Zugegeben: Es kann langweilig sein, einen Kinderwagen zu schieben und dabei nichts anderes zu tun, als sein Baby im Blick zu behalten und möglichst anzulächeln. Gleiches gilt für das Stillen. Heutzutage weiß man, wie wichtig es ist, seinem Säugling Sicherheit zu vermitteln, indem es stets auf wachsame Augen trifft. „Das fördert eine gelungene Bindung“, sagt der Kreuzberger Kinder- und Jugend-Psychiater Dr. Andreas Wiefel, Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP). Aber wer schafft das schon? Sind wir nicht alle mal abgelenkt vom Handy, von Gesprächen mit anderen Menschen oder Eindrücken, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten? Ist das schlimm? Müssen Eltern ein schlechtes Gewissen haben, sich gar um das Gedeihen ihres Babys sorgen?
Fehlender Augenkontakt fördert Angst
Frauke Mecher ist Physiotherapeutin und behandelt auch viele Säuglinge sowie Kleinkinder. Seit Jahren beobachtet sie immer mehr Eltern, die – im Wartezimmer, auf dem Spielplatz, an der Bushaltestelle – mit versteinerter Miene aufs Handy gucken und so die Kontaktversuche ihres Nachwuchses nicht bemerken. Man nennt das „Stillface“, also frei übersetzt: unbewegliches, eingefrorenes Gesicht. „In solch einer ausdruckslosen Mimik kann das Kind nichts lesen, sich nicht rückversichern, weshalb es anfängt zu quengeln, um wieder mehr Aufmerksamkeit zu bekommen“, weiß Frauke Mecher. Aber auch wenn das Kind älter ist, kann die Handynutzung problematisch sein – nämlich dann, wenn es darum geht, ein Vorbild fürs Kind zu sein.
„Natürlich hat man häufig Dinge zu erledigen, muss eine Einkaufsliste ins Handy tippen oder jemandem dringend antworten. Aber das ist nicht das Problem“, so die Physiotherapeutin. „Sondern es geht um das fortgesetzte dauerhafte Handystarren. Ein dauerhaft unterbrochener Augenkontakt macht dem Kind Angst, was einem behüteten Aufwachsen entgegensteht. Ich bemerke es in der Praxis zunehmend, dass ich nicht nur die Kinder, sondern auch ein Stück weit der begleitende Elternteil mit behandeln und gleich zu Beginn sagen muss: ‚So, jetzt konzentrieren wir uns mal eine Zeit lang nur auf die Übungen.‘“
Eltern von kleinen Kindern werden bei der Physiotherapie oft eingebunden, wofür es wichtig ist, dass Elternteil und Kind gut miteinander harmonieren, einander lesen und verstehen können. „Vor der Behandlung muss ich also checken, ob die Interaktion stimmt, weil das für den Verlauf und den Erfolg der Therapie wichtig ist“, sagt Frauke Mecher. „Eine gestörte Bindung zeigt sich hier dann deutlich.“
Wie wichtig Aufmerksamkeit, die zugewandte Anwesenheit ist, hat man schon vor Jahrzehnten in Experimenten erforscht: Babys wurden dabei beobachtet, wie sie reagieren, wenn die Mutter voll und ganz bei ihnen ist, empathisch reagiert, lächelt. Diese Kinder waren in der Regel ausgeglichen und entspannt. Dann hat man untersucht, wie sie reagieren, wenn die Mütter dauerhaft wegschauen oder ohne Mimik auf den Säugling herabblicken. Hier reagierten die Kleinen hektischer, weinten und strampelten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und die Mutter zu einer Reaktion, zu einem Gesichtsausdruck zu bewegen.
Aber auch Kinder brauchen Pausen vom Blickkontakt
„Aus diesen Experimenten stammt auch der Begriff ‚Stillface‘“, weiß Psychotherapeut Dr. Andreas Wiefel. „Allerdings waren das sehr künstliche Situationen, die so in der Realität eher selten vorkommen, weil kein Elternteil absichtlich ausdruckslos guckt.“ Vielmehr sei es so, dass es im Alltag allerhand Gründe gibt, weshalb man als Mama oder Papa nicht den Augenkontakt zum Kind hält. „Früher hat man Zeitung am Frühstückstisch gelesen, und das war auch in Ordnung“, so Dr. Andreas Wiefel. Heute sei es eben ein anderes Medium, das Handy. Zugleich gibt es Situationen, in denen man wegguckt, etwa weil man die rote Ampel im Blick behalten muss oder mit einem älteren Geschwisterkind spricht. „Auch Babys müssen lernen zu akzeptieren, dass Eltern mal keine Zeit haben. Solange es im Grundsatz ein liebevolles, bindungsorientiertes Miteinander gibt, wird das Kind keinen Schaden davontragen“, sagt der Therapeut.
Ob man beim Kinderwagenschieben oder Stillen tatsächlich das Handy braucht, ist für den Experten eher eine Stil- und Zeitfrage. „Die meisten Eltern stehen unter enormem Zeitdruck, müssen vieles parallel erledigen, Dinge organisieren. Das erfordert dann eben manchmal auch, auf dem Handy zu tippen, während man sich eigentlich dem Baby zuwenden sollte oder das ältere Kind auf dem Spielplatz tobt. Das damit verbundene schlechte Gewisse und (vielleicht auch nur gefühlten) verächtlichen Blicke anderer Eltern kennt wohl jede Mama oder jeder Papa.
Insofern gibt der Kindertherapeut Entwarnung: „Entspannen Sie sich. Andere können den Kontext nicht beurteilen. Sie entscheiden, ob es nötig ist, das Handy zur Hand zu nehmen, und Sie werden einen guten Grund dafür haben. Und es ist auch in Ordnung, mal für einige Minuten Zerstreuung zu suchen, mal nicht hundertprozentig für andere da zu sein. Jeder feinfühlige Elternteil muss sagen dürfen: ‚Warte mal kurz!‘ Das ist eine Form der Selbstfürsorge, die Eltern auch ab und zu mal vernachlässigen, und von daher in Ordnung.“
Die Grundsatzfrage lautet: Ist so etwas systematischer Bestandteil der Eltern-Kind-Beziehung oder eine Ausnahme? Bin ich anteilig mehr mit meinen eigenen Interessen beschäftigt, als ich mich tatsächlich meinem Kind zuwende? Oder bin ich generell ansprechbar und präsent in dessen Leben?
Handy in Konkurrenz zum Kind
Es gibt, abgesehen vom Handy, auch viele andere Situationen, in denen Eltern ihr Kind nicht im Fokus haben, etwa wenn sie mit einem Sport-Kinderwagen joggen gehen oder beim Angeln, wo das (ältere) Kind lernen muss, ziemlich lange sehr leise zu sein. „Solche Situationen werden gesellschaftlich nicht so kritisch beäugt wie die Mutter, die den Wagen schiebt und nebenbei auf dem Handy liest“, so Dr. Andreas Wiefel. „Dabei kommt es gar nicht auf die paar Minuten an, sondern auf die grundsätzliche Qualität der Beziehung: Wie guckt man auf sein Kind? Liebevoll oder genervt? Mit Interesse oder nicht? Mein Rat: Schauen Sie nicht auf die Uhr, sondern in Ihr Herz.“
Im Übrigen ist es ja so, dass Babys oft genug selbst keine Lust haben, ihre Eltern anzugucken. Sie brauchen Pausen vom Blickkontakt, wollen auch den Rest der Welt sehen. Kein Kind braucht oder will permanente Aufmerksamkeit, das ständige Beobachtetwerden. „Und das Anschauen ist kein Selbstzweck, sondern es geht um den Austausch. Wenn der stattfindet und insgesamt positiv ist, darf man auch ruhig zwischendurch zum Handy greifen“, sagt Therapeut Dr. Andreas Wiefel. „Die Mischung macht’s.“






