Es ist eine Krankheit, die nicht nur marginalisiert wird, sondern über die häufig auch noch abfällig geredet wird: Das Lipödem führt dazu, dass Frauen dicke und schmerzende Beine kriegen, die gar nicht zum Rest des Körpers passen. Sie bekommen oftmals komische Blicke oder dumme Kommentare.
Um über die Krankheit aufzuklären und Hilfe anzubieten, hat Betriebswirtin Helena Rapprich zusammen mit ihrer Schwester Anina Langhans, IT- & Produktmanagerin, die Gesundheits-App Lipocheck mit Sitz in Prenzlauer Berg entwickelt. Dafür wurden die beiden unlängst ausgezeichnet.
Im November 2023 gewannen die beiden Gründerinnen beim IDEE-Förderpreis, sind Zweitplatzierte hinter dem Berliner Start-up Shit2Power, das aus dem Abfallprodukt Klärschlamm Energie gewinnt, Wasserstoff beispielsweise – nachhaltig, ressourcenschonend, lokal.
Der IDEE-Förderpreis wird seit 25 Jahren von dem westdeutschen Unternehmer Albert Darboven (Kaffeerösterei J.J. Darboven; Idee-Kaffee) vergeben. Damit sollen innovative Ideen beziehungsweise Firmengründungen von Frauen gewürdigt werden; es ist der einzige Preis dieser Art in Deutschland.
Lipocheck wurde erst im Sommer 2022 gegründet. Ausschlaggebend war ein Gespräch der Schwestern mit ihrem Vater, einem Dermatologen und Venen-Facharzt: Seit mehr als 30 Jahren behandelt Dr. Stefan Rapprich Frauen, die unter einem Lipödem leiden.
„Er erzählte, dass er eine Warteliste von zwei Jahren für eine Erstuntersuchung hat“, erinnert sich Helena Rapprich. „Das hat uns geschockt, und so entstand dann die Idee einer Gesundheitsanwendung, denn die meiste Zeit bei einer Erstuntersuchung geht für die Aufklärung drauf.“ Und in diese Lücke, wenn man so will, stößt Lipocheck: Aufklärung, Hilfe zur Selbsthilfe, Beratung, digitale Vernetzung zu einem Spezialisten.
Denn: „Es gibt beim Lipödem neben der Versorgungslücke auch ein großes Unwissen, was auch daran liegt, dass das Krankheitsbild lange nicht anerkannt wurde“, so Helena Rapprich. Erst seit 2017 ist die Erkrankung international klassifiziert und kann somit offiziell diagnostiziert werden; das sind diese ICD-Codes, die auf einer Krankschreibung oder Überweisung stehen.
Erstmalig beschrieben im Sinne einer Krankheit wurde das Lipödem in den 1940ern, doch die Symptome gab es wohl schon vor Jahrtausenden. Dass Frauen mit ihrem Leiden ernst genommen werden, ist ein ganz junges Phänomen und längst nicht flächendeckend. Noch immer müssen sie Häme ertragen, ganz viel erklären, sich rechtfertigen.
Was ist ein Lipödem?
„Etwa jede zehnte Frau leidet an einem Lipödem“, sagt Dermatologe und Lipocheck-Mitgründer Stefan Rapprich. „Viele von ihnen haben jahre- oder gar jahrzehntelang auf eine Diagnose gewartet.“ Das Vorurteil, die Betroffenen würden sich falsch ernähren und müssten mehr Sport treiben, hält sich hartnäckig.
Dabei ist das Lipödem „eine chronische Fettverteilungsstörung, bei der es zu einer unkontrollierten und nicht beeinflussbaren Fetteinlagerung an Beinen und an den Hüften kommt“, so der Mediziner. „Es ist eine genetisch bedingte Erkrankung des Unterhautfettgewebes, die häufig in Zeiten hormoneller Umstellung getriggert wird.“ Das heißt: Die Anlagen trägt die Frau in sich; ob und wann die Krankheit ausbricht, ist individuell verschieden.
