Berlin -Wir alle wollen unsere Kinder bestmöglich fördern, ihnen eine Freude machen, sie spielerisch zum Lernen animieren. Leider lassen wir uns dabei auch viel zu häufig von Produkten verführen, die nicht nur unnötig, sondern teilweise sogar schädlich für ein kleines Kind sein können. Frauke Mecher ist seit 40 Jahren Physiotherapeutin, behandelt hauptsächlich Kinder, und sagt: „Es ist mitunter erschreckend, was vermeintlich unterstützende Geräte für Probleme machen können. Und das schlimmste ist, dass diese Dinge auch noch damit beworben werden, dass sie beispielsweise die Motorik fördern.“
Das Credo der Expertin: Weniger ist mehr! Das gilt sowohl für die Anschaffungen selbst, als auch für den Einsatz an sich. „Hinterfragen Sie jeden Kauf – oder auch jedes Geschenk kritisch –, und seien Sie auch zurückhaltend wenn es darum geht, das Gerät zu nutzen“, empfiehlt Frauke Mecher. Was die meisten Eltern (und auch Großeltern) häufig verkennen: „Kinder lernen in ihrem eigenen Tempo. Es ist total sinnlos, sie hinzusetzen oder hinzustellen, um das zu üben. Denn die Entwicklungsschritte müssen die Kinder selbst hinbekommen, und das geht erst, wenn die Muskulatur und die Motorik soweit sind“, sagt Frauke Mecher.
Alle Babys starten in der Rückenlage, dann geht es über die Seitlage weiter in die Bauchlage – in der Regel können die Babys den Kopf gleich nach der Geburt in der Bauchlage drehen, ein paar Wochen später, wenn auch das Fixieren allmählich besser wird, heben die Kinder das Köpfchen, um sich zu orientieren „So macht das Kind seine ersten Erfahrungen mit der Schwerkraft, was seine Muskulatur trainiert“, erklärt Frauke Mecher. „Es fängt dann an, sich zu drehen und zu robben, um an Dinge heranzukommen. Und in diesem Alter erweckt so ziemlich alles seine Aufmerksamkeit, auch ein Löffel. Je nach Alter und Reifung des Kindes wird die Unterstützungsfläche, die es benötigt, immer kleiner und die Anforderungen an die Koordination des Halte- und Bewegungsapparates immer größer.“
Es ist ein fortwährendes Training, bei dem Arme, Beine, Hände und Füße ebenso benötigt werden wie Rücken, Kopf und Auge. Das Zusammenspiel der verschiedenen Körperteile muss geübt werden, und alles hat seine Zeit. Wenn die Rückenmuskulatur des Babys noch nicht ausgebildet ist und man es hinsetzt, sackt es zusammen – und man riskiert Haltungsschäden. Da hilft auch kein Abpolstern mit Kissen. „Darum rate ich grundsätzlich zur Geduld: Die Kinder kriegen das früher oder später von alleine hin, sobald sie reif dafür sind, und sind dann auch stolz auf ihren neuen Entwicklungsschritt.“
In der Praxis behandelt Frauke Mecher immer wieder Kinder, die absolut gesund sind, aber aufgrund von falsch verstandener Förderung auch mit einem halben Jahr noch nicht auf dem Bauch liegen können: „Die rudern dann mit den Ärmchen und wissen nicht, wie sie sich halten sollen.“ Dabei lautet die einfache Grundregel: Zum Schafen auf den Rücken, zum Spielen auf den Bauch. Die Expertin zieht ein klares Fazit: „Nicht alles, was verkauft und mit starken Worten beworben wird, ist auch gut.“ Im Gespräch mit der Berliner Zeitung verrät die Physiotherapeutin, von welchen Hilfsgeräten sie die Finger lassen sollten und welche – zumindest zeitweise – guten Gewissens genutzt werden können.
