Berlin-Der Uber-Fahrer weiß es besser. „Wir sind da“, flötet er über die Schulter, während der Fahrgast noch ungläubig aus dem Rücksitzfenster starrt: auf bröckelnde Altbau-Fassaden, mit Graffiti übersäte Hauswände, mit Stickern zugeklebte Türen.
Ausgerechnet hier, im nördlichen Friedrichshain, wo es eher knallt als klimpert, zwischen besetzten Häusern und Punkkneipen, Hausprojekten und Volksküchen – ausgerechnet hier soll Malaika Raiss wohnen? Die Berliner Modedesignerin, die seit Jahren mit überaus harmonischen, manchmal leisen, immer kultivierten Kollektionen überzeugt? Tatsächlich – ihr Name steht auf dem Klingelschild, sie meldet sich über die Gegensprechanlage: „Vierter Stock!“

Im Hausflur das gleiche Bild wie draußen; die Wände sind bunt bemalt und mit Aufklebern verziert, psychedelische Muster nebst politischen Parolen. Das Treppenhaus wird zu einer Galerie, die ein alternatives und autonomes Berlin offenbart, das zu verschwinden droht. „Genau das gefällt mir an dieser Gegend“, wird Raiss später sagen, „dass ich hier von Menschen umgeben bin, denen es um etwas geht, die sich für etwas einsetzen.“ Und: „Dass drinnen etwas kommt, was man von außen nicht erwartet.“

Es ist tatsächlich eine andere Welt, die sich oben auftut, angekommen im vierten Stock. Hier wohnt Malaika Raiss mit ihrem Partner Charly Schulz in einer Zweizimmerwohnung, in der, anders als auf der quirligen Straße unten, die ganz große Ruhe herrscht: Die Räume sind groß, die Wände hoch und weiß gestrichen, die Möbel ausgesucht, nicht ganz so viele an der Zahl. „Man soll die Großzügigkeit der Wohnung wahrnehmen und erleben können“, sagt Raiss. „Ich mag es hell und luftig, möglichst viele unserer Möbel sollen mobil, die Räume individuell nutzbar sein.“

Das ergibt Sinn, funktioniert die Designerin ihr Wohnzimmer doch gerne mal zum Fotostudio um – viele Lookbooks ihres Labels Malaikaraiss entstehen hier. Dementsprechend ist es im Grunde nur das kastige Sofa von HAY – mit einem fein strukturierten Material bezogen –, das den Raum hier mittig ankert. Ansonsten: schmale Sideboards an den Wänden, ein rosafarbener Stuhl von Objekte unserer Tage, die Isamo-Noguchi-Stehlampe von Vitra, leichte Couchtischchen – nichts, was die Designerin nicht im Alleingang verschieben und verrücken könnte. „Mein liebster Ort in der Wohnung“, sagt sie. „Mein Freund Charly spricht immer von meinem Spielzimmer.“

Denn wenn Malaika Raiss in dem 30 Quadratmeter großen Raum, in den die Sonne an diesem Aprilvormittag warmes Licht auf den warmen Holzfußboden spuckt, nicht gerade neue Entwürfe fotografieren lässt, wird sie auf andere Weise kreativ tätig. „Dann sitze ich hier in einem kleinen Chaos und zeichne oder stricke, Stoffproben und Moodboards überall umher.“ Im Grunde, so drückt sie es aus, sei auch die Wohnung selbst eine sich immer weiter entwickelnde Stimmungstafel und Ideensammlung, ein Moodboard, geprägt von Reisesouvenirs, zeitgenössischer Kunst, persönlichen Erinnerungsstücken, nordeuropäischem Design.

So gesellen sich zu einigen Familienerbstücken wie dem schwarz lackierten Nierentisch im Wohnzimmer – „mein absolutes Lieblingsteil, das fast auseinanderzufallen droht“ – viele Objekte und Accessoires der großen Skandinavier. Vor allem der Finne Alvar Aalto hat es Malaika Raiss angetan; gleich mehrere seiner ikonischen, wellenförmigen Glasvasen, die aktuell von Iittala produziert werden, stehen hier und dort in ihrer Wohnung. Überhaupt bezeichnet sich Raiss als große „Finnland-Liebhaberin“, ihre eigenen Kollektionen wiederum verkauft sie vor allem in Dänemark hervorragend, seit einigen Jahren zeigt sie auf der Fashion Week in Kopenhagen.

Ihre Modemarke führt sie seit 2010. Ein internationales Publikum, gerade in Japan und den USA, erreichte Malaika Raiss ein paar Jahre darauf durch eine besondere Schmuck-Kollektion: Als erste Designerin überhaupt bekam sie 2015 eine Lizenz von Disney, Schmuckstücke mit Star-Wars-Motiven herzustellen und zu verkaufen. „Ich bin ein riesiger Fan und kam irgendwann auf diese Idee“, erzählt sie nun. Ein Anruf bei Disney, bei dem Raiss direkt die richtige Person am Hörer hatte, ein perfektes Timing, sollte kurz darauf doch ein neuer Film der Reihe herauskommen – und sobald die Linie zu kaufen war, wurde sie auch schon zum großen Erfolg, der Malaikaraiss vollends etablierte. Auch das Atelier der Marke, in dem etwa fließende Seidenkleider in zarten Farben, großzügig geschnittene Hosenanzüge und handgestrickte Pullover entstehen, liegt in Friedrichshain.

Eine Gegend, ein Kontrast, der sie inspiriert? Malaika Raiss muss überlegen. „Vielleicht in dem Sinne, dass man versucht, Dinge anders zu machen“, sagt sie dann, „in Bezug auf Nachhaltigkeit und Fairness zum Beispiel. Es ist ja ein bestimmtes Bewusstsein, das den Kiez hier prägt.“ Die Designerin schwärmt von ihrer Wohngegend, der Atmosphäre auf den Straßen; dem Spätimann, der sie grüßt, den Nachbarinnen und Nachbarn, die sie kennt. Leicht hat es ihr der Friedrichshainer Norden aber nicht gemacht.

„Die Leute mussten sich gerade an mein Atelier erstmal gewöhnen“, sagt sie und zuckt mit ihren Schultern. „Am Anfang haben sie ein bisschen sehr neugierig durch die Fenster geschaut, es sind auch schon mal Farbbeutel geflogen.“ Aber das sei lange her. Und ohnehin: Ein kleines, unabhängiges Unternehmen, von einer Frau mit einem nachhaltigen Bewusstsein allein geführt – das dürfte einem linken Bewusstsein wohl kaum widersprechen.
Umgekehrt musste sich Malaika Raiss an den Bezirk, in den sie vor fünf Jahren gezogen ist, gar nicht lange gewöhnen. „Ich habe vorher zwar in Mitte gewohnt, aber direkt neben dem Kitkatclub“, sagt sie und lacht. „Das war zwar schon ein anderes Publikum – aber es gibt durchaus Schnittmengen.“


