Volkskrankheit Tinnitus. Rund zehn Prozent der Deutschen leiden dauerhaft unter Ohrgeräuschen, und etwa zwei bis drei Prozent von ihnen sind dadurch stark in ihrem Alltag eingeschränkt. Die Folge: Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafprobleme, Gereiztheit. Meistens ist Stress der Auslöser für einen Tinnitus. Der Körper ist überfordert und reagiert mit dem fiesen Ohrgeräusch.
Das wiederum stresst Betroffene noch mehr, sodass der Tinnitus stärker wahrgenommen wird – ein wahrer Teufelskreis, der zu Depressionen und Selbstmordgedanken führen kann. „Mit der richtigen Therapie jedoch kann man das gut in den Griff kriegen“, verspricht Dr. Uso Walter. Einzige Bedingung: „Sie brauchen etwas Geduld.“
Was ist ein Tinnitus?
Rein medizinisch wird ein Tinnitus definiert als ein „Ohrgeräusch, das keine Schallquelle der Außenwelt entspricht“, so der Mediziner. Einfach ausgedrückt: Man hört ein Sirren, Pfeifen, Brummen, Pulsieren, Piepen, Rauschen – bei jedem Betroffenen ist es anders. Doch das nervige Geräusch existiert nur im Kopf.
In unserem Ohr sind Tausende von Sinneshärchen. Sie sterben altersbedingt ab, und zwar von Geburt an. „Das führt aber zu einem Störstrom im Hörnerv, der normalerweise von der Hörverarbeitung wieder weggefiltert wird – wir nehmen ihn nicht wahr. Wenn der Kopf jedoch Teile des Störstroms durchlässt, beispielsweise bei Stress oder Kiefergelenksverspannungen, haben wir einen Tinnitus“, erklärt Dr. Uso Walter, der selbst einmal betroffen war. Er sagt: „Streng genommen haben wir alle einen Tinnitus, einfach weil wir altern. Nur: Nicht jeder nimmt ihn wahr. Es ist ein Problem des Kopfes, nicht des Ohres.“
Die Sinneshärchen können aber auch schlagartig beschädigt werden, etwa wenn man bei einem lauten Konzert war. „Und es gibt Berufsgruppen, die besonders anfällig für Tinnitus sind: Lehrer mit lauten Klassen, Selbstständige, die wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit gestresst sind oder Berufsmusiker, auf die meist beides zutrifft, Lautstärke und Stress.
Das eigentliche Problem beim Tinnitus ist aber nicht das Geräusch selbst, sondern die Reaktion auf das Geräusch, wie Dr. Uso Walter weiß: „Man ist zunächst angespannt, weil das Geräusch nervt und einfach nicht aufhört. Oftmals fühlen sich Betroffene unverstanden, weil ihnen gesagt wird, sie sollen sich ablenken. Das führt zu Wut. Und dann setzt bei vielen ein Eskalationsprozess ein: Es wird mit aller Macht versucht, das Geräusch mit irgendwelchen obskuren Heilmittelchen loszuwerden.“
Was passiert, ist jedoch das Gegenteil: Man beschäftigt sich permanent mit dem Tinnitus, räumt ihm wahnsinnig viel Platz im Leben ein. „Und darin liegt letztlich der Schlüssel zu Besserung“, so Dr. Uso Walter.
Wie werde ich den Tinnitus wieder los?
„Mit dieser Frage kommen die Patienten zu mir“, erzählt der Mediziner. „Ich soll das Geräusch wegmachen. Das Problem ist aber gar nicht das Geräusch, sondern die Verarbeitung im Kopf. Hier entscheidet sich, ob das Geräusch gehört wird oder stört.“
Man müsse sich einmal klarmachen, wie das Gehör funktioniert, so der HNO-Experte: Es ist permanent auf Sendung, auch nachts. Das einzige Sinnesorgan, das nie Pause macht.