Tragehilfe
Babytragen und Tragetücher sowie allerhand Variationen derselben gehören heutzutage eigentlich zur Standardausrüstung aller Eltern. Das Baby ist nah bei Mama oder Papa, und man selbst hat die Hände frei. Babys sind von Natur aus Traglinge, weil sie sich nicht aus eigener Kraft fortbewegen können. Darum sind Tragehilfen durchaus eine sinnvolle Anschaffung. Aber: „Die Kinder werden sehr früh in eine aufrechte Position gebracht, die die Rumpfmuskulatur aktiv noch gar nicht halten kann. Seitliche Abweichungen der Wirbelsäule und eine Kopfschiefhaltung können die Folge sein“, resümiert Frauke Mecher. Es ist also wichtig, die Trage gut einzustellen beziehungsweise das Tuch gut zu binden, auf eine gute Position des Babys zu achten. Eine Trageberatung kann hier eine gute Orientierung bieten.
Wichtig: Auf dem Rücken sollte man das Kind nur tragen, wenn es selbstständig in der Lage ist zu sitzen. Ebenso sollten Sie es nicht mit dem Gesicht nach vorne tragen, sodass also der Rücken des Babys an Ihrem Bauch anliegt. Die angeblich so freie Sicht ist vor allem für Kinder unter sechs Monaten eine Überforderung – die vielen Reize kann es nicht verarbeiten. „Bei jeder Bewegung des oder der Tragenden nach vorne muss sich das Kind wie ein Tandemfallschirmspringer mit dem Gesicht zum Himmel fühlen. Es ist in seiner Raumorientierung total überfordert und reagiert oft mit kläglichem Geschrei“, erklärt die Physiotherapeutin. Und bei Jungs gilt in jedem Alter: Die Geschlechtsteile könnten bei der nach vorne gerichteten Tragweise eingequetscht werden.
Autoschale
Das Problem bei Autoschalen ist ihre Zweckentfremdung. Nutzt man sie, um das Baby sicher mit dem Auto zu transportieren, ist das vollkommen okay. „Bei längeren Strecken sollte man regelmäßig Pausen machen, damit das Baby sich bewegen, mal in eine andere Position kommen kann“, sagt Frauke Mecher. Allerdings gibt es für jede Autoschale auch Adapter, mit denen sich das Teil bequem aufs Kinderwagengestell setzen lässt. Die Folge: Babys werden stundenlang in den Schalen durch die Gegend geschoben. Man sieht das unter anderem in Shoppingcentern, Fußgängerzonen und Parks. Und das ist nicht gut, weil die Position – der leicht gekrümmte Rücken – nicht ideal ist. „Das flache Liegen, wie etwa im Kinderwagen, ist für die kindliche Entwicklung ideal“, so die Expertin. „Aber so kann man natürlich kein Baby im Auto transportieren.“
Zudem sind die Babys in der Autoschale angeschnallt. Das ist ja auch Sinn des Ganzen. Aber im Kinderwagen können sie sich drehen, haben beim Greifen viel mehr Spielraum, was in der Autoschale nicht möglich ist. Die Folge bei regelmäßigem Einsatz der Autoschale können Entwicklungsverzögerungen und Haltungsschäden sein. Darum sollte der Grundsatz gelten: Autoschalen nur im Auto! Für Spazierfahrten am besten den Kinderwagen nutzen. Da können Sie Ihr Kind auch mal auf den Bauch legen und raugucken lassen.
Babywippe
Eine Wippe ist für viele Eltern eine Erleichterung, wenn sie beispielsweise schnell unter die Dusche wollen. „Für solch kurze Situationen ist das in Ordnung, aber längere Phasen sollten Babys nicht in einer Wippe verbringen, weil sie meistens sehr schnell in eine Schieflage geraten“, so Frauke Mecher. „Das kann zu Haltungsproblemen führen.“ Aber die Wippe schränkt auch den natürlichen Bewegungs- und Erforschungsdrang des Kindes ein: Es ist fixiert und kann nicht versuchen, irgendwohin zu gelangen oder nach etwas zu greifen. Es übt nicht, sich mit den Armen aufzustützen und die Nackenmuskulatur zu trainieren. Gleiches gilt übrigens auch für Tragehilfen: Das Baby kann sich nicht bewegen und demnach auch seine Fähigkeiten nicht erweitern.
