Union-Serie

Mehr als nur ein Fußballverein: Der 1. FC Union Berlin ist für alle eine Familie

Kontinuierliche Arbeit hat Union bis in die Champions League geführt. Diese Protagonisten sind die Väter des Aufstiegs. Serie, Teil 16: Bemerkenswerte Familie.

Ein besonderer Moment im ersten Bundesliga-Heimspiel des 1. FC Union Berlin: Die Fans zeigen Bilder gestorbener Fans.
Ein besonderer Moment im ersten Bundesliga-Heimspiel des 1. FC Union Berlin: Die Fans zeigen Bilder gestorbener Fans.Britta Pedersen/dpa

Dieser 18. August 2019, es ist ein Sonntag, ist in mancherlei Hinsicht ein bemerkenswerter Tag in der Historie des 1. FC Union Berlin. Ein überaus bemerkenswerter sogar. Zwei Tage zuvor hat die 56. Saison der Bundesliga begonnen. Dass Bayern München als Titelverteidiger nur 2:2 gegen Hertha BSC spielt, interessiert in Köpenick die meisten nur nebenbei, eher schon, dass Paderborn in Leverkusen beim 2:3 gut mithält und Köln in Wolfsburg beim 1:2 ebenso. Beide knappen Verlierer sind wie der 1. FC Union neu in der Liga, nur waren sie im Gegensatz zu den Eisernen in der Vergangenheit (Köln als Gründungsmitglied und erster Meister, Paderborn eine Spielzeit) schon dabei. Für die Männer aus der Alten Försterei ist es die Premiere, sie probieren sich das erste Mal. Es passt auch zahlenmäßig: In der 56. Saison greifen sie als 56. Verein in die Jagd um Punkte in der Bundesliga an!

Nach dem ersten Spiel hängt beim 1. FC Union Berlin die Rote Laterne

Sie hauen gleich mal auf die Pauke, nicht sportlich, da versagen sie auf ganzer Linie, denn nach einem ganz und gar niederschmetternden 0:4 gegen Leipzig, es ist selbst vier Jahre später noch die höchste Heimniederlage, hängt am Ende des Spieltages die Rote Laterne in Köpenick. Zwar zum ersten und bislang letzten Mal, doch das ahnt an diesem Tag noch niemand. Eher ist es nach der ersten Lektion ein: Sechs, setzen! Vielmehr senden sie ein Signal ganz anderer Art in die Republik, eines, das sie als Einheit ausweist, als verschworene Gemeinschaft, als Familie.

Das ist, zugegeben, ein großes Wort. Das geht an der Wuhle an diesem Tag so: Mit 22.012 Plätzen, auf den meisten wird gestanden, ist das Ballhaus des Ostens ausverkauft. Mehr geht beim besten Willen nicht, auch nicht mit zusammenrücken und auf den Schoß nehmen. In dieser besonderen Stunde aber, aus diesem einmaligen, weil nie wiederkehrenden Anlass, quillt die Hütte über. Diesmal kommen 455 Anhänger dazu, ganz besondere zumal, weil sie nicht körperlich im Stadion sind und es nicht sein können. Denn diese 455 Menschen, für die Rot und Weiß die Farben des Lebens waren und die alles für ihren Verein gegeben hätten, sie leben nicht mehr.


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Trotzdem sollen sie teilhaben an diesem Festtag, weil der 1. FC Union ihr Leben war, ihr Ein und Alles. So Ingeborg Lahmer, viele Jahre Sekretärin im Verein und für den früheren Trainer Harald Seeger „eher eine Assistentin und Managerin“, für den späteren Coach Heinz Werner „außerordentlich aufmerksam, wissend und kompetent“, die noch im biblischen Alter die Heimspiele besuchte, kurz vor dem Aufstieg 99-jährig starb und am Premierenspieltag als 100-Jährige garantiert persönlich im Stadion gewesen wäre. So neben der einstigen guten Fee etlicher Spielergenerationen 454 andere Menschen, die mit dem Herzen Unioner und nur Unioner waren.

