Das Reich der Mitte ist eigentlich für seine leisen Töne und seine strategische Disziplin bekannt. Viele Menschen waren deshalb von Chinas Reaktion auf Nancy Pelosis Besuch in Taiwan überrascht. So aggressiv kannte man Konfuzius’ Erben nicht. Doch wer genau hinsah, konnte auch schon vor der Eskalation in Taiwan erkennen, wie machtbewusst und rücksichtlos Pekings Führung in den letzten Jahren geworden ist.
Besonders eindrücklich zeigt sich die neue Haltung bei den Diplomaten. Sie nennen sich „Wolfskrieger“. Doch wer dahinter eine chinesische Sage vermutet, irrt. Es geht nicht um Dynastien und Drachen, sondern um einen trashigen Actionfilm aus dem Jahr 2017: „Wolf Warrior 2“. Wer sich den Plot anschaut, findet in einem einzigen Film alle wichtigen Zutaten der neuen chinesischen Weltanschauung.
Wenn der Amerikaner „Big Daddy“ heißt und Virologen tötet
Unruhen erschüttern ein namenloses afrikanisches Land. Der einheimische Jugendliche Tundu sucht Schutz vor brutalen Rebellen. Zu Hilfe kommt ihm ein chinesischer Elitesoldat – der Wolfskrieger. Sie finden Unterschlupf in der chinesischen Botschaft und werden von der chinesischen Marine gerettet. Zunächst scheint es, als ob die Geschichte ein gutes Ende nimmt, doch dann tötet ein amerikanischer Söldner einen chinesischen Virologen, der eine Krankheit in Afrika eindämmen sollte. Eine dramatische Geschichte, in der China das Gute und die USA und der Westen das Böse verkörpern.
Der ganze Film ist eine Mischung aus einem chinesischen Jason Bourne und Steven Seagal. Nur bekämpft Bourne hier den Amerikaner „Big Daddy“ – den skrupellosen Anführer einer europäischen Söldner- und Rebellenarmee. Chinesen waren von dem Blockbuster hingerissen, sie stürmten die Kinos. Nach nur zwei Wochen war der Film der erfolgreichste Streifen in der Geschichte des Landes. Auch die Kommunistische Partei in China ist begeistert von den Wolfskrieger-Filmen. So nahmen sich echte Diplomaten den fiktiven Helden zum Vorbild.

Der wohl bekannteste Wolfskrieger im politischen Peking ist Zhao Lijian, Sprecher des chinesischen Außenministeriums. Lijians Twitter-Auftritt unterscheidet sich jedoch von dem etwa des ehemaligen Regierungssprechers Steffen Seibert. Zynische und beleidigende Karikaturen oder Kommentare sind an der Tagesordnung.
Vor allem die USA sind Zielscheibe des chinesischen Außenamtssprechers. In den vergangenen Monaten hatten Waffen- und Polizeigewalt in den USA Hochkonjunktur auf dem Account von Lijian. So erstickt in einer Karikatur die Freiheitsstatue zwischen einer Pistole und einem überdimensionalen Virus. In einem anderem Tweet vergleicht der Wolfskrieger chinesische und amerikanische Aktivitäten im Irak. Während China laut der Meldung 1000 Schulen baute, hätten die USA im Irak über 16.000 Zivilisten getötet.
A country chokes itself with gun violence and #COVID19 pic.twitter.com/cWZO2HYNUE
— Lijian Zhao 赵立坚 (@zlj517) May 28, 2022
China-Experte Eberhard Sandschneider ist überzeugt: „Die Tweets spiegeln die offizielle Linie der Kommunistischen Partei Chinas wider.“ Zwar geschehe das in einer etwas verkürzten und radikaleren Tonart, