Jeden Nachmittag und am frühen Morgen zeigt sich das gleiche Spektakel: Tausende von Krähen fliegen über die City Ost, ziehen rund um den Alex ihre Bahnen, lassen sich auf Bäumen und Hausdächern nieder. Dabei veranstalten sie ein ordentliches Geschrei.
Um 15.30 Uhr geht es meistens los, wenn die Dämmerung sich allmählich ankündigt. Das Crescendo steigert sich zunehmend, und kurz nach 16 Uhr ist der Himmel voller schwarzer fliegender Vögel. Eine Kakofonie, eine Choreografie, die irgendwie faszinierend, aber zugleich auch wenig bedrohlich wirkt.
Man denkt unweigerlich an Hitchcocks „Die Vögel“ und fragt sich: Wo kommen die alle so plötzlich her? Und was tun sie da überhaupt? Berlins Stadtnaturexperte Derk Ehlert weiß es, denn er beobachtet das Phänomen schon seit Jahren und kann genau erklären, wie es dazu kommt.
„Das sind zum Großteil reine Wintertouristen“, sagt der Wildtierreferent der Senatsumweltverwaltung. „Es sind riesige Schwärme aus Dohlen sowie Saat- und Nebelkrähen. Einige davon sind hier heimisch, aber vor allem die Saatkrähen kommen aus Osteuropa und verbringen den Winter hier bei uns in der Stadt.“
Wieso fliegen so viele Krähen über Mitte?
Die Gegend rund um den Alex sei mittlerweile ein traditioneller Übernachtungsplatz für die Vögel. Sie kommen pünktlich zum Winterbeginn, schlafen auf Bäumen und Dächern. „Die meisten von ihnen kommen von ihren Futterstellen am Stadtrand angeflogen und treffen sich hier. Warum sie das tun, ist nicht so ganz klar“, sagt Derk Ehlert.

Es gibt aber einige Theorien dazu. Es kann damit zusammenhängen, dass es in der Innenstadt wärmer ist als in den Randbezirken. Außerdem orientieren sich Vögel auch an bestimmten Fixpunkten – und da ist natürlich der Fernsehturm, der selbst vom Stadtrand gut zu sehen ist, auch für die Vögel eine hervorragende Orientierung. Und so erstaunt es dann auch nur bedingt, dass bei Nebel weniger Krähen in Mitte zu beobachten sind. Dann versammeln sie sich eher am Stadtrand.
„Generell orientieren sich Vögel am Magnetfeld, dem Sternenhimmel und topografischen Gegebenheiten“, weiß Derk Ehlert. „Krähen merken sich Orte wie Wälder, Hügel und fliegen vielfach auch entlang von Straßenachsen oder über den Verlauf der Spree zum Beispiel.“
Das lässt sich momentan gut beobachten. Und hören! „Die Gesänge dienen der Kommunikation, denn Krähen und Dohlen sind Singvögel, auch wenn es für uns anders klingt“, so der Experte. „Die unterhalten sich also. Nur wissen wir nicht, worüber.“
Von Kolkraben wisse man, so Ehlert, dass sie „sich treffen, um Informationen auszutauschen, beispielsweise welche Futterquellen sich lohnen. Und es geht auch darum, Partnerschaften anzubahnen und das familiäre Sozialverhalten zu stärken.“
Kolkraben seien aber nicht unter den Schwärmen der Innenstadt. Ob die Krähen und Dohlen auch übers Futter plaudern, flirten und sich womöglich vor Gefahren warnen – unklar. „Fest steht nur: Grundlos machen die das nicht“, bilanziert der Wildtierexperte.
Das Phänomen gab’s schon zu Mauerzeiten
Krähen überwintern schon seit den 1970ern in Berlin, weiß Derk Ehlert: „Damals gab es noch offene Mülldeponien, die sie magisch angezogen haben. Jetzt gibt es solche Plätze nicht mehr, aber die Vögel kommen trotzdem gern.“
In der Stadt gibt es eben immer noch genug Nahrung. Und Krähen sind klug, können sich selbst aus Mülltonnen und Brottüten Speisereste herausfischen, lassen Nüsse auf die Straße fallen, damit hinüberfahrende Autos sie knacken. Und dann können die Krähen die Nussbröckchen aufpicken. Clever!
Und sie sind gesellige Tiere, leben im Schwarm. In den frühen Siebzigern überwinterten die Krähen und Dohlen in der Jungfernheide, später dann – bis in die 1980er hinein – im Treptower Park sowie im Tiergarten. Die winterlichen Schlafplätze verlagerten sich immer weiter Richtung Osten, zuletzt sehr konzentriert vor allem rund um Humboldt-Forum und Neptunbrunnen.

Derzeit erstreckt sich das Nachtquartier unserer gefiederten Gäste von der Jannowitzbrücke bis zur Museumsinsel und rund um den Fernsehturm. Damals wie heute versammelten sie sich am Nachmittag zur Dämmerung und brachen frühmorgens wieder auf, um zu ihren Fressplätzen am Stadtrand zu fliegen.
Übrigens: Im Februar oder März ist das ganze Spektakel dann wieder vorbei. Das ist nämlich der Zeitpunkt, wenn die tierischen Touristen wieder in ihre heimischen Gefilde aufbrechen. Bis zum nächsten Winter.
Sind die Krähen gefährlich?
Grundsätzlich geht von den Vogelschwärmen keine Gefahr aus. Vereinzelt gibt es Berichte, wonach brütende oder junge Kräheneltern Menschen attackieren – aber die Brutzeit kommt erst noch. Momentan sind die Vögel im Wintermodus. Es zählt also in erster Linie das Überleben. „Von den Vögeln geht keine Gefahr aus“, stellt Ehlert klar.
Auch über die Exkremente müsse man sich nicht sorgen, so der Stadtnaturexperte: „Es heißt ja immer wieder, dass der Kot von Tauben ätzend sei. Doch wissenschaftlich bewiesen ist das nicht. Auch für die Krähen gilt: Deren Losungen am Baum selbst stören nicht, und auf dem Boden sind sie ein wertvoller Dünger und wachstumsfördernd.“




