Sigrid Eichner wird im Startzentrum des Mauerweglaufs sofort erkannt: „Sigrid Eichner, sind Sie es? Ich habe den größten Respekt vor Ihnen!“, sagt ein Mann, der gerade seine Startunterlagen abholte. „Sie sind eine Institution“, spricht er weiter, „ich bin nur ein Mauerwegsläufer.“ Sigrid Eichner lacht: „Schau, mich kennen sie alle, aber ich kenne niemanden.“
Sigrid Eichner ist 83 Jahre alt, wohnt seit fast 50 Jahren in Berlin und ist Ultraläuferin. Das bedeutet, dass sie nicht nur gelegentlich mal fünf Kilometer joggen geht, Eichner läuft im Schnitt jeden fünften Tag einen Marathon. Sie startet regelmäßig bei Wettläufen, die weit über die Marathondistanz von 42,195 Kilometern hinausgehen – den sogenannten Ultraläufen. Eichner hat den „100 Marathon Club Deutschland“ mitgegründet. Ein Verein für Sportler, die 100 Läufe mit mindestens 42,195 Kilometern absolviert haben. Sigrid Eichner hat 2332 solcher Läufe beendet (Stand Juni 2023).

Die 161 Kilometer möchte Sigrid Eichner einfach nur schaffen
Am vergangenen Wochenende sollte sich ein weiterer Extremlauf in die Liste einreihen: Der 11. Berliner Mauerweglauf, 161,3 Kilometer entlang der ehemaligen Grenze zwischen West- und Ost-Berlin. „Ich bin den schon 2014 gelaufen, aber danach habe ich es auch mehrmals nicht gepackt und musste unterwegs aufhören“, erzählt Eichner. „Einmal wurde ich dann ins Krankenhaus gefahren, das möchte ich nicht wiederholen.“ Gut fühle sich Eichner diesmal auch nicht, „aber in meinem Kopf ist Ankommen, egal wie.“

Sigrid Eichner ist klein, schmächtig, austrainiert. Ihre Haare trägt sie kurz. Sie lacht viel, wenn sie am Tag vor dem Lauf auf ihr bekannte Gesichter trifft. Sonst wirkt sie ernst, fokussiert und bedacht. Sie hat etwas Sorge vor dem Wettkampf, „aber nicht wegen der Kilometer“. Die schaffe ein Läufer immer. Das Schwierige seien die Zwischenzeiten. 26 Verpflegungspunkte gibt es entlang der Strecke vom Mauerweglauf. Die Zeit, die man von einem Punkt zum nächsten maximal brauchen darf, ist genau vorgeschrieben. Wer das Limit überschreitet, scheidet bei dem Rennen aus. Am Anfang der Strecke gehen die sogenannten Cut-off-Zeiten von dem erfahrungsgemäß höheren Tempo der Läufer aus, später basieren sie auf einer langsameren Geschwindigkeit. Für Sigrid Eichner ist das ungünstig: „Ich laufe immer gleichmäßig, deshalb habe ich es zu Beginn schwer“, sagt die betagte Sportlerin.
Am Sonnabend zum Sonnenaufgang versammeln sich die circa 600 Einzelläufer in Berlin-Mitte und bereiten sich auf den Start vor. Die Stimmung ist gelöst und heiter. Leute umarmen sich, lachen, laufen sich ein. Die einen stehen in Barfußschuhen im Startkanal, andere filmen die Szenen mit einer kleinen Actionkamera. Bunte T-Shirts, Kompressionsstrümpfe und Laufrucksäcke schmücken die Sportler. Vier Minuten vor sechs Uhr fängt Musik aus Boxen an zu spielen und ein Moderator begrüßt die Teilnehmer: „Ihr habt ein Riesenprojekt vor euch, aber ihr werdet das schaffen. Und ihr werdet auch alle leiden.“ Er appelliert an die Vernunft aller Starter und dass ein Ausstieg bei gesundheitlichen Schwierigkeiten immer eine Option sei.
Kein Trainingsplan, keine GPS-Uhr, keine neuen Laufschuhe
Eichner hat selten Beschwerden, auch die vier Schrauben im Rücken – Überbleibsel einer Operation von vor über 20 Jahren – bereiten ihr keine Probleme. Nur ihr Fußspann schmerzt etwas am Tag vor dem Start. Warum sie bei dem Laufpensum in ihrem Alter noch so fit ist und fast keine Beschwerden hat? „Ich weiß es nicht, ich habe kein Geheimnis. Ich möchte einfach nur ankommen und Freude am Dabeisein haben. Es soll ja Spaß machen.“
Die 83-Jährige läuft wenige Sekunden nach sechs Uhr über die Startlinie und reiht sich bei den Hinteren mit ein. Nach ihr kommen nur noch die zwei Besenläufer, die sich strikt an die Zeitlimits halten und den letzten Läufer sicher begleiten.