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Vieles ist noch nicht erforscht. Was man aber weiß: „Nicht die Hormone selbst sind schuld am Lipödem, sondern die Umstellung, beispielsweise in der Pubertät, durch Schwangerschaften oder während der Wechseljahre“, sagt Stefan Rapprich. Stress spielt wohl auch eine Rolle.
Betroffene Frauen leiden nicht nur am Erscheinungsbild, sondern auch unter Schmerzen. Viele berichten, es fühle sich an, als sei Stacheldraht um ihre Beine gewickelt oder als würde ein Ballon platzen. Teil des Krankheitsbildes ist auch, dass scheinbar grundlos blaue Flecken an Armen und Beinen entstehen.
„Das Lipödem bildet sich nicht von alleine zurück“, sagt der Experte. „Man kann jedoch die Symptome lindern und das Fortschreiten stoppen.“ Unterteilt wird das Lipödem je nach Ausprägung in drei Stadien, wobei das erste Stadium das Anfangsstadium ist, das beispielsweise durch sogenannte Reiterhosen und tastbare, schmerzhafte Verdickungen charakterisiert ist.
Übrigens: Schmerzmittel helfen Lipödem-Betroffenen nur kurzfristig oder gar nicht. Da die Schmerzen häufig dauerhaft oder lange spürbar sind, ist eine fortlaufende Medikation wegen der möglichen Nebenwirkungen keine Lösung. Besser ist es, beispielsweise durch Bewegung im Wasser gegenzusteuern.
Was hilft gegen das Lipödem?
Es gibt derzeit keine Möglichkeit, das krankhafte Lipödem-Fettgewebe zu reduzieren – außer mit einer Operation. Die sogenannte Liposuktion ist zwar „die nachhaltigste Therapie“, wie Lipocheck-Chefin Helena Rapprich erklärt, „allerdings zahlen das die Krankenkassen momentan nicht.“ Noch nicht, denn es laufen Studien, um die Nachhaltigkeit der OP zu belegen und die Kassen so zu einer Übernahme der Kosten zu bewegen.
Um ein dauerhaftes Ergebnis zu erzielen, muss man zum Teil mehrere Operationen über sich ergehen lassen (siehe unten). Eine Sitzung kostet im Schnitt zwischen 4000 und 7000 Euro; im ersten Stadium reicht manchmal eine Sitzung. Es kommt darauf an, wie weit die Erkrankung fortgeschritten ist.
Mit der medizinisch anerkannten OP sollen die Schmerzen gemindert und das optische Erscheinungsbild verbessert werden, was den Leidensdruck insgesamt verringert. „Deshalb nehmen viele Frauen auch einen Kredit auf oder sparen lange dafür“, weiß Helena Rapprich. „Sie wollen ihre Lebensqualität wiederhaben.“
Wer das Geld (noch) nicht hat, kann mit den sogenannten konservativen Therapien gegen das Fortschreiten des Lipödems ankämpfen. Klassischerweise empfehlen Fachleute die Lymphdrainage, also eine Art der professionellen Massage.
„Damit wird der Lymphfluss angeregt, sodass Schwellungen gelindert werden“, so die Unternehmerin, die durch ihre App zur Lipödem-Expertin geworden ist – auch ohne Medizinstudium. „Zudem können die Botenstoffe in den Lymphen, die für Schmerzen verantwortlich sind, abtransportiert werden.“
Diese Form der manuellen Therapie, die man sich verschreiben lassen kann, ist ebenso sinnvoll gegen schmerzende und schwere Beine. Der Therapieerfolg ist individuell verschieden.
Bis zu dreimal pro Woche für jeweils eine Stunde kann die Lymphdrainage durchgeführt werden. Man selbst kann zu Hause Bürstenmassagen vornehmen oder mit einer Faszienrolle arbeiten.
