Als Heinz Florian Oertel am 11. Dezember vorigen Jahres 95 Jahre alt wurde, gehörte ich zu den wenigen glücklichen Gratulanten, die Oertels Ehefrau Hannelore, die stets zuerst ans Telefon geht, zur Sportreporter-Legende durchstellte. Zu viel Anstrengung, zu viel Aufregung war schon damals nicht gut für den Jubilar, dessen Gesundheit schon länger nicht mehr die beste war. Frau Oertel „filterte“ meist die zahlreichen Anrufer. Noch einige Jahre zuvor hatte Oertel im schon hohen Alter regelmäßig am Morgen 25 Minuten Gymnastik getrieben und war eine halbe Stunde spazieren gegangen in der Schönholzer Heide in Pankow, wo sein Wohnhaus steht. Das war nicht mehr möglich und schwer für einen Mann, der zuvor jahrzehntelang permanent in Bewegung war.
Wie immer sagte er aber mit fester Stimme am Telefon: „Hallo, hier ist der Florian. Wie geht es dir?“ Wir duzten uns schon seit sehr vielen Jahren, genauer, seitdem ich Mitte der 1980er-Jahre anfing, als junger Journalist im Sportressort der Berliner Zeitung zu arbeiten. Stets am Sonntagmittag, immer wenn wir Redakteure zum Dienst kamen, machte Oertel eilig im Verlagshaus in der Karl-Liebknecht-Straße am Alexanderplatz Station und gab einen DIN-A4-Umschlag beim Pförtner ab. Zeit für einen kurzen Plausch hatte er nur selten. Obwohl Oertel mit seiner Aura meist Ruhe ausstrahlte, war er doch oft in Zeitnot, weil er an zahlreichen Projekten parallel arbeitete. Im Umschlag lag das Manuskript seiner Kolumne für die Montagsausgabe „Beobachtet und kommentiert“. Die füllte auf der Sportseite exakt eine Spalte. 25 Jahre lieferte der vielbeschäftige, in den Medien omnipräsente Oertel diese Texte.
Seinen 95. Geburtstag hat Heinz Florian Oertel nicht gefeiert
Seinen 95. Geburtstag habe er nicht gefeiert, verriet er. Im November und Dezember habe er vor allem die Fußballweltmeisterschaft in Katar im Fernsehen verfolgt. Kommentieren wollte er mir gegenüber das Gesehene nicht. Bei meinem Anruf sagte ich zu ihm: „Florian, deine Stimme klingt aber sehr gut, beinahe so wie früher.“ Seine Antwort: „Meine Stimme war mein wichtigstes Handwerkszeug. Ich habe sie immer gepflegt.“
Nun ist diese einprägsame, sonore Stimme für immer verstummt. Heinz Florian Oertel, der bekannteste und vielseitigste Sportreporter der DDR – ein glänzender Entertainer – ist am 27. März im Kreise seiner Familie in Berlin-Schönholz gestorben.
Zum ersten Mal bewusst verfolgt habe ich als Junge eine Reportage von Oertel, als er im August 1960 blumenreich die dramatische Entscheidung der Rad-Weltmeisterschaft auf dem Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal beschrieb, als der kleine Bernhard Eckstein den Titel holte – vor dem größten DDR-Radsport-Idol Gustav Adolf Schur, von allen nur „Täve“ gerufen, und dem lange in Führung liegenden Belgier Willy Vanden Berghen.
Oertel war in vielen DDR-Haushalten der ständige Begleiter
Oertel wurde danach zum ständigen Begleiter in vielen Haushalten, er kam mit seiner unverwechselbaren Stimme aus dem Radio oder mit seinen stattlichen 1,90 Meter Körpergröße aus dem Fernsehapparat. Als Sportinteressierter konnte und wollte man ihm nicht entkommen. Er gehörte zum Sport-TV-Wochenendprogramm wie das üppige Mittagessen und der Sonntagsspaziergang danach. Oertel berichtete von 17 Olympischen Spielen – Winter wie Sommer – von acht Fußballweltmeisterschaften und Dutzenden Championaten im Eiskunstlaufen, dem er sehr zugetan war.
