Donnerstagabend, kurz nach 22.30 Uhr in der Altstadt von Neapel: Das Auswärtsspiel der SSC Neapel bei Udinese Calcio ist in wenigen Sekunden vorbei, der kaltgestellte Prosecco wird gleich vom Gastgeber euphorisch geöffnet, die jungen Familienmitglieder fangen an Pyrotechnik und blaue Rauchbomben zu zünden, aus den Boxen schallt „Napoli, Napoli, Napoli“ von Nino D’Angelo. Und dann ist Schlusspfiff, das 1:1 reicht, Neapel ist zum ersten Mal seit 33 Jahren italienischer Meister. Der Party am Fuße des Vesuvs sind keine Grenzen gesetzt.
Lange musste die süditalienische Metropole auf den dritten Scudetto, die dritte Meisterschaft in der Serie A warten. Mit einem gewissen Diego Armando Maradona konnten die Partenopei 1990 das letzte Mal „Campioni d’Italia“ in den engen Gassen Neapels brüllen. Mehrere Generationen von Neapolitanern warten seitdem in der fußballverrückten Stadt auf den nächsten großen Titel. Victor Osimhen und Kvicha Kvaratskhelia sind nun die rechtmäßigen Erben Maradonas – der wohl nicht mal in Argentinien so vergöttert wird, wie in Neapel. Das lange Warten auf den dritten Stern hat nun ein Ende.
Dabei wussten die Neapolitaner schon seit mehreren Wochen, dass die Meisterschaft ihnen nicht mehr genommen werden konnte. 15 Punkte Vorsprung bei noch fünf Partien sprechen eine deutliche Sprache und spiegeln die Dominanz des Teams von Trainer Luciano Spaletti wider. Schon Anfang April fingen Bewohner der drittgrößten Stadt Italiens an, ihre Hausfassaden mit Flaggen, Plakaten und Bändern zu schmücken. Neapel hat sich in ein blau-weißes Farbenmeer verwandelt. Eine an sich unorganisierte Aktion, die von den Behörden geduldet wird und wohl noch über den Sommer das Stadtbild von Neapel prägen wird.
Die größte Party Europas, vielleicht sogar der Welt
Während im Fernsehen schon erste Szenen gezeigt werden, wie Neapel-Fans das Spielfeld stürmen und ihre Helden umarmen, küssen und huldigen, strömen Hunderttausende - italienische Medien sprechen sogar von einer Million - Menschen raus auf die Piazzas von Neapel. Es herrscht Chaos in der Stadt, ein Vorankommen ist teilweise nur schwer möglich. Es ist ein Mix aus einer ausartenden Silvesterparty und dem Feiern einer Fußballweltmeisterschat. Nur noch größer.
Nach 33 Jahren Wartezeit wird #Neapel den dritten Scudetto, die dritte Meisterschaft feiern. Heute reicht ein Unentschieden in Udine. "Eine Party, die die Welt noch nicht gesehen hat" sagen mir alle. #Maradona @sscnapoli pic.twitter.com/2xNOVSteLp
— Nicolas Butylin (@Nico_Butylin) May 4, 2023
In der Altstadt, im Spanischen Viertel, an der Meerespromenade und am Piazza del Plebiscito sammeln sich alle möglichen Neapolitaner und Gäste der Stadt: Alte, junge, Familien, vermummte Jungs-Gruppen und natürlich auch Touristen aus Deutschland. Im Stadion der Blau-Weißen, im Stadio Diego Armando Maradona fiebern knapp 60 000 Neapolitaner beim Public Viewing mit. Die Behörden wollten damit verhindern, dass noch mehr Menschen in den engen Gassen der Stadt sich herumtummeln. Doch von einer kontrollierten Situation kann in der Nacht zum Freitag nicht gesprochen werden.
Aperol Spritz, Limoncello, Bier und Prosecco werden literweise getrunken, zeitglich muss man aufpassen, dass einem ein lautstarker Böller nicht um die Ohren fliegt. Das massive Aufgebot an Polizei, Carabinieri und Militär schaut sich den Freudentaumel stets von der Seite aus an. Oder vom Himmel aus, von dem aus mehrere Hubschrauber die hügelige Stadt beobachten. Während die Massen die dritte Meisterschaft besingen und schon auf den vierten Titel anstoßen, erschüttert dann jedoch die erste Bilanz der Feierlichkeiten.
Vom glücklichsten Tag des Lebens in den Tod
Mehr als 200 Neapolitaner sind in der Nacht in die Notaufnahmen gekommen, berichtete die „Gazzetta dello Sport“ am Morgen, rund hundert von ihnen mit mittelschweren bis schweren Verletzungen. Eine Ärztin sagte der Berliner Zeitung, sie hat mehrmals in der Nacht entscheiden müssen, ob sie Arme und Finger amputiert. Für mehrere Dutzend Anhänger sind es schwerwiegende Andenken an die „größte Nacht ihres Lebens“. Von der Nacht berichten internationale Presseteams live: aus Uruguay, Russland, Deutschland und England.

