Tulpen und Tomaten

Das Neujahrswunder: Höchstleistung bei 16 Grad Raumtemperatur

Im kalten Hausflur unserer Kolumnistin läuft, unbeeindruckt vom Berliner Schmuddelwetter, ein Gewächs aus den brasilianischen Tropen zur Höchstform auf.

Eine Überraschung, in jeder Hinsicht: Schlumbergera truncata 
Eine Überraschung, in jeder Hinsicht: Schlumbergera truncata imago/Panthermedia

Da geht es hin, dieses (Garten-)Jahr, das in abscheulicher Weise ein doch sehr besonderes gewesen ist. Jeder Spatenstich, jede Aussaat, jede Freude über Knospen, Blüten und Bienchensummen hielten Hand mit dem bangen Gedanken an die Geschehnisse, die außerhalb meiner friedlichen Scholle vor sich gingen. Und obwohl ich zwischendurch immer wieder Putin und seine Invasion der Ukraine aus meinem Hirn zu verbannen versuchte, es gelang mir nicht immer.

Dieses Jahr hat uns gezeigt, dass Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, und obgleich sich in meiner kleinen Welt, auf meinen grünen Quadratmetern objektiv nichts, wirklich nichts, verändert hat, fühlt sich doch seit Februar alles anders an. Mehr als 50 Jahre lang habe ich ein wunderbar sorgenfreies Leben in diesem Land geführt, und die Erkenntnis, dass dieses Leben eventuell auf wackligen Beinen steht, sorgt dafür, dass ich den Kontakt zum Boden noch mehr brauche als jemals zuvor.

Geht Ihnen das auch so, liebe Leserinnen und Leser? Wissen auch Sie Ihre kleine, grüne Scholle nun noch mehr zu schätzen? Gärtnern heißt nach vorn zu blicken, an morgen zu glauben und aus den kleinen Dingen Freude schöpfen zu können. Wer gärtnert, führt keine Kriege. Wer wüsste das besser als wir Gartenmenschen? Aber das Glück ist beileibe nicht nur mit dem, der einen Garten bestellt – nein, nein. Manchmal tut es auch eine unscheinbare Zimmerpflanze. Und das geht so:

In diesem Winter haben meine Familie und ich in diversen Räumen des Hauses die Heizkörper-Thermostate zwei Nummern nach unten gedreht. So auch im Flur. Das spart Gas, hat aber umgekehrt zur Folge, dass wir unnötige Etagenwechsel zu vermeiden suchen und ein gewisses Maß an Disziplin vonnöten ist. „Macht die Türen hinter euch zu!“, ermahne ich tausendmal am Tag meine beiden Sprösslinge, wenn sie aus ihren Zimmern kommen. „Und das Licht bitte auch ausschalten!“, schmettere ich ebenso oft hinterher. Die kalte Hausflurluft zieht bei offenen Türen wie Hechtsuppe in unseren Wohnbereich, und das kann ich nicht leiden.

Schlumbergera: ein liebenswertes, kleinen Kaktusgewächs

Ich bin willens, meinen Teil dazu beizutragen, dass wir nicht in eine Energiekrise rutschen, aber in der Stube hätte ich es gern einigermaßen warm, sorry. Immerhin war bis vor wenigen Tagen noch Weihnachten, der Silvesterabend steht vor der Tür, und zwischen den Jahren verbringt man nun mal traditionell eine Menge Zeit zu Hause. Und wer sitzt schon gern mit Eisfüßen neben dem Tannenbaum? Eben.

Allerdings, das gilt es zu berichten, lebt eine Kreatur hier bei uns im Haus, bei der es genau umgekehrt ist: Bei rund 16 Grad Raumtemperatur nämlich fährt die zu Höchstleistungen auf. Von wem hier die Rede ist? Na, von meiner Schlumbergera – einem liebenswerten, kleinen Kaktusgewächs, etwa 20 Zentimeter hoch, das bei uns im Treppenflur auf der Fensterbank wohnt. Mit ihren seltsam gezahnten, nach unten hängenden Blättern erinnert diese Pflanze ein wenig an eine für einen Animationsfilm aus Pappmaché gebastelte Riesenspinne. Oder an eine Trauerweide im Miniaturformat.