„Hinzu kommt, dass durch eine Wippe das Sehfeld des Kindes eingeschränkt wird, denn es kann ja den Kopf nicht mehr drehen und wenden wie es möchte“, ergänzt die Physiotherapeutin. Zudem könnte das Baby mit der Wippe umkippen, sofern es schon größer ist und seine Kraft entsprechend ausreicht. „Darum sollte man sein Kind niemals unbeaufsichtigt in der Wippe lassen, und vor allem sollte man die Wippe mit Kind niemals irgendwo drauf stellen“, warnt Frauke Mecher.
Spielbogen/Trapez
Prinzipiell ist ein Spielebogen oder ein Trapez eine gute Sache: Das liegende Baby wird zum Greifen angeregt, kann oben sowie an den Seiten etwas entdecken. Jedoch: Sinnvoll ist das erst ab der 6. Woche, weil die Baby zuvor nicht in der Lage sind, die Augen konzentriert auf etwas zu richten was weiter weg ist. Greifen wollen oder können die meisten Kinder erst ab etwa dem 4. Monat. Bis dahin gilt: Gucken ist auch toll. Und am liebsten werden die lächelnden Gesichert der Eltern angeschaut.
„Das angebrachte Spielzeug sollte nicht direkt über dem Gesicht baumeln, weil das Baby sonst seinen Kopf überstrecken könnte“, so Frauke Mecher. Besser ist es, das Spielzeug auf Höhe des Brustbeins oder Bauchnabels aufzuhängen oder vielmehr das Baby entsprechend hinzulegen. Ab dem 5. Monat sollte man die Spielhilfe mal links vom Kind und mal rechts aufstellen, damit es animiert wird, sich seitlich zu drehen und keine einseitigen Vorlieben entwickelt.
Hopser
Egal, wie alt: Alle Kinder lieben es, wild zu hopsen. Und das ist auch der Grund, warum Eltern ihre viel zu kleinen Kinder in ein Hopsgerät stecken: Es juchzt so herrlich! Die Vorrichtung ist simpel – ein an Federn befestigter Stoffsitz, die auf und ab wippt, wenn das Kind sich mit den Füßen vom Boden abstößt. „Und natürlich hat das Baby auch Spaß, aber im Sinne einer gesunden Entwicklung sind Hopser fatal“, sagt Frauke Mecher. „Selbst mit sechs Monaten reicht die Rücken- und Rumpfmuskulatur noch nicht aus, um die Wirbelsäule adäquat gegen die Schwerkraft aufzurichten. Darum weicht sie zur Seite ab, oder das Baby macht einen Rund- beziehungsweise Hohlrücken. All das kann im schlimmsten Fall zu längerfristigen Rückenproblemen führen.“
Hinzu kommt: „Die Kinder stoßen sich permanent mit ihren Zehenspitzen vom Boden ab und können so einen Spitzfuß mit Verkürzung der hinteren Wadenmuskulatursehne hervorrufen. Zehenspitzengänger können die Folge sein“, warnt die Physiotherapeutin. „Das dann wieder weg zu therapieren dauert lange und ist für das Kind ein echter Kampf.“
Natürlich kommt es nicht zu derartigen Folgeproblemen, wenn das Kind immer nur kurz hopst. Gleichwohl rät der Physiotherapeutin von einem Kauf ab: „Alles zu seiner Zeit! Die Natur hat es nicht vorgesehen, dass Babys hopsen. Und ältere Kinder nutzen dann lieber das Sofa oder das Bett zum Herumhopsen.“ Ein Hopser wäre also erst dann okay, „wenn das Kind läuft, die Füße plan aufsetzt und belastet sowie sein Gleichgewicht ausbalancieren kann“, so die Expertin. Aber sobald es das kann, wird es ein solches Gerät nicht mehr benötigen, weil es viel mehr Spaß macht, auf eine Fläche herumzuspringen, als in einer Vorrichtung zu sitzen.
