Die Liste ist lang. „Fragen der Logistik, Fragen der Planung und der Fertigung, die Langlebigkeit des Designs, auch ganz profane Sachen wie Verpackungsmaterialien“ zählt Moritz Krüger auf. Wer eine wirklich nachhaltige Marke aufbauen oder das eigene Label entsprechend umbauen will, so der Mykita-Chef, müsse sich mit den verschiedensten Themen befassen. „Das ist ein konstanter Prozess, ein ständiges Nachjustieren, Verändern und Verbessern“, sagt Krüger. „Das eigentliche Produktmaterial ist nur ein Teil davon.“
Und trotzdem: Mit der Einführung eines neuen Materials ist Mykita, der bekanntesten Brillenmarke Berlins, die ihre Produkte ohnehin fast komplett in ihren Räumen in der Kreuzberger Ritterstraße herstellt und nur wenige Arbeitsschritte an eigenen Standorten in Tschechien durchführen lässt, ein kleiner Coup gelungen. Vielleicht sogar ein größerer.
Denn Mykita ist das weltweit erste Label der Brillenbranche, das vom konventionellen Acetat komplett umsteigt auf das derzeit vielbesprochene Acetate Renew von Eastman: Mehrere Jahre saß das Chemieunternehmen mit Hauptsitz im amerikanischen Kingsports an der Entwicklung des neuartigen Werkstoffs – und dann ging alles ganz schnell. Seit einigen Monaten ist Eastmans Acetate Renew einsatzbereit, seit April dieses Jahres kauft Mykita ausschließlich das neue Material ein; sobald die Marke sämtliche herkömmliche Acetat-Platten aus den eigenen Lagern aufgebraucht hat, werden alle Acetat-Brillen des Labels aus dem neuen Material hergestellt.

„Besser geht es eigentlich nicht“, sagt Krüger. „Wir konnten traditionelles Acetat durch eines ersetzen, das nachhaltiger ist und gleichzeitig keine Nachteile in der Produktion bringt.“ Acetate Renew sei in seinen Eigenschaften und in seiner Qualität, in Haptik und Aussehen vom herkömmlichen Acetat nicht zu unterscheiden. Dabei ist auch dieses, das klassische Acetat, ein zumindest umweltschonenderes Material als schnödes Plastik – in Teilen ein Naturprodukt, ein Biokunststoff.

Es besteht zum größten Teil aus Zellulose, dessen Granulat mit Essigsäure versetzt zu einem Teig verarbeitet wird. Kühlt das Material ab, wird es fest, unter Wärmezufuhr bleibt es formbar. Acetat wird in der Textilindustrie eingesetzt und ist überdies ein wichtiger Werkstoff für Brillenhersteller, die von ihren Zulieferern Acetatplatten zur Weiterverarbeitung bekommen, aus denen dann die Brillengestelle ausgefräst werden.
Ich glaube, dass dieses Material zum Standard der Branche wird.
Die durch Eastman verwendete Zellulose wird aus Holz gewonnen, das wiederum nachhaltig bewirtschafteten Waldbeständen entstammt. Die Lieferkette des Holzes ist FSC- und PEFC-zertifiziert. Besser als Plastik ist der Biokunststoff allemal. Zumal es gerade bei der konventionellen Brillenherstellung zu viel Verschnitt, vielen Resten, zu viel Müll kommt. Bei der Herstellung des Acetate Renew allerdings werden anstelle von fossilen Rohstoffen recycelte Kunststoffabfälle verwertet.

„Das ist das Geniale“, sagt Krüger. „Dass ein Weg gefunden wurde, extrem schwer zu recycelnde Kunststoffabfälle wieder auf eine Molekularbasis zurückzuführen und diesen Prozess dann einsetzbar zu machen für das Material.“ Dazu hat das amerikanische Unternehmen Eastman die revolutionäre Technologie des molekularen Recyclings entwickelt: Schwer zu recycelnde Kunststoffe können hierbei in ihre molekularen Bausteine aufgespalten werden, um aus Kunststoffabfällen recyceltes Acetat in neuwertiger Qualität herzustellen. Was entsteht, ist eine Kreislaufwirtschaft.

Laut Eastman werde der CO2-Fußabdruck des neuartigen Acetats um bis zu ein Drittel pro Fassung reduziert; 1000 mit Acetate Renew hergestellte Brillenfassungen entsprächen somit dem recycelten Kunststoffabfall von 304 Fußballtrikots aus Polyester. „Ich glaube tatsächlich, dass dieses Material zum Standard in unserer Branche wird“, zeigt sich Krüger zuversichtlich. Wünschenswert wäre das allemal.
Nachhaltigkeit fängt auch beim Design an.
Denn auch wenn es dazu keine verlässlichen, direkten Zahlen gibt, lässt sich leicht ausmalen, wieviel Müll bei der Brillenproduktion entsteht. Einer Studie des Zentralverbandes der Augenoptiker und Optometristen aus 2019 nach tragen in Deutschland 41,1 Millionen Erwachsene ab 16 Jahren eine Korrekturbrille, eine Zahl, die demnach stetig wächst.

Jede Menge Brillen also, die produziert, verkauft, getragen werden. Erst recht, wenn man die Sonnenbrillen hinzurechnet, von denen ein Gros der Menschen gleich mehrere zu Hause haben dürften. Aber tatsächlich tut sich im Bereich der Brillen etwas. Mykita mag die erste Firma sein, die komplett auf Eastmans Acetate Renew umsteigt. Aber auch die Konkurrenz zeigt sich interessiert. Das österreichische Brillen-Label Andy Wolf etwa vermeldet, man wolle bis Ende 2025 immerhin 75 Prozent aller Acetatfassungen aus eben dem neuen Material anfertigen.

Der italienische Kunststoff-Hersteller Laminati estrusi termoplastici Sr, der auch eine Produktionsstätte in China betreibt und viele Marken aus der Brillen- und der Schmuckbranche beliefert, gab bekannt, künftig nur noch Acetate-Renew-Platten produzieren zu wollen. Eine noch nachhaltigere Alternative stellt der wachsende Markt für Vintage-Modelle dar; in Berlin zum Beispiel tut sich das Geschäft Lunettes mit einer großen Second-Hand-Auswahl hervor.
„Allerdings“, sagt Mykita-Chef Krüger, „fängt Nachhaltigkeit auch beim Design an.“ Viele Modelle seines 2003 in Berlin gegründeten Labels kommen dementsprechend in markanten, aber schlichten, modernen, aber trendunabhängigen Formen daher – sowohl die Acetat- wie auch die Metallbrillen. Bei letzteren kommt übrigens bei Mykita seit vielen Jahren Stahl mit einem Recyclinganteil von 88 Prozent zum Einsatz.
„Und auch in Bezug auf unser ‚Mylon‘, ein polyamidbasiertes Material für unsere in 3D-Drucktechnologie gefertigten Brillen, stecken wir gerade in der Entwicklungsphase für eine nachhaltige Alternative“, sagt Krüger. Wieder etwas, das er bald vielleicht von seiner langen Liste streichen kann.




