Kolumne 1. FC Union

Wieder Europa: Selbst für Experten ist es schwer, das Phantom Union zu erklären

Die Eisernen setzen auch in ihrem dritten Bundesligajahr fast alle allgemeingültigen Regeln außer Kraft und produzieren damit viele Fragezeichen.

Selbst TV-Experten wie Lothar Matthäus (r.) haben es schwer, in ihrer Analyse das Phänomen 1. FC Union Berlin zu entschlüsseln.
Selbst TV-Experten wie Lothar Matthäus (r.) haben es schwer, in ihrer Analyse das Phänomen 1. FC Union Berlin zu entschlüsseln.imago/Matthias Koch

Vom Journalisten zum Buchautor ist es nicht gerade weit. Beider Profession ist es, etwas mitzuteilen, im besten Fall auf unterhaltsame Weise. Der eine holt weiter aus und hat dafür viel Zeit, manchmal sogar Jahre. Der andere sollte sich kürzerfassen und alsbald auf den Punkt kommen, weil mit dem Schlusspfiff oft auch schon der Text stehen muss. Doch zu erzählen haben beide etwas, auch wenn hier die Fantasie Galopp fahren darf, dort wiederum alles einem Ergebnis untergeordnet werden muss.

Man sollte die Fans des 1. FC Union mal erzählen lassen

Um Geschichten über den 1. FC Union zu schreiben, die vielleicht einen anderen Dreh erhalten könnten als üblich, wäre folgende Idee womöglich plausibel: Fans von neun bis 90 Jahren erzählen von ihrem ersten, schönsten, schlimmsten, bemerkenswertesten, bittersten, enttäuschendsten, persönlichsten Mal mit den Eisernen und wann sie tatsächlich Feuer gefangen haben und vom Fieber gepackt worden sind. Es käme ein Kaleidoskop bunter Episoden zustande, die auf eine völlig andere Art die Historie der Rot-Weißen widerspiegeln könnten.

Eines ist dabei von vornherein klar: Der rote Faden ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Ebenso klar ist: Das zu Ende gehende Spieljahr ist selbst von geübten Schreibern nur schwer in Worte zu fassen. Wenn schon der nie zu Übertreibungen neigende Urs Fischer zu einer Vokabel wie „Wahnsinn“ greift, dann muss etwas Außergewöhnliches passiert sein. Oder, Trainer? Die Eisernen übertreffen sich mal wieder selbst und haben ganz viel Spaß dabei.

Gern wird, um den Erfolg zu erklären, von der eisernen Familie gesprochen und von dem Mythos, der dieses eigentliche Patchwork-Gebilde aus 28 Spielern, von denen fünf im Laufe der Saison die Alte Försterei verlassen haben, ausmacht. Es muss etwas haben von Pattex, Uhu-Kleber oder – um dort zu bleiben, wo der 1. FC Union seine Wurzeln hat – Duosan Rapid, um den Zusammenhalt zu erklären, der dieses Gefüge variieren lässt zwischen Gummi und Beton, an dem die Gegner einerseits abprallen und sich andererseits die Zähne ausbeißen.

Wobei: Erklären lässt sich all das, was rund um diesen Verein gerade passiert, nicht. Seit es im deutschen Fernsehen die Experten gibt, hat es so etwas noch nicht gegeben. Selbst Günter Netzer, gemeinsam mit Gerhard Delling der Grimme-Preis-Träger der Fußball-Erklärbären, hätte wahrscheinlich nicht gewusst, wo und wie er bei den Eisernen anzusetzen hat. Der Altmeister des akkuraten Passes und des geschliffenen Wortes hätte seine Probleme, das Phantom 1. FC Union auf den Punkt zu bringen.

Denn die Rot-Weißen kommen nicht aus der Tiefe des Raumes, sie räumen in der Tiefe vielmehr auf. Und zwar mit manchem Klischee. So der Tatsache, dass das zweite Jahr in einer höheren Liga immer das schwerere ist oder dass eine Dreifachbelastung geradezu zwangsläufig zu einem Leistungsabfall und manchmal sogar zum Abstieg führt. Das mag alles zutreffen, jedoch nicht auf die Trimmel-Knoche-Khedira-Awoniyi-Becker-Gruppe des Frühjahres 2022.

Nur Play-offs könnten noch ein Stolperstein sein

Es wird, zumindest deutet alles darauf hin, für die Eisernen auch in der kommenden Saison manches Sonntagsspiel geben. Die einzige Hürde, die sich noch in den Weg stellen könnte, sind Play-offs. Die wären der letzte noch mögliche Stolperstein auf dem Trip durch Europa. Nur haben die Männer um Capitano Christopher Trimmel längst und nachdrücklich bewiesen, wie sie mit derlei Herausforderungen umgehen: überaus erfolgreich.

Es ist also schon wieder Europa! Was dort möglich ist, haben Feyenoord Rotterdam und Slavia Prag, die beiden Gruppengegner, an denen die Eisernen in dieser Saison knapp gescheitert sind, gezeigt. Im Viertelfinale standen sich die Niederländer und die Tschechen erneut gegenüber und hatten sich zwei wilde Partien geliefert. Rotterdam, ganz nebenbei, steht am 25. Mai in Tirana im Endspiel gegen AS Rom. Es gibt wohl keinen Union-Fan, der da nicht anfängt zu träumen.