Ein Geschenk aus Erfurt: der Weihnachtskaktus unserer Kolumnistin.
Ein Geschenk aus Erfurt: der Weihnachtskaktus unserer Kolumnistin.Sabine Platz

Auf den ersten Blick sonderlich beeindruckend jedenfalls, das gebe ich zu, ist sie nicht,  und drum hielt sich, als ich den Kaktus vergangenes Frühjahr geschenkt bekam, meine Begeisterung auch in Grenzen. „Ehrlich jetzt?“, fragte ich recht ungeniert, während mir Ulrich Haage, Chef der Kakteengärtnerei Haage in Erfurt, freundlich nickend den Kaktustopf in die Hand drückte. „Doch, doch“, antwortete der, „warten Sie ab, das Ding ist der Knaller.“

Ich kam aus Erfurt nach Hause, stellte den Kaktus auf die Treppenstufen, die hinunter in den Garten führen, und zwischen einem ausladenden Agapanthus und einem Kräutertopf fristete er den Sommer über ein unscheinbares Dasein. Regelmäßig lief ich daran vorbei und würdigte die Pflanze keines Blickes. Erst als der Herbst kam, die Tage kürzer und die Nächte empfindlich kalt wurden, holte ich das arme Ding ins Haus. Zwischenzeitlich hatten die meisten der Blätter ihre grüne Farbe verloren und der Kaktus taugte mehr als beige-bräunliches Zeugnis meines Desinteresses denn als Dekorationsobjekt. Ich fühlte mich schuldig. Erstens geht man so nicht mit Geschenken um, und zweitens kann die Pflanze ja nichts dafür, dass sie so hässlich ist. Mutter Natur hat schließlich viele Gesichter. Ich wusste nicht so recht, wohin mit dem Ding und „parkte“ es im Hausflur.

Die Schlumbergera truncata ist eine Kakteengattung, die ursprünglich aus dem Südosten Brasiliens stammt und nach dem französischen Züchter und Biologen Frédéric Schlumberger benannt wurde. Um 1850 besaß dieser Mann eine riesige Kakteensammlung, und sein besonderes Interesse galt den Epiphyten, also den Aufsitzerpflanzen. Anders als beispielsweise Misteln sind die Aufsitzerpflanzen keine Schmarotzer; das heißt, sie leben zwar auf einer anderen Pflanze, entziehen dieser aber für das eigene Wachstum keine Nährstoffe.

Dass wir uns hierzulande küssend unter Mistelzweige stellen, habe ich übrigens noch nie so recht verstanden. Schließlich „schmarotzt“, also saugt die Mistel aus dem Baum Nährstoffe und Flüssigkeit. Sonderlich romantisch finde ich das nicht. Vor allem Linden, Birken und Apfelbäume sind befallen, und ein starker Mistelbewuchs zeugt in erster Linie davon, dass der Baum krank ist und alsbald die Grätsche machen wird.

Kennt sich mit Kakteen aus: Ulrich Haage, Chef der Erfurter Traditionsgärtnerei Kakteen-Haage
Kennt sich mit Kakteen aus: Ulrich Haage, Chef der Erfurter Traditionsgärtnerei Kakteen-Haageimago

Aber zurück zum Kaktus: Die Schlumbergera wächst also auf Bäumen und kommt auf diese Weise im dichten Dschungel des Regenwaldes an Luft und Licht. Leider ist sie in den brasilianischen Wäldern mittlerweile so gut wie ausgestorben, und in den Gärtnereien Mitteleuropas werden darum hauptsächlich Hybride verkauft.

Ulrich Haage, der Kakteengärtner aus Erfurt, vermehrt viele seine Schlumbergera selbst. Sollten Sie einmal nach Erfurt kommen und ein bisschen Zeit übrig haben, liebe Leserinnen und Leser, kann ich einen Besuch bei Kakteen-Haage unbedingt empfehlen. Mit über 200 Jahren ist diese Kakteen-Gärtnerei nämlich die älteste in ganz Deutschland, und in den Gewächshäusern sind mehr als 2000 verschiedene Sorten zu bewundern.

Blütenfarben von Pink und Rot bis zu Orange, Weiß und Gelb

Jetzt, in der dunklen Jahreszeit, ist die Schlumbergera bei Herrn Haage ein Verkaufsknüller, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Kakteen, die er im Angebot hat, blüht sie im Dezember. Darum nennt man die Pflanze auch „Weihnachtskaktus“. Ihre Blütenfarben reichen von Pink und Rot bis zu Orange, Weiß und Gelb.