Geh-Geschirr
Sieht ein bisschen aus wie eine Hundeleine: Das Geh-Geschirr wird am Oberkörper des Kindes befestigt, und ein Erwachsener hält das Kind dann an zwei Bändern aufrecht. „Wenn es stürzt, wird man automatisch die Griffe nach oben ziehen, wodurch das Kind erst recht das Gleichgewicht verliert und nach vorn fällt“, sagt Frauke Mecher. „Es kann nicht üben, seine Hände einzusetzen, dabei ist das fürs Fallen absolut wichtig.“
Auch lernt das Kind nicht richtig, selbst das Gleichgewicht zu halten, wenn es in eine Vorrichtung geschnallt ist. Und es fühlt sich womöglich verunsichert, so wie wenn man ständig sagt „Sei vorsichtig“ oder „Pass auf“. Kinder sollten unbedingt „die Erfahrung machen, wie man fällt und aufsteht. Es schult nicht nur die Motorik, sondern es stärkt auch ihr Selbstbewusstsein, wenn sie es alleine schaffen. Das sind Lektionen fürs Leben“, so Frauke Mecher.
Lauflernhilfen
Es gibt zwei unterschiedliche Formen dieser Gehhilfen: Einmal sogenannte Gehfrei, bei denen das Kind in einer Vorrichtung sitzt, die auf Rollen gelagert ist; das Kind stößt sich mit den Füßen ab und bewegt sich beziehungsweise das Gerät fort. Und zum anderen Lauflernwagen, die das Kind vor sich herschiebt. Beide sieht die Physiotherapeutin kritisch.
Vor allem das Gehfreit behindert das Kind massiv in seiner Entwicklung. Beim Laufenlernen machen Kinder Erfahrungen mit dem Gleichgewicht, lernen das Hinfallen und Aufstehen, das Abrollen und Balancieren, Richtungswechsel, das korrekte Aufsetzen des Fußes, seitwärts gehen – ein wahnsinnig komplexer, aber natürlicher Lernvorgang, der für die weitere Entwicklung elementar ist. „Im Gehfrei ist das Kind weitestgehend zur Passivität verdonnert“, sagt Frauke Mecher. „Durch das Abstoßen mit den Füßen und der zügigen Reaktion des Gerätes neigen die Kinder dazu, ihre Kräfte zu überschätzen, was zu schweren Stürzen führen kann, mit und ohne Gehfrei.“
Bei Laufernwagen sollten Eltern darauf achten, dass das Gerät wirklich stabil und kippsicher ist – im Zweifel legen Sie ein paar Packungen Zucker unten hinein. Außerdem rät Frauke Mecher, die Räder so einzustellen, dass sie nicht leichtgängig sind: „Andernfalls rollt der Wagen zu schnell, das Kind kommt kaum hinterher. Dann knallt es entweder nach vorne, hat aber die Hände zum Abstützen nicht frei, oder es läuft mit nach hinten rausgestrecktem Po. Das wiederum ist nicht gut für die Entwicklung der Muskulatur. „Aber klar ist auch: Laufen lernt kein Kind mit so einem, Wagen. Er kann vielleicht unterstützen, ja, aber wirklich nötig ist er nicht.“ Und schieben können Kinder auch Pappkartons, Hocker oder kleine Stühle, das hat im Prinzip den gleichen Effekt wie ein Lauflernwagen.
Laufrad
Grundsätzlich ist ein Laufrad unproblematisch, weil es „den Gleichgewichtssinn fördert und auch den reziproken Wechsel der Füße“, weiß die Physiotherapeutin. Trotzdem sollte man das Laufrad auch immer mal wieder wegstellen und das Kind laufen lassen, damit die kindlichen Füße sich richtig ausbilden können: „Indem die Füße das Gewicht tragen, kann sich das Fußgewölbe erst richtig ausbilden. Eine abwechslungsreiche Aktivität ist wichtig, weil die Reize einen gesunden Fuß fördern“, so Frauke Mecher.








