor als sicheres Zeichen eines unrühmlichen Knastaufenthalts galt, wurde damals zum Trend mit rebellischer Aura. Salonfähig waren Tattoos jedoch noch lange nicht, weder als Beamter noch als Model durfte man welche haben. Im öffentlichen Dienst sind sie bis heute ungern gesehen.
Zum Ende der 90er-Jahre wirkten Tattoos umso extremer, weil sie oft an intimen Körperzonen saßen. Das sogenannte Arschgeweih gehörte mit seiner typischen Lage kurz über dem Steiß dazu. Sexy hüpfte es überm Po seiner meist weiblichen Trägerinnen, freigelegt durch bauchfreie Tops, wie sie in jener Zeit angesagt waren. Der Name des Tattoos resultiert aus seiner Optik: waagerecht verlaufende Tribals, die sich symmetrisch im Lendenbereich nach oben heben, erinnern an das Gehörn eines Hirsches. Im Berliner Nachtleben war es damals ein sehr mutiges Statement.
Für immer Bürgerschreck
Schon zu seiner Blütezeit war das Arschgeweih der Vokuhila unter den Tattoos: Ein grenzwertiger Trend, der eher provozierte als gefiel – und bei dem stets ein ungemütlich prekäres Narrativ mitschwang. Nur kann man einen Vokuhila abschneiden oder herauswachsen lassen, wenn man keine Lust mehr darauf hat. Ein Tattoo hingegen ...

Auch Prominente tappten damals um die Jahrtausendwende in die Falle des langlebigen Hautschmucks an der unteren Bandscheibe, wenn es auch nicht immer echte Arschgeweihe waren. In der Boulvardpresse tauchten zuhauf die Fotos entblößter Promirücken auf. Der „Tramp Stamp“, wie das Tattoo auf Englisch heißt, zeigte sich in Form einer kleinen Fee bei Britney Spears, eines großen Tigers bei Angelina Jolie oder des Wortes „Daddy“ bei Khloé Kardashian. Den Vogel im wahrsten Sinne aber schoss Kate Moss mit zwei kleinen Schwalben ab, die ihr der berühmte Maler Lucian Freud höchstpersönlich auf die Lende tätowierte. Gemessen an den Preisen der Werke des inzwischen verstorbenen Künstlers, dürfte das Tattoo einige Millionen wert sein.
Die englische Bezeichnung „Tramp Stamp“ lässt sich im Übrigen frei mit „Nuttenstempel“ übersetzen – was verdeutlicht, dass die Position des Tattoos auch im englischsprachigen Raum nicht als besonders würdevoll galt. Auch wenn sich in den ausgehenden 90er- und beginnenden 2000er-Jahren eher Frauen dazu entschieden, fanden auch Männer wie David Beckham Gefallen an dem Trend. Der Fußballstar ließ sich damals „Brooklyn“, den Namen seines Erstgeborenen, in Großbuchstaben über den Po stechen.


Begeben wir uns wieder in das Tattoostudio, in dem noch vor ein paar Jahren zahlreiche Arschgeweihe gestochen wurden, so müssen selbige ein paar Jahre später (um 2010 herum) auf Wunsch der Kundschaft wieder entfernt werden – denn: Die Mode ist keine Schildkröte, sondern ein Wiesel. So war auch das Arschgeweih schnell wieder out. Auch die Tribals konnte bald keiner mehr sehen, und das Geäst über dem Po wurde bald zur größtmöglichen Peinlichkeit, die man mit sich herumtragen konnte. Immerhin war der Bauchfrei-Trend wieder vorbei, sodass die meisten Unglücksraben ihre Fehlentscheidung mit Kleidung überdecken konnten. Andere ließen sich das Tattoo weglasern, und wieder andere vergrößerten und ergänzten es, um so die signifikante Optik zu vertuschen. So richtig toll war nichts davon. Doch Geduld ist die Mutter der Porzellankiste, und so hat jetzt die Stunde für diejenigen geschlagen, die ihr Arschgeweih einfach unter der Kleidung versteckt und der Dinge geharrt haben, die da kamen.
Das Arschgeweih ist zurück
Jetzt schreiben wir das Jahr 2022 und wir erleben ein 90er- und 2000er-Jahre-Revival, das sich sehen lassen kann. Mit ihm bekommen wir auch alles zurück, was damals trendy war: Techno, bauchfreie Tops, Buffalos, Piercings und (Trommelwirbel) Tribals! Im Tattoostudio beginnt der ganze Spaß nun wieder von vorne, denn auch das Arschgeweih ist wieder gefragt. Der Tattoo-Künstler Anito, der in Berlin-Friedrichshain sein eigenes Studio hat, berichtet: „Vor einem Jahr habe ich das erste Arschgeweih meines Lebens tätowiert. Vorher habe ich nur Cover-ups gemacht.“ Und weiter: „Ich akzeptiere den Wunsch der Kunden natürlich, kläre die Leute aber vorher über die leidige Geschichte dieses Tattoos auf.“ Denn – wer kann schon wissen, wie lange es dieses Mal dauern wird, bis es erneut zur unerwünschten Peinlichkeit avanciert? Oder sorgt das zweite Revival nun für den Klassikerstatus, den vieles in der Mode erreicht, was mehrfach kam und ging?
„Es sind nicht nur Tribals, die als Motiv wieder gefragt sind, auch Sterne und chinesische Schriftzeichen kommen zurück“, erzählt Anito weiter. „Erst kommen die Sachen in der Modewelt zurück, dann auch in der Tattoowelt. So ist das immer.“ Da sich jedoch auch die Technik und die Versiertheit der Tätowierer hierzulande weiterentwickelt hat, sehen die Arschgeweihe heute zum Teil auch anders aus. „Neben den ganz klassischen Tribals gibt es auch viele Blumen, neulich habe ich einer Kundin ein florales Arschgeweih gestochen“, sagt Anito. Trotzdem, Arschgeweih bleibt Arschgeweih, und Tattoo bleibt Tattoo. Wenn Sie also kein Arschgeweih aus den 90ern haben und das Revival gerade in vollen Zügen mit rückenfreiem Top und Hüftjeans genießen, überlegen Sie bitte zweimal, ob sie sich dieses Tattoo unbedingt stechen lassen müssen. Denn: Die Mode ist wie gesagt ein Wiesel und Sie könnten es eines Tages bitter bereuen.