Noch schlimmer traf es einen 26-Jährigen: Unweit des Hauptbahnhofes in Neapel trafen ihn Schüsse. Es bleibt unklar, ob der Mann gezielt angeschossen wurde oder ob ihn jemand versehentlich traf. Nach Angaben der italienischen Nachrichtenagentur Ansa wurde der Angeschossene in ein Krankenhaus eingeliefert und verstarb später. „Vieles an diesem Abend wird unklar bleiben, weil es Menschenmassen sind, die Neapel lange nicht gesehen hat“, sagt die Ärztin der Berliner Zeitung. Drei weitere Menschen sollen durch Schüsse verletzt worden sein.
In die Tragödien der Nacht mischt sich dann wiederum die pure Freude. Für nicht wenige Neapolitaner wird es der schönste Tag in ihrem Leben gewesen sein. Ein Opa – im Trikot aus den 90ern - führt seinen Enkel – mit Kvaratskhelia-Jersey - seitlich der neuralgischen Punkte der Stadt entlang und verwischt sich mit seinem Tuch mehrere Tränen. Menschen rufen ihre Verwandten in Palermo, Mannheim und Zürich an, in all dem Rausch gibt es auch immer wieder Momente der Ruhe, des Genießens und des Innehaltens.
Die Meisterschaft bedeutet vielmehr als nur ein Sieg im Fuball
Denn diese Meisterschaft bedeutet für die Neapolitaner viel mehr, als nur ein Sieg beim Fußball. Die süditalienische Metropole ist mit ihren Vororten eine schwierige Stadt, mit komplexen gesellschaftlichen Phänomenen. Einerseits herrscht hier Armut, man ist vom Norden Italiens wirtschaftlich abgehängt, der Lebensstandard ist mit dem in Rumänien vergleichbar. Arbeitslosigkeit, Mafia, junge Leute wandern aufgrund der Perspektivlosigkeit nach der Schule oder dem Studium aus. In den Norden, nach Mailand und Turin oder noch weiter nördlich in die Schweiz und nach Deutschland.
Andererseits gibt es in Italien kaum einen Ort, der sinnbildlich noch mehr für „Dolce Vita“ steht. Die „Schönen und Reichen“ – von Beyoncé bis Tom Cruise – verbringen am Golf von Neapel gerne ihren Sommerurlaub. Die Inseln vor Neapel und die Amalfiküste gehören zu den teuersten Gegenden am Stiefel Europas. Kulinarisch können nur wenige Städte in Italien Neapel das Wasser reichen - Köstlichkeiten von der Pizza bis zum Limoncello.
Dazu kommen noch die gesellschaftlich jahrhundertalten Ressentiments zwischen dem Süden und Norden von Italien. Besonders im Fußball spiegeln sich die Konflikte wider, insbesondere bei der Rivalität zwischen Juventus Turin und der SSC Neapel. In den vergangenen Jahren landete man oft als Zweiter hinter den Turinern im Ziel, in der Champions League flog man erst kürzlich unglücklich gegen die AC Milan raus.
Am Donnerstagabend entlud sich dann bei vielen Neapolitanern der jahrelange Frust, Schmähgesänge gegen Juve und die Mailänder Teams wurden von Jung bis Alt lautstark gebrüllt. Klopapierrollen mit den Wappen der Teams aus dem Norden Italiens sind nicht erst seit gestern ein Verkaufsschlager in den Flaniermeilen Neapels.
So ist der dritte Scudetto auch eine Genugtuung für Spieler und Fans es dem Norden mal zurückzugeben. Beispielhaft besingen römische und norditalienische Mannschaften traditionell den Ausbruch des Vesuvs, wenn sie gegen Neapel spielen. „Der Vesuv bricht aus, ganz Neapel wird zerstört“, schreien sie zum Rhythmus des Fußball-Klassikers „Freed from desire“ von Gala. Doch der neapolitanische Humor hat stets eine Antwort auf die Schmähgesänge parat, der Song wird die komplette Nacht lang hoch und runter gesungen. Die Intention des Liedes ist aber eine andere.
Viele Fans der Partenopei verglichen in den vergangenen Tagen die Meisterschaft mit einem Vulkanausbruch. „Wenn wir das Ding holen, wird Neapel beben – wie wenn der Vesuv ausbricht“ sagt ein Fan der Berliner Zeitung. In den sozialen Medien planten Neapel-Fans blauen Rauch auf dem Gipfel des Vesuvs zu zünden, quasi ein imaginärer Vulkanausbruch zu Ehren der frischgebackenen Meister. Daraufhin begrenzten die Behörden den Zugang zum Gipfel des Vulkans, die Touristen hat es sicherlich nicht gefreut, Neapel hat trotzdem gebebt.
This is Napoli 🎇🔵🤯 pic.twitter.com/qfkAEfHp3J
— Fabrizio Romano (@FabrizioRomano) May 4, 2023








