Als ich die Nachricht las, verstand ich sie erst nicht. Es war am Donnerstagabend, ich hatte mich mit Freundinnen zum Essen getroffen, nun wollte ich ein Taxi rufen. Auf meinem Handy stand: „D. ist raus.“
Mein Freund hatte mir das geschrieben, aber was sollte es bedeuten? Ich dachte an Pakete, an abgesendete E-Mails. Oder war jemand gekündigt worden, kannten wir einen D.? Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, dass es um die Fußballweltmeisterschaft ging. Und um die deutsche Nationalmannschaft.
Mein Boykott wirkte nun vollständig, das wurde mir klar. Bei mir selbst. Ich habe seit 1986 keine einzige WM verpasst. Spätestens ab dem Achtelfinale habe ich seitdem wahrscheinlich sogar kein einziges Spiel verpasst. Diego Maradona, der Star der WM von 1986, war der erste Mann, in den ich mich hoffnungslos verliebte, obwohl ich eigentlich noch viel zu jung für so etwas war. Nachdem Diego und die argentinische Nationalmannschaft das Turnier gewonnen hatten, schnitt ich aus einer DDR-Zeitung ein Foto des Teams aus und klebte es auf ein Stück Pappe. Das Bild stand auf meinem Kinderschreibtisch wie eine Ikone.
Boykotte fand ich albern, typisch deutsch
Das Bild verblasste, Diego wurde drogensüchtig und fett, aber ich schaute Fußball. Vor allem die großen Turniere. Als die WM in Japan und Südkorea stattfand, traf ich mich mit Freunden morgens um acht in Kneipen, um gute Plätze für die frühen Spiele zu bekommen. Auch als die WM in Russland stattfand, war ich noch dabei. Als Fan kann ich eine Menge ausblenden. Boykotte fand ich albern, typisch deutsch, zu moralisch.
Aber als in diesem Jahr das Turnier näherrückte, passierte nichts. Ich bekam einfach keine Lust, mir diese WM anzusehen. Ein Land, in dem sich kaum jemand für Fußball interessiert, hatte acht Stadien in die Wüste geschlagen, um sie zum Teil direkt danach wieder abzureißen? Der Fifa-Chef fühlte sich schwul, aber auch wie ein Katarer?
Ich verstand nicht mehr, was das alles sollte, richtete mich aber darauf ein, damit eher allein zu sein. Am Tag des Eröffnungsspiels ploppte eine Nachricht in der Chatgruppe meiner Familie auf, in der es wochenlang still gewesen war. Wir sind eine Fußballfamilie. Wenn eine Familienfeier an einem Spieltag eines wichtigen Turniers stattfindet, versammeln wir uns vor dem Fernseher.
Huhu, schaut jemand WM?
Die Nachricht im Chat lautetet: „Huhu, schaut jemand WM?“ Die Chatgruppe erwachte zum Leben. Es stellte sich heraus, dass niemand richtig Lust auf diese WM hatte. Vielleicht die Deutschlandspiele? Die Energie reichte bei den meisten nicht mal für echte Boykottbestrebungen. Die müssten einem doch zumindest ein bisschen wehtun.
Trotzdem hatte uns auch diese WM wieder zusammengebracht. So geht es mir, seit das Turnier läuft. Ich rede ziemlich oft über die WM, die ich nicht schaue. Eine Freundin, die wie ich seit ihrer Kindheit die argentinische Nationalmannschaft anfeuert, meldete sich. Sie schaue kaum ein Spiel, sagte sie.
Auch sie klang nicht wie eine deutsche Moralweltmeisterin, die den Rest der Welt belehren will, sondern eher wie ein trauriger Fußballfan. Oft landen meine WM-Gespräche in der Vergangenheit, bei legendären Spielen, der Aufregung, dem irren Schmerz, wenn das Team verloren hatte, für das man war.