„Unwichtige Geräusche werden herausgefiltert, beispielsweise unser Herzschlag. Obwohl der eigentlich ganz schön laut und mitten in uns ist, hören wir ihn nicht. Wichtige Geräusche hingegen werden verstärkt, etwa das Weinen eines Babys, das uns in Alarm versetzt. Nehmen wir den Tinnitus also wichtig, wird er verstärkt und eskaliert. Gelingt es uns, ihn nicht mehr so wichtig zu nehmen, tritt er in den Hintergrund.“
Schritt eins
Darum: „Vermeiden Sie Stille. Versuchen Sie lieber die Ohrgeräusche bewusst zu neutralisieren, indem Sie sich eine angenehme äußere Geräuschkulisse schaffen“, rät Dr. Uso Walter. Das kann die blubbernde Kaffeemaschine sein, oder sanfte Musik, ebenso das Meeresrauschen oder Grillenzirpen. Für derartige Endlos-Schleifen-Geräusche gibt es spezielle Abspielgeräte, man kann sie aber auch im Internet abspielen.
„So können Sie die Symptomatik lindern, weil die Geräusche eine akustische Ablenkung sind“, sagt der HNO-Arzt. „Zugleich müssen Sie aber an die Ursache ran, und das ist häufig der Stress. Sorgen Sie also für Entspannung.“
Schritt zwei
Runterkommen. Nur wie? Was man als entspannend empfindet, ist individuell verschieden. Probieren Sie es aus! Ist es der Spaziergang im Wald? Ein warmes Bad? Mal wieder in Ruhe lesen!? Vielleicht versuchen Sie es mit Yoga, einem Mittagsschlaf oder der bewussten Muskelentspannung (PMR).
Es klingt banal, hilft aber nachweislich: Wer sich entspannt, nimmt dem Tinnitus seine Macht. Er wird zu einem immer kleineren Teil.
Aber: „Sie müssen sich um des Entspannens willen entspannen – und nicht, um den Tinnitus loszuwerden“, warnt der Arzt. „Ja, das klingt paradox, aber nur so funktioniert es.“ Wenn Sie denken: ‚Ich entspanne mich, dann geht der Tinnitus weg‘ dreht sich schon wieder alles nur ums Ohrgeräusch. Gehen Sie aber mit der Einstellung an die Sache, dass Sie tatsächlich etwas für sich tun wollen, steht der Tinnitus nicht im Vordergrund Ihres Denkens und Handelns. Der Weg ist das Ziel!
Schritt drei
„Entscheidend sind Ihre Emotionen, und das ist zugegebenermaßen der schwierigste Teil“, sagt Dr. Uso Walter. „Es geht darum, wie Sie das Geräusch bewerten, wie stark es mit negativen Gefühlen aufgeladen ist.“
Was Sie nicht ändern können, müssen Sie lernen zu akzeptieren. Daran führt kein Weg vorbei. „Das Geräusch gehört zu Ihnen, ebenso wie das Herzpulsieren“, erklärt der Mediziner. „Die Hörverarbeitung muss lernen, dass das keine Gefahr ist und somit wegfiltern kann.“ Da das unterbewusste Reaktionen sind, die man nicht bewusst beeinflussen kann, hilft hier häufig nur eine Verhaltenstherapie.
Was ist Stress überhaupt?
Stress ist Überlastung. Und jeder spürt sie anders. Es gibt Leute, die wuppen einen 12-Stunden-Arbeitstag und gehen mit ruhigem Puls ins Bett. Andere hingegen empfinden ihren Teilzeitjob als belastend. „Stress empfindet jeder anders“, weiß Dr. Uso Walter. „Er führt aber zu verschiedensten Symptomatiken, nicht nur zum Tinnitus.“
Deshalb ist das Vermeiden von Stress immer ein guter Ratschlag. Und wer das nicht kann, sollte an seinem Mindset arbeiten: Es ist eine Frage der Sicht auf die Dinge. Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Bin ich genervt, weil ich jetzt auch noch einkaufen muss? Oder freue ich mich, weil ich mir dann etwas extra Leckeres kaufen kann? Bin ich genervt vom meckernden Chef, oder kann ich sehen, dass er jede Menge Probleme am Hals hat und nicht in der Lage ist, diese zu sortieren?
„Beobachten Sie sich und überdenken Sie Ihre Lebenseinstellung“, rät Dr. Uso Walter. „Das ist schon die halbe Wegstrecke, den Tinnitus zu besiegen.“
„Je stärker Sie versuchen, Ihr Ohrgeräusch zu bekämpfen, desto wichtiger bleibt es in Ihrem Kopf. Stellen Sie sich gedanklich also auf eine Umprogrammierung ein“, fasst der HNO-Arzt zusammen: „Erstens: kurzfristige Ablenkung. Zweitens: mittelfristiger Stressabbau. Drittens: langfristige Akzeptanz.“








