In der 106-jährigen Geschichte der britischen Vogue war nie ein Mann allein auf dem Titelblatt der Modezeitschrift abgebildet. Die US-Vogue brachte indes schon 2020 erstmals ein Male-Covershoot mit dem britischen Sänger Harry Styles heraus. Jetzt scheint sich wiederum die britische Ausgabe fast zu revanchieren – und kündigte für die nächste Ausgabe am 20. September den amerikanischen Schauspieler Timothée Chalamet als Coverboy an.
Die Bilder des legendären Modefotografen Steven Meisel sind schon draußen und zeigen Chalamet als eine Art Rockstar im 80er-Leder-Look, mit pinkfarbenen Haaren. Aber wie schafft Mann es, dass die britische Vogue ihre Geschlechterregeln für die Titelseite bricht? In dem man mit seiner Mode zeigt, dass Gendernormen ohnehin Schnee von gestern sind.
Rostfarbene Overalls sind nicht nur für Frauen
Bei den Filmfestspielen in Venedig zum Beispiel. Dort wird – neben Ruhm für den neusten Film genossen – auf dem roten Teppich vor allem eines getan: das Outfit präsentiert. Und eines sorgte in diesem Jahr besonders für Aufruhr. Der rostrote Hosenanzug glänzte metallisch, lag eng am Körper, kombiniert mit Absatzstiefeletten und einer schwarzen Sonnenbrille. Vor Brust und Bauch wallte fließender Stoff, ein angesetzter Schal schmückte den Hals und verdeckte das Dekolleté. Hinten hieß es indes: Rückenfrei! Frei nach dem Motto „ein schöner Rücken kann auch entzücken“. Bühne frei für Timothée Chalamet.

Vermutlich hätte das Outfit nicht halb so viel Aufsehen erregt, wäre es von dem Geschlecht getragen worden, mit dem unsere Gesellschaft rückenfreie Jumpsuits verbindet: dem weiblichen. Doch in Venedig stand Hollywoodstar Chalamet in diesem Aufzug vor den Kameras. Er spielt die männliche Hauptrolle im Kannibalismus-Liebesdrama „Bones And All“. Lässig mal mit, mal ohne Sonnenbrille, spazierte er über den Teppich. Die Fans am Rande konnten sich kaum halten und berührten ihn am nackten Rücken, als er für eine Runde Selfies an die Absperrung herantrat.

Ob Freddy Mercury im Musikvideo „I want to break free” oder Harry Styles bei seinen Konzerten: In der Popkultur gab und gibt es, wenn auch eher vereinzelt, einige Männer, die sich entgegen der Konventionen ihres Geschlechtes einkleiden. Auf der Filmpremiere seines neuesten Films „Bullet Train“ in Berlin zeigte sich auch Schauspieler Brad Pitt lässig mit einem Rock unter dem fleischfarbenen Hemd; ohnehin ist der Herrenrock aktuell ein großes Modethema. Doch wenn Timothée Chalamet in Kleidung über den red carpet schreitet, die gemeinhin als weiblich deklariert wird, dann nicht primär, um ein politisches Zeichen gegen Gendernormen zu setzen – sondern um seinen eigenen Stil auszuleben, so scheint es.
Timothée Chalamet: der Endgegner toxischer Männlichkeit
„Toxic Masculinity“ ist ein Begriff, der in vielen Debatten unserer Zeit auftaucht und beschreibt, dass die Gesellschaft bestimmte Vorstellungen von Männern und Männlichkeit hat, die wiederum zurückwirken auf die tatsächliche Identität vieler Jungen und Männer. Zum Beispiel: ein Mann muss stark sein, darf nicht weinen oder sich sensibel zeigen. Auch in der Modewelt gibt es trotz immer wiederkehrenden Gegenbewegungen und -trends toxische Männlichkeitsideale, etwa dass ein Mann kein Rosa tragen sollte, oder gar hohe Schuhe, Röcke oder Kleider.
Historisch betrachtet war das interessanterweise mal genau andersherum: Im Barock und im Rokoko statuierten Kaiser und Könige ihre Macht auch durch Absatzschuhe, viele Jahrhunderte hindurch waren auch die Farben Rot und Rosa männlichen Herrschern vorbehalten. Erst in den 1940ern wurden die „Geschlechterfarben“ vertauscht – Rosa für Mädchen, Himmelblau für Jungen. Wohl auch, weil letzterer Ton durch die aufkommende Arbeitskleidung von Matrosen und Handwerkern ohnehin „vermännlicht“ worden war, so heißt es zumindest in der Modetheorie.

