Der FC Augsburg hat etwas vom FC Bayern. Unmöglich eigentlich, den aktuellen Bundesligaspitzenreiter mit dem Tabellendreizehnten zu vergleichen. Hier, beim deutschen Rekordmeister, sind es 62 Punkte, da, bei den Fuggerstädtern, mit 31 nur die Hälfte. Bei den Toren, 81 hier und 39 da, bringen es die Männer von Enrico Maaßen nicht einmal auf fünfzig Prozent vom Branchenprimus.
Wie nur kann ein solches Team, das als einziges aus dem derzeitigen 18er-Feld noch nie das Erstliga-Ranking angeführt hat, mit dem Super-Schwergewicht des deutschen Fußballs verglichen werden? Von Augenhöhe kann bei einem derartigen Klassenunterschied niemals die Rede sein, zumindest aus Sicht des 1. FC Union Berlin ist das jedoch durchaus der Fall. Dabei steht für die Köpenicker extrem viel auf dem Spiel. Vier Endspiele um Europa haben sie noch, und die Chancen auf die Champions League sind intakt. Allerdings könnte sich auf dem Weg dahin die Partie am Sonnabend beim FC Augsburg als die schwerste erweisen. Es ist für die Rot-Weißen so etwas wie die Entscheidung zwischen Königsklasse und Prinzenrolle.
Die Bilanz der Eisernen gegen die Mannschaft aus der Stadt der Puppenkiste ist nämlich gruselig: In vier Spielen in der zweiten Bundesliga hat es für die Berliner nicht einen Dreier gegeben, und in sieben Vergleichen in der Bundesliga haben die Jungs von Trainer Urs Fischer erst einen eingefahren. Ziemlich lange her ist das außerdem. Ein 2:0 haben die Anhänger in der Alten Försterei erlebt, im ersten Bundesligajahr der Eisernen war das. Nur ist außer Kapitän Christopher Trimmel kaum noch jemand aus der damaligen Siegerelf da. Michael Parensen hatte einen Anteil daran, hat jedoch als Technischer Direktor der Lizenzspielerabteilung längst die Funktionärslaufbahn eingeschlagen. Sheraldo Becker wiederum, mit neun Treffern bester Saisontorschütze der Köpenicker, hat die neunzig Minuten mit den Toren von Neven Subotic und Marcus Ingvartsen seinerzeit auf der Bank abgesessen.
Zwei waren trotzdem noch dabei, wenn damals auch auf der eigentlich falschen Seite: Rani Khedira, der vor seinem 200. Bundesligaspiel (davon bisher 61 für den 1. FC Union Berlin) steht, beim FCA, Rafal Gikiewicz bei den Eisernen. Der Pole hielt seinerzeit die Null, gehörte zu den Garanten des souveränen Klassenerhalts und hat sich dank eines Kopfballtores bei einem 1:1 gegen Heidenheim in der Aufstiegssaison so etwas wie Kultstatus erworben.
Beim Team aus dem Südosten Berlins kann ein analytischer Beobachter um den Torhüter ohnehin keinen Bogen machen. Die Schlussmänner spielen in der Wuhlheide schon immer eine etwas andere Rolle. Als 1980 von den Anhängern erstmals der Unioner des Jahres gewählt wurde, hatte der damalige Kapitän Joachim „Bulle“ Sigusch die Nase vorn. Danach aber übernahmen die Schlussleute mit Vehemenz das Feld. Wolfgang Matthies, in späteren Jahren als wertvollster Spieler der Eisernen gewürdigt, erhielt die Ehrung wie sein Nach-Nachfolger Jan Glinker viermal. Oskar Kosche, seit 2006 Geschäftsführer und seit 2009 Präsidiumsmitglied, kam zweimal auf Platz 1, außerdem setzten sich der einstige Pokalheld Sven Beuckert sowie Marcel Höttecke und Daniel Haas durch – und 2019, nach dem Aufstieg in die Bundesliga, Rafal Gikiewicz.
An Rafal Gikiewicz scheiden sich die Geister
Aus diesem Holz sind Helden gemacht. Erst recht und vor allem in Köpenick. An Gikiewicz aber scheiden sich die Geister. Eigentlich schon immer. Oft war er mit seinen Paraden vorneweg, manchmal aber auch mit dem Mund. Oder mit seinem Körper und mit seiner Aura, von der er glaubt, mit ihr alles erreichen und jeden überzeugen zu können. Als nach dem ersten Stadtderby in der Bundesliga, das die Rot-Weißen gegen die Blau-Weißen aus Westend dank eines Elfmetertores von Sebastian Polter in einem bis zum letzten Augenblick hitzigen Duell mit 1:0 gewonnen hatten, Chaoten aus dem eigenen Fanblock in den Innenraum eindrangen, wehrte Gikiewicz sie mit dem Einsatz seiner Muskeln und deutlicher Worte ab. Das hatte fast was von Naivität und hätte nicht nur sprichwörtlich ins Auge gehen können.