Während des Jahres sollte man die Schlumbergera ab und an düngen, niemals in die volle Sonne stellen und moderat, aber regelmäßig gießen. Achtung – Staunässe können die kleinen Gliederkakteen gar nicht leiden, und idealerweise besprüht man ihre Blätter regelmäßig mit kalkfreiem Wasser. Um die Pflanze zum Blühen zu bringen, benötigt sie etwa sechs Wochen Ruhezeit. Dafür holt man sie ab Anfang Oktober ins Haus und stellt sie in einen Raum mit kühler Umgebungstemperatur. 16 bis 20 Grad sind ideal.

Auch spannend: Euphorbia trigona, besser bekannt als Dreikantige Wolfsmilch
Auch spannend: Euphorbia trigona, besser bekannt als Dreikantige Wolfsmilchimago

Außerdem, und das ist der Clou, benötigt der Kaktus für die Blütenbildung täglich mehr als acht Stunden Dunkelheit. Das triste Berliner Schmuddelwetter, ein Sonnenuntergang um halb vier am Nachmittag und ein kalter Hausflur also sind ideale Voraussetzungen für das brasilianische Tropengewächs! Irre, oder?

Als mir damals Ulrich Haage die Schlumbergera schenkte, hatte ich von all dem natürlich keine Ahnung, und obendrein fand ich die meisten seiner anderen Kakteen deutlich spannender. Die Dreikantige Wolfsmilch zum Beispiel oder auch den indischen Feigenkaktus, aus dem man Schnitzel braten kann. Auch die über 100 Jahre alten riesigen Goldkugel-Kakteen fand ich ziemlich cool. Aber ein Weihnachtskaktus? Im Frühling?

„Nun nehmen Sie ihn mit, er wird Ihnen Freude machen“, riet mir Haage eindringlich. Der Mann kennt sich aus! Trotz unterirdisch stiefmütterlicher Behandlung nämlich erholte sich das kleine Ding. Ohne es zu wissen, verpasste ich dem Kaktus genau die Kur, die er brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen. Auf der Fensterbank im kalten Hausflur, bei mäßigem Durchgangsbetrieb und nur rund 16 Grad Raumtemperatur, begann er Anfang Dezember damit, zarte Blütenknospen auszubilden.

Und gestern Abend dann, ich war gerade im Pyjama auf dem Weg ins Bett, sah ich, dass die ersten Blüten sich geöffnet hatten. Was für ein Spektakel! Ich stand da, mit eiskalten Füßen, und mir wurde warm ums Herz. Innerhalb nur weniger Stunden hatte sich dieses hässliche Entlein in eine dunkelrot blühende Augenweide verwandelt. Verzaubert stand ich vor dem Kaktustopf und konnte mich kaum sattsehen an den strammen Blütenkelchen, mit denen der Kaktus mir triumphierend seine Daseinsberechtigung deutlich machte. „Siehste, du dummes Frauenzimmer!“, schien er zu sagen. „Gut Ding will eben manchmal Weile haben.“

Bevor ich heute Morgen damit begann, diesen Text zu schreiben, stellte ich den Kaktus neben mich auf den Schreibtisch und rief Herrn Haage an, um mich angemessen für dieses nachträgliche Weihnachtswunder zu bedanken. Er freute sich. Und hatte, ganz der Gärtnermeister, noch einen letzten Tipp: „Gießen Sie den Kaktus in den kommenden Wochen nicht mehr, dann blüht er Ende Januar ein zweites Mal.“

Mit diesem blühenden Feuerwerk geht für mich das Jahr 2022 zu Ende. Und was lerne ich aus der Geschichte? Dass man einem Kakteenexperten glauben sollte, wenn er eine Pflanze empfiehlt? Natürlich. Dass ein kalter Hausflur im Winter auch sein Gutes hat? Auf jeden Fall. Vor allem aber ist mir mal wieder klar geworden, dass die Natur für uns Gartenmenschen das ganze Jahr über große und kleine Freuden bereithält. Man muss nur die Augen aufmachen.

Sabine Platz arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Fernsehjournalistin beim ZDF. Dort produziert sie unter anderem für die Rubrik „Platz im Garten“ im „Morgenmagazin“ regelmäßig Berichte rund um das Thema Natur, Garten, Ökologie und Nachhaltigkeit. Im Oktober 2021 erschien ihr Buch „Im Garten: Zwischen Knolle und Kompost liegt das ganze Leben“.