Und noch immer gibt es Kleidung, wenn auch heute andere, die ganz den Frauen gehören soll – und umgekehrt. Ein Designer, der das schon vor Jahrzehnten infrage stellte, ist Jean Paul Gaultier. Er steckte in den 1980ern Männer in Kleider und Frauen in weite Jacken und Hosen; ein Ensemble, das vor ihm schon Yves Saint Laurent erpobt hatte: Er steckte seine Kundinnen ab 1966 in „Le Smoking“, seinen ikonischen Hosenanzug für Sie.
Extravagante Anzüg sind mittlerweile sein Markenzeichen
Heute wiederum bringen viele Designerinnen und Designer, so wie Vivienne Westwood, die früher mit ihrer rebellischen Mode als Punk-Königin gefeiert wurde, ausschließlich Unisex-Kollektionen heraus. Unisex á la Westwood bedeutet allerdings nicht schlichte T-Shirts und gerade Jeans, pure Basics, sondern Männer in Tüllröcken und Frauen mit Krawatten. Jede und jeder trägt alles, verboten ist nichts. Doch zur gesellschaftlichen Norm wurde genderfluide Kleidung nie.
Timothée Chalamet ist seit einigen Jahren das Gesicht Hollywoods und begeistert ohnehin in Filmrollen, die nicht typisch männlich sind. Der Durchbruch seiner Karriere gelang ihm mit der Hauptrolle in Luca Guadaginos Film „Call Me by Your Name“, der von einer homosexuelle Liebschaft im sommerlichen Italien erzählt. Chalamet spielt einen träumerischen, sensiblen Jungen, der Klavier spielt und in seiner Freizeit Gedichte und Notenbücher liest. Der schmächtige Junge verliebt sich Hals über Kopf in einen älteren Amerikaner.

Dafür wurde Chalamet für den Oscar in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller“ nominiert. Bei der Oscar-Verleihung war er auch in diesem Jahr auf dem red carpet für „Dune“ und begeisterte mit seinem extravaganten Look von Louis Vuitton: Unter dem relativ klassisch geschnittenen Anzug, über und über mit Pailletten bestickt, trug er eben kein Hemd; wieder machte er seine nackte Haut zum modischen Moment.
Vom schmächtigen Jungen in „Call Me By Your Name“ zur Stilikone Hollywoods
Die Vogue erklärte ihn bereits 2019 zum einflussreichsten Mann der Modewelt. Aber selbst mit diesem Titel geadelt tastet sich Chalamet Jahr um Jahr nur schrittweise an immer gewagtere Looks heran. 2018 waren seine Outfits zwar schon stylish, schicke Anzüge trug er in weiß und nicht in schwarz, doch er blieb dezent im Klassischen. 2019 lichteten ihn die Paparazzi dann schon im knallpinken Anzug ab. Sein Signature-Look auf den Straßen ist indes eher casual und baggy, oft in Kombi mit Kappe, Sonnenbrille und Over-Ear-Kopfhörern.
Auch florale Prints sind für den Schauspieler ein Thema, etwa die aus dem Hause Alexander McQueen. Dem Standard, dass Männer zu schicken Anlässen nur dunkle Anzüge mit weißen Hemden anziehen, setzt er einen modernen Twist entgegen. Zum Beispiel, wenn er zur Abendgarderobe T-Shirt oder Sneaker statt Hemd und Lackschuhe trägt, zum blauen Satin oder rotem Samt statt schwarzem Wollstoff greift. Und trotzdem kann er auch ganz frei von Farbe: Ein Stil-Highlight war sein schwarzer Look mit glitzerndem Harness von Louis Vuitton im Jahr 2019.

Sein Outfit aus Venedig – das rostrote, rückenfreie Ensemble – entwarf übrigens Haider Ackermann. Der kolumbianisch-französische Designer, ein Liebling Tilda Swintons, hat Chalamet in der Vergangenheit schon öfter einkleidete. So zum Beispiel 2019, ebenfalls für die Filmfestspiele in Venedig: Der futuristisch anmutende Anzug, der fast schon in der Tradition des modischen Space Age der 1960er stand, sorgte für mehr Aufsehen als so manch Haute-Couture-Kleid.
Timothée Chalamet hat man zwar noch nicht im Kleid gesehen wie Harry Styles, trotzdem zeigt er durch seinen authentischen Stil, worum es beim genderless clothing wirklich geht: Nämlich das zu tragen, was man möchte, egal welchem Geschlecht man sich zuordnen will. Oder eben auch nicht.
Übrigens war auch auf der deutschen Ausgabe der Vogue schon mal ein Mann zu sehen: Im Februar 2019 schaffte es Bastian Schweinsteiger aufs Cover. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd - und hielt seine Freundin Ana Ivanović im Arm.