Die Auftritte der DDR-Stars Gaby Seyfert, Christine Errath und natürlich von Katarina Witt beschrieb er liebend gern und voller Pathos. Die Eis-Königinnen berichteten Jahre später so über ihre Gefühle: „Wenn Oertel als Kommentator in der Eishalle vor Ort war, habe ich mich irgendwie sicher und wohlgefühlt“, sagte etwa Christine Errath, die Weltmeisterin von 1974.

Jahrzehntelang war HFO, wie er auch genannt wurde, zudem die „Stimme der Friedenfahrt“, der einst sehr populären Rundfahrt der besten Rad-Amateure zwischen Berlin, Prag und Warschau. Doch Oertel, der sportlich lebte, auf seine Gesundheit achtete, kaum Alkohol trank, das Rauchen verteufelte und voller Ehrgeiz gegen die Kollegen Tennis spielte, war der Beruf des Sportreporters nicht genug. Ihn trieb es auch in die Unterhaltung, obwohl seine Reportagen oft selbst genügend Unterhaltung boten.
In der Rundfunksendung „He,he,he – Sport an der Spree“ widmete er sich dem Breitensport und war selbst aktiv. Er gilt als Erfinder des Berliner Neujahrslaufs. In der TV-Sendung „Porträt per Telefon“ interviewte er Prominente aus Kultur, Wissenschaft, Sport – eben aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. 254 Mal flimmerte diese Sendung zwischen 1969 und 1990 über die Bildschirme und Oertel war sehr stolz auf dieses Format. Oft war er selbst Gast in Shows wie dem „Kessel Buntes“, moderierte Sendungen wie „Schlager einer großen Stadt“.
17 Mal zum „Fernseh-Liebling“ des Jahres in der DDR gewählt
17 Mal wurde er zum „Fernseh-Liebling“ des Jahres in der DDR gewählt. Zwischen Ostsee und Erzgebirge stieg Oertel selbst zum Star auf und stand meist im Mittelpunkt – wo er auch auftauchte. Ein sogenannter Star wollte er nicht sein, genoss aber die große Zuneigung der meisten Menschen, die ihm zuhörten oder zusahen. Als er einst selbst Gastgeber beim „Kessel Buntes“, dem Aushängeschild der DDR-Fernsehunterhaltung, war, führte er übrigens das Radsport-Trio der dramatischen Weltmeisterschaft von 1960 zu einem Wiedersehen gemeinsam auf die Bühne: Eckstein, Schur und Vanden Berghen.
Oertel wurde 1927 in Cottbus geboren. Als Angehöriger der Kriegsmarine geriet er in britische Gefangenschaft. Zurück in Deutschland trat er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei und später der SED. Danach folgten berufliche Stationen im Schnellkurs: Schauspieler und Regieassistent am Cottbuser Theater, Ausbildung zum Lehrer für Deutsch und Sport, ab 1949 Arbeit beim DDR-Hörfunk und später beim Deutschen Fernsehfunk, der ab 1972 Fernsehen der DDR hieß.
Er begleitete die Erfolge und Niederlagen unzähliger Athleten der DDR bei den nationalen und internationalen Meisterschaften, aber mit einigen Sportstars ist sein Name ganz besonders eng verbunden. Dazu zählen vor allem Rad-Weltmeister „Täve“ Schur (heute 92), Skisprung-Olympiasieger Helmut Recknagel (86), Marathon-Olympiasieger Waldemar Cierpinski (72) und die Eiskunstlauf-Königin Katarina Witt (57). Gerade diesen Größen hat Oertel mit seinen außergewöhnlichen, oft auch in der Wortwahl überschwänglichen oder gar übertrieben-pathetischen Beschreibungen ihrer Triumphe ein Denkmal gesetzt.