Eichner ist gut mit dabei, erreicht die ersten Verpflegungspunkte innerhalb der Zeitvorgaben, zum Teil mit noch zwanzig Minuten Puffer. An den Stationen hält sie kurz an, trinkt ein paar Schlucke, grüßt die Helfer und läuft so schnell es geht weiter. Sie läuft ohne Rucksack, ohne GPS-Uhr, ohne die neuesten Schuhe oder Funktionsshirts. Nur ein Handy hat sie dabei, Pflichtausrüstung. „Wenn ich am Laufen interessiert bin, dann brauche ich das äußere Bild nicht, das ist mir völlig egal“, erzählt sie am Tag zuvor, „Laufen musst du immer selbst, da kann der Schuh noch so gut gefedert sein.“ Ihre Schuhe lasse sie mehrmals neu besohlen, bevor sie neue kaufe, um Geld zu sparen. T-Shirts habe sie genug bei all den Läufen geschenkt bekommen, ein ganzer Schrank sei damit gefüllt.
Irgendwo bei der Halbmarathon-Marke redet ein Mann seiner Laufbegleitung gut zu: „Wir haben gut trainiert, denk daran!“ Viele Minuten später wird auch Eichner diesen Kilometer passieren, ganz ohne, dass sie im Vorfeld akribisch einen Trainingsplan verfolgt hat. „So eine Vorschrift macht immer ein schlechtes Gewissen, wenn du an einem Tag deine Leistungsangaben nicht erfüllt hast“, sagt sie. Sie laufe einfach so, wie sie es jeden Tag ermöglichen könne. Einmal die Woche sei sie in der Laufgruppe der LG Mauerweg mit dabei. Das Programm eines Trainers, um besser und schneller zu werden, mache sie mit. „Aber ob ich nun schneller oder besser werde … das weiß ich nicht“, sagt sie. Sie lacht.
Sigrid Eichner hat nie an eine Profikarriere gedacht
Sigrid Eichner läuft den Marathon mittlerweile in mehr als dem Doppelten der Zeit als noch vor 30 Jahren: „Heute brauche ich sieben Stunden und zehn Minuten, wenn ich gut bin.“ Sie habe nie glauben wollen, dass man mit dem Alter eben doch langsamer werde. Erst heute wüsste sie, dass sie früher sehr gute Zeiten gelaufen sei. Sie habe nie daran gedacht, mal Profiläuferin zu werden: „Ich hatte nicht diese Ambitionen, dachte nie, dass ich etwas Besonderes oder außergewöhnlich gut bin.“ Heute sieht sie die Leute an ihr vorbeirennen und weiß: „Das bin ich auch mal gelaufen.“ In ihr ist kein Frust, keine Verzweiflung: „Jeder Tag ist jetzt neu, und das Wichtigste ist es, dabei sein zu dürfen.“

Was sich so simpel anhört, stellt für Eichner immer wieder eine Hürde dar, denn bei vielen Läufen seien die Zielzeiten so ambitioniert, dass sie nicht starten dürfe. Das mache sie traurig.
Zum Laufen ist die studierte Ingenieursökonomin gekommen, als sie 1976 mit ihrer Familie innerhalb der DDR nach Berlin gezogen und auf Läufer im Park getroffen sei. Das Laufen habe ihr schon immer geholfen, den Kopf frei zu machen – bis heute. „Wenn du berufstätig bist oder Probleme im Alltag oder Kinder hast – irgendwann klickt es beim Laufen, dir kommt eine zündende Idee, weil du einfach frei bist von allem. Befreit und nur mit dir allein.“ Es zähle nur das, was du gerade in dem Moment tust. Eichner floh durch das Laufen auch vor den Problemen in ihrem Alltag, vor der Überforderung mit den Kindern, vor der Demütigung durch ihren damaligen Mann. Heute dreht sich ihr Leben um den Laufsport, ihre Lauffreunde seien wie eine Familie.

Eine nie enden wollende Leidenschaft
Wenn Eichner heutzutage auf dem Mauerweg läuft, wird sie traurig. So viele Leute seien an der Mauer ums Leben gekommen, „die wären jetzt ja alle so alt gewesen wie ich. Das wären Partner für heute gewesen.“ Sie verstehe nicht, warum Politik solche Grenzen setzen musste: „Warum war das nötig? Warum kann nicht jeder leben, wie er es möchte?“



