Als Hansi Flick per Mausklick seinen frisch berufenen Kader in der Teams-Sitzung teilte, kam es bei der digitalen Pressekonferenz des Bundestrainers zu einige Momenten der Überraschung. Dass Flick Spieler nominiert, die noch nicht mal Stammkräfte in ihren Klubs waren (Vagnoman aus Stuttgart), hatte im Frühjahr ebenso allseitig für Kopfschütteln gesorgt wie die individuelle Verbannung des in der Rückrunde auffällig formstarken Niklas Süle. Der Bundestrainer reagierte seinerzeit ebenso fassungslos auf die sich geballt vor ihm auftürmende Kritik wie auch über den weiteren Leistungsabfall einer Spielgemeinschaft, die derart unabgestimmt agierte, als hätte sie sich gerade erst auf der Wiese zum Bolzen getroffen.
Jonathan Tah, Robin Gosens und Niklas Süle kehren zurück
Nun hat Flick, gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand, Konsequenzen gezogen, und er hat sich dabei nicht auf Routinen mit Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten zurückgezogen, sondern sich einen unverstellten Blick auf Form und Leistung angeeignet. Man könnte auch formulieren: Er hat den eisernen Besen ausgepackt und einmal kräftig durchgekehrt. Dem zum Opfer fielen sowohl etablierte Leute wie Leon Goretzka, Timo Werner, Thilo Kehrer und Matthias Ginter als auch die beiden Offensivverteidiger David Raum und Marius Wolf. Den Daumen hoch gab es für die Länderspiele am Samstag (9.9.) in Wolfsburg gegen Japan und am darauffolgenden Dienstag in Dortmund gegen Frankreich für den formstarken Rückkehrer Jonathan Tah, den Neu-Unioner Robin Gosens und den zuletzt nicht berücksichtigten Niklas Süle.
Goretzka reagierte recht prompt auf seinem Instagram-Kanal „extrem enttäuscht von der überraschenden Entscheidung“. Ein gutes Spiel in Bremen und eine durchschnittliche Vorstellung gegen Augsburg reichten dem Bundestrainer nach allzu vielen allzu enttäuschenden Auftritten des 28-Jährigen nicht. Auch bei Werner zog Flick Konsequenzen aus dessen anhaltendem Formtief, das dem Stürmer zuletzt seinen Platz in der Leipziger Startelf kostete.
Noch ehe er die Namen veröffentlich hatte, erklärte der Coach seine Beweggründe: „Wir haben uns gefragt: ,Wer gibt dieser Mannschaft Energie?‘“ Er und sein Trainerteam hätten „ganz genau“ hingeschaut, auch was „Verhalten“ und „Einstellung“ angehe. Und dann bemühte Flick noch das längst in der Mottenkiste verstaute Vokabular von Berti Vogts: „Die Mannschaft ist der Star, nicht der Einzelne.“
Unter dieser Maßgabe hat sich der hierzulande nur einem Fachpublikum bekannte Pascal Groß beim Premier-League-Klub mit dem wunderbaren Namen Brighton & Hove Albion in den Fokus gespielt. Flick nominierte den 32-Jährigen, der zuletzt als Teenager einer Auswahlmannschaft des DFB angehört hatte, nun erstmals in den Kader des A-Teams.
Die Geschichte der Kreativkraft des aktuellen Sechsten in England ist eine ganz besondere. Der technisch beschlagene Mittelfeldspieler gehörte als Jugendlicher zu einem außergewöhnlich talentierten Jahrgang des Mannheimer Stadtteilklubs VfL Neckarau, der von seinem Vater, dem Karlsruher Ex-Bundesligaprofi Stephan Groß exzellent betreut wurde. Die halbe Mannschaft schaffte es seinerzeit in die Kader deutscher Nachwuchsnationalmannschaften, wiewohl die Jungs zumeist lediglich auf einem Hartplatz trainieren durften.
Die TSG Hoffenheim wurde bald auf die Supertruppe aus dem nahen Neckarau aufmerksam. Mäzen Dietmar Hopp erwarb sechs Spieler, inklusive Pascal Groß und weiteren späteren Profis wie Manuel Gulde (SC Freiburg) und Marco Terrazzino (Lechia Danzig), und finanzierte dem VfL Neckarau im Gegenzug unbürokratisch den Bau eines Kunstrasenplatzes.
Weil in Hoffenheim zu jener Zeit dann aber Fußballgroßmachtsfantasien sprossen, wurde Pascal Groß nach einigen Einsätzen in der Bundesliga alsbald abgeschoben, ehe er über den Karlsruher SC und den FC Ingolstadt ins Blickfeld des intensiv scoutenden Traditionsklubs an der Küste des Ärmelkanals spielte.