Der Mann mit der unverwechselbaren Stimme, dem Gefühl für eine gepflegte Sprache, dem enormen Wortschatz und dem großen Fachwissen schrieb auch zahlreiche Bücher. Sein Erstlingswerk hieß „Mit dem Sportmikrofon um die Welt“. Der Titel passte, denn Oertel war privilegiert und an vielen Orten dieser Welt, was ihm Bewunderer, aber auch Neider einbrachte. Er weilte als „rasender Reporter“ in Ländern und auf Kontinenten, die für die meisten DDR-Bürger vor 1989 tabu und nicht zugänglich waren. Und sprach natürlich auch von den DDR-Spitzensportlern als „Diplomaten in Trainingsanzügen“. In seinen Reportagen weckte er bei vielen Zuhörern und Fernsehzuschauern den Stolz auf die Leistungen der Athleten, man wurde oft mitgerissen und fieberte mit Marathonmann Cierpinski oder mit Skispringer Jens Weißflog oder mit Katarina Witt mit, wenn diese ihre „Carmen“ auf dem Eis zelebrierte.
Lange Freundschaft mit „Täve“ Schur
Mit Radsport-Idol „Täve“ Schur aus Heyrothsberge nahe Magdeburg verband ihn eine lange Freundschaft. Unzählige Male hatte Oertel die Leistungen des zweimaligen Weltmeisters vor allem bei der Internationalen Friedensfahrt beschrieben – entweder aus dem „rollenden Übertragungswagen“ während der Etappen oder bei den Zielankünften in den Stadien.
Den Siegsprung von Skisprung-Olympiasieger Helmut Recknagel, der auch dreimal die Vierschanzentournee gewann, bei den Weltmeisterschaften 1962 im polnischen Zakopane kommentierte er so: „Junge, Junge, das war eine Traumreise, ein Gedicht, bravo, bravo … Das war kein Menschensprung, das war ein Adlersturz!“ Recknagel, in der Berliner Karl-Marx-Allee zu Hause, ist noch heute stolz auf diese Art der Würdigung seines Sprungs.
Die berühmteste Reportage aber lieferte Oertel 1980 während der Olympischen Spiele in Moskau ab, als der Hallenser Waldemar Cierpinksi seinen Triumph im Marathonlauf von den Spielen in Montreal 1976 wiederholen wollte. Als der kleine zähe Läufer ins 100.000 Zuschauer fassende Stadion im Luschniki-Park einlief und der zweiten Goldmedaille ganz nahe war, rief Oertel voller Inbrunst: „Man möchte sich an den Zeiger der Geschichte hängen, um die Uhren anzuhalten, weil die Größe dieses Augenblicks für eine Momentaufnahme viel zu schade ist. Liebe junge Väter, haben Sie Mut! Nennen sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar! Waldemar ist da!“
Diese Reportagen zählen genauso wie die legendäre Schilderung des westdeutschen Radiomannes Herbert Zimmermann vom Finale um die Fußball-WM 1954 zwischen Deutschland um Kapitän Fritz Walter und Ungarn in Bern, zu den unvergessenen Sternstunden deutscher Radiogeschichte. Doch Oertel hatte auch Kritiker. Die kamen vor allem aus dem Lager der Fußballer. Der ehemalige DDR-Nationaltrainer Georg Buschner urteilte einmal drastisch: „Oertel ist einer für den Eiskunstlauf, vom Fußball hat er keine Ahnung.“
Mit dem Ende der DDR verliert Heinz Florian Oertel sein großes Publikum
Mit dem Ende der DDR und der folgenden Abwicklung von Berliner Rundfunk und Fernsehen 1991 verlor auch Oertel, der 1989 aus der SED ausgetreten war, sein großes Publikum. Es blieben Verletzungen und auch einiges an Bitternis. Im dann geeinten Deutschland war nicht mehr viel Platz für Oertel im „großen Sport“ und auf den Bildschirmen. Einmal sagte er: „Nach der Wende habe ich sieben Jahre gebraucht, um eine Haltung zu finden, was ich noch erzählen will.“






