Dass Gareth Southgate bei dieser Fußball-EM mal noch als „rücksichtsloser Abenteurer“ bezeichnet wird, hätte er wahrscheinlich selbst nicht gedacht. Abgesehen von seiner eigenen Mannschaft hatte der Trainer der englischen Nationalmannschaft eigentlich schon alle gegen sich: die Medien, die Experten in England, die Experten in Deutschland, die Fans. Letztere ließen zum Abschluss einer extrem biederen Vorrunde sogar Bierbecher in Richtung von Southgate fliegen.
Mit dem mitreißenden 2:1 im Halbfinale gegen die Niederlande, bei dem er sowohl den Siegtorschützen Ollie Watkins als auch Vorbereiter Cole Palmer einwechselte, scheint sich der Trainer endgültig rehabilitiert zu haben. Der „Technokrat“ war gestern, der „Abenteurer“ ist heute. Als „verwirrend, aber brillant“ bezeichnete der Guardian die Entscheidungen von Southgate, der England ins erste große Finale außerhalb der britischen Insel führte. Gegen Spanien ist am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) die erste Titel-Krönung seit 1966 möglich.
Was Prinz William prophezeit hat, hat sich bewahrheitet
Was Verbandspräsident Prinz William vor der Abreise des Teams nach Deutschland prophezeit hat, hat sich bewahrheitet. „Er sagte, dass es eine Achterbahnfahrt wird und dass dieses Turnier einfach brutal ist“, erzählte Mittelfeldspieler Declan Rice über die Worte von William. Mittendrin auf der Achterbahn: Der pragmatische Cheftrainer Southgate, den manche Fans am liebsten noch vor dem Achtelfinale ersetzt hätten. Und der ihnen jetzt, nach drei harten K.-o.-Spielen mit großer Moral, den Silberpokal in die Heimat bringen könnte.
Southgate ist der erfolgreichste englische Chefcoach seit Weltmeister-Macher Alf Ramsey. Gemessen daran bekommt der 53 Jahre alte Ex-Profi auf der Insel extrem wenig Respekt. Die Anhänger vermissen die spielerischen Glanzleistungen, Experten kritisierten regelmäßig seine vorsichtige Herangehensweise. Das Milliardenensemble könne so viel mehr, so lautet der Hauptvorwurf in Richtung von Southgate.
Das Team steht geschlossen hinter dem Mann, der 2016 übernahm und England seither stets mindestens ins Viertelfinale führte. Das gelang in diesem Zeitraum keiner anderen Nation aus Europa. „Wir würden alles tun, um diesen Trainer zu schützen“, sagte Rice nach dem Achtelfinale gegen die Slowakei, das nur dank eines Fallrückziehers von Jude Bellingham in der fünften Minute der Nachspielzeit nicht verloren ging. Southgate war zu diesem Zeitpunkt noch etwa 90 Sekunden vom Ende der achtjährigen Ära entfernt.
Luke Shaw äußerte sich ähnlich wie Rice. „Ich verstehe die Kritik an ihm nicht. Er hat so viel für unser Land und uns Spieler gemacht, er hat uns Profis auf ein neues Level gehoben. Kein Trainer war in der jüngeren Vergangenheit so erfolgreich wie er“, sagte der Außenverteidiger, der als Vertrauter von Southgate gilt. Der Trainer pflegt zudem vor allem mit seinen langjährigen Weggefährten wie Kapitän Harry Kane, Torhüter Jordan Pickford und Innenverteidiger John Stones ein inniges Verhältnis.
Abgang wohl auch bei Titelgewinn
Die Frage nach seiner Zukunft schwebt aber weiter über dem Team. Zumindest seitens des Verbands scheint die Richtung klar: Die FA will nach Angaben des Telegraph mit Southgate verlängern - und zwar unabhängig vom Ausgang des Spiels gegen Spanien. Verbandsboss Mark Bullingham gilt als großer Befürworter von Southgate, der noch einen Vertrag bis Ende des Jahres hat.
Die fünf verbleibenden Monate sind aber eher theoretischer Natur. Entweder Southgate geht nach der EM und macht den Weg frei für einen Neuaufbau. Oder der 53-Jährige bleibt und setzt seine Amtszeit fort - dann aber gewiss nicht nur bis Dezember, sondern bis einschließlich zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Es sei für ihn emotional unmöglich, im Moment eine „logische Entscheidung“ zu treffen, sagte Southgate im Sky-Interview.
Vor dem Turnier hatte sich Southgate in einem Interview mit internationalen Medien, zu denen auch die Bildzeitung und die Süddeutsche Zeitung zählten, relativ offen zu dem Thema geäußert. „Wenn wir nicht gewinnen, werde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sein. Dann war es vielleicht die letzte Chance. Ich glaube, nach einem Turnier geht in etwa die Hälfte der Nationaltrainer – das liegt in der Natur des internationalen Fußballs“, sagte Southgate.