Damit setzen die Eisernen gleich zu Beginn ein Zeichen. „Durch den Aufstieg verändert sich nichts, gar nichts“, sagt Präsident Dirk Zingler. Er meint, was alle meinen: Wir bleiben, wie wir sind. Wir bleiben eisern und unserer Seele und vor allem unserem Herzen treu.

Wo andernorts Werbespots laufen, verliest Christian Arbeit, Kommunikationsdirektor und für die meisten ein kultiger Stadionsprecher, in den Halbzeitpausen in der Alten Försterei deshalb weiterhin die Namen der seit dem vorigen Heimspiel verstorbenen Fans, gibt ihnen letzte warme Worte mit und hat, wenn es mal zu viele sind, sogar einen etwas in dieser Situation lockeren Spruch drauf: „Jetzt wird’s aber langsam eng im Union-Himmel …“

Einige Jahre vor dem Aufstieg schon, 2016 aus Anlass des 50. Gründungsjubiläums des 1. FC Union Berlin, hat Dirk Zingler die eiserne Sicht auf die Union-Familie so in Worte gefasst: „Wir waren in der Vierten Liga und in der Dritten und sind in die Zweite gekommen. Vielleicht werden wir in den nächsten 20 Jahren wieder mal alle Ligen besuchen – na und? Das hat den Verein in den vergangenen 50 Jahren nicht klein gekriegt und das wird ihn auch in den nächsten 50 Jahren nicht umbringen. Weil er bedeutend mehr ist als das Ergebnis, und da meine ich nicht den Kontostand und auch nicht den aktuellen Tabellenplatz, sondern ich meine die Verankerung des Vereins bei den Menschen.“

Das hat tatsächlich viel mit dem Drumherum zu tun, mit dem legendären Weihnachtssingen, das von Köpenick die Republik erobert hat, mit Drachenbootrennen, mit Fanturnieren und allerlei anderen sozialen Aspekten. Wenn die Fans stimmgewaltig sogar in fremden Stadien ihr „Unsere Liebe. Unsere Mannschaft. Unser Stolz. Unser Verein“ anstimmen, kommt das aus voller Überzeugung und aus tiefstem Herzen. „Union ist sozialer Mittelpunkt geworden bei den Menschen außerhalb des Fußballspiels“, sagt Zingler deshalb, „es rollt gar kein Ball und trotzdem organisieren die Menschen was, kommen zusammen und haben diesen gemeinsamen Nenner: Hier fühlen wir uns wohl.“

Rührende Geste der Union-Mannschaft für Torwart Jakob Busk

So wohl, dass Jakob Busk sich trotz ausgelaufenen Vertrages und Verabschiedung nach sechseinhalb eisernen Jahren im Sommer 2022 zu einer spontanen Rückkehr entschließt. Obwohl der Däne, einst als Nummer eins von Rekordmeister FC Kopenhagen gekommen, bis dahin in drei Jahren keine einzige Minute in der Bundesliga gespielt hat (im vierten ist es keine Sekunde besser geworden), dabei nur hin und wieder wenigstens auf der Bank sitzen darf, führt er für sein Wiederkommen vor allem diesen Grund an: „Union und Berlin sind mein Zuhause geworden.“

Genau diese Wärme, diese Geborgenheit erfährt die Familie Busk im Herbst vorigen Jahres. Im Spiel des DFB-Pokals gegen Heidenheim erzielt Sven Michel gerade das 2:0, feiert seinen Treffer aber kaum, sondern eilt an den Spielfeldrand, holt dort das gelbe Torwarttrikot von Busk und grüßt damit gemeinsam mit den Mitspielern den zu Hause gebliebenen dritten Torhüter. Am Tag danach lüftet der Schlussmann das eher traurige Geheimnis: „Meine Familie und ich haben gerade eine sehr schwere Zeit, denn mein Sohn Carlo wurde zum dritten Mal in seinem kurzen Leben operiert. Zum Glück ist alles gut verlaufen.“ Busk ist gerührt und bedankt sich mit herzlichen Worten: „Das war einfach eine tolle Geste von der Mannschaft und dem Verein, die mich und meine Familie unglaublich unterstützt haben in dieser Zeit. Das zeichnet ‚uns‘ aus bei Union, wir sind eine große Familie und, wenn es nötig ist, füreinander da.“