Falscher Ehrgeiz oder das Gefühl, nicht nur im Fußballtor, sondern ebenso auf anderer Ebene unüberwindbar zu sein, lassen die Pferde mit ihm schon mal im Galopp traben. Dabei sollte der Torhüter, nach Fan-Lesart sowieso, auf immer und ewig ein Aufstiegsheld sein und als Fußballgott verehrt werden. Das ist ungeschriebenes Gesetz in der Ultra-Szene. Mit dem Polen aber tun sie sich schwer. Ihn bekommen sie irgendwie nicht zu fassen. Auch passt er nicht in ihr Schema, weil er nach Jahr 1 in der Bundesliga ohne Not die Seiten wechselte und nach Augsburg ging. Sie hätten mit ihm, der außer im Heimderby gegen Hertha BSC in acht weiteren Spielen die Null gehalten hatte, gern weitergemacht. Kontinuität hat gerade auf der Position des Schlussmannes eine besondere Note. Der Abbruch der Beziehung und der Wechsel zu einem Gegner, mit dem sich die Eisernen auf Augenhöhe wähnten, hatte was von Vertrauensverlust, von gefühlter Undankbarkeit und schon gar nichts von „einmal Unioner, immer Unioner“.

Mit einem Blick auf die aktuelle Entwicklung könnte beim Thema Gikiewicz der Gedanke an ein Déjà-vu kommen. Nur können sich die Unioner diesmal entspannt zurücklehnen. Das Problem haben allein die Augsburger. Ihr Schlussmann nämlich, seit seinem Wechsel aus der Wuhlheide auch im Süden der Republik als Ballfänger unumstritten, kocht mal wieder sein eigenes Süppchen. Seit drei Spielen, wovon die Augsburger, die insgesamt seit sieben Partien auf einen Sieg warten, keines gewonnen haben, fehlt Gikiewicz. Eine Schulterverletzung zwingt ihn zur Pause. So zumindest die offizielle Lesart. Andererseits halten sich Gerüchte, dass der Pole, zuletzt vom Tschechen Tomas Koubek vertreten, im Vertragspoker stecke. Zwei Spiele fehlen ihm, damit sich sein im Sommer auslaufender Kontrakt optional verlängert. Die Augsburger spielen dieses Spielchen bewusst mit. „Rafa ist unsere Nummer 1“, versichert Enrico Maaßen, „jetzt ist er aber verletzt und muss gesund werden. Wenn er wieder richtig fit ist, wird er wieder im Tor stehen.“
Darauf sollte sich der Trainer, zumindest was Augsburg angeht, lieber nicht festnageln lassen. Denn nicht nur dort wird darüber gemunkelt, dass der Klub seine Fühler längst nach einem Nachfolger ausgestreckt hat. Auch wenn Schlussmänner im Fußball meist das längste Laufbahnleben haben, hat Gikiewicz mit 35 Jahren den bedeutendsten Abschnitt seiner Erstligakarriere wahrscheinlich hinter sich. In derlei Fällen wird gern auch damit gezockt, den Vertrag auf möglichst elegante Weise – eine wie auch immer geartete „Schulterverletzung“ kommt da ziemlich recht – auslaufen zu lassen, um ablösefrei zu wechseln und vom aufnehmenden Verein als Dank ein sattes Handgeld zu kassieren.
Frederik Rönnow packt das Glück des Tüchtigen
Nach Gikiewicz ist bei den Männern aus Köpenick auf der Position der Nummer 1 lange keine Ruhe eingekehrt. Andreas Luthe kam, was sonst eher in einer Patchwork-Familie vorkommt, aus Augsburg an die Spree, blieb aber auch nur zwei Jahre. Loris Karius versuchte sich als Leihgabe des FC Liverpool in einigen Partien, bis schon zu Luthes Zeiten einer kam, mit dem die Wuhlheider anscheinend jenen zwischen den Pfosten gefunden haben, der zu ihnen passt wie einst der Hauptmann zu Köpenick: Frederik Rönnow.