Bewährt hat sich darüber hinaus Wassersport oder generell Bewegung im Wasser. Zum einen werden die Gelenke entlastet, weil man sich im Wasser schwerelos fühlt, und zum anderen führt der Wasserdruck zu einer sanften Form der Drainage. Die Folge: „Betroffene erfahren für zwei bis drei Tage eine Erleichterung“, sagt Helena Rapprich.
Darüber hinaus wird Frauen mit Lipödem empfohlen, Kompressionsstrümpfe zu tragen, die – ebenso wie die zuvor beschriebenen Maßnahmen – ein Fortschreiten der Krankheit verlangsamen. Diese sollten möglichst kontinuierlich getragen werden, um einen größtmöglichen Effekt zu erzielen.
Warum Ernährung beim Lipödem doch eine Rolle spielt
Überhaupt spiele das Selbstmanagement eine große Rolle, sagt Helena Rapprich: „So raten wir den Frauen auch, Wert auf eine gute Hautpflege zu legen und den Körper proaktiv zu unterstützen.“ Besonders gut gelingt das mit einer antientzündlichen Ernährung.
Das empfiehlt sich bereits bei den ersten Symptomen wie unerklärlich dicker werdenden Beinen. Da Fettzellen generell eine Rolle bei stillen Entzündungen im Körper spielen, sollten Lipödem-Betroffene besonders gut auf ihre Ernährung achten.
Das heißt, dass man beispielsweise Fertiggerichte vermeidet, weil diese Transfette sowie Konservierungsstoffe enthalten, die Entzündungen fördern können. Omega-3-Fettsäuren hingegen wirken Entzündungen entgegen; enthalten sind sie unter anderem in fettem Fisch (Lachs, Makrele), aber auch gutem Leinöl, das unter Ausschluss von Licht, Hitze und Sauerstoff hergestellt wurde (Oxyguard-/Oxysafe-Verfahren).

Außerdem gelten Kurkuma (in Kombination mit Pfeffer!), Zimt, Muskat sowie eine pflanzenbasierte Ernährung als entzündungslindernd. Auch fermentierte Lebensmittel (ungekochtes Sauerkraut, Kimchi, Joghurt, Apfelessig) als hilfreich, weil sie die Darmflora und somit das dort sitzende Immunsystem unterstützen.
Die Lipocheck-App (4,99 Euro pro Monat) bietet daher viele Rezepte und erklärt, welche Sportarten oder welche Form der Bewegung für den aktuellen Gesundheitszustand gerade passend sind; denn eine Tagebuchfunktion gibt es auch. Diese hilft dabei, die Krankheit besser überwachen und jederzeit richtig reagieren zu können. Auch die Vernetzung mit einem Arzt oder einer Ärztin ist möglich.
Das ganzheitliche Konzept führte dann auch zur Auszeichnung: „Durch die intelligente Kombination verschiedener Inputdaten ermöglicht die Technologie von Lipocheck die frühzeitige Erkennung, objektive Diagnose und personalisierte Behandlung der Krankheit Lipödem“, heißt es seitens des IDEE-Förderpreises.
Wie läuft eine Lipödem-Operation ab?
Eine Fettabsaugung erfolgt entweder unter Vollnarkose oder Lokalanästhesie. Anders als bei einer herkömmlichen, ästhetischen Fettabsaugung müssten die Ärztinnen und Ärzte bei einer Lipödem-OP besonders viel Erfahrung mitbringen, um nicht die eh schon belasteten Lymphbahnen zusätzlich zu beschädigen, so Rapprich.
Zudem versucht man, das krankhaft veränderte Gewebe so gut wie möglich zu entfernen, sodass nichts zurückbleibt – eines der Risiken.
Denn falls nicht alles abgesaugt wird, kann es sein, „dass es doch wieder zu einer Vermehrung kommen kann, da zurückgebliebene Lipödem-Fettzellen sich auch weiterhin wie welche verhalten“, warnt der Arzt Stefan Rapprich. „Allerdings wird es nie wieder so schlimm, wie es zuvor war, wie wir aus Langzeitstudien wissen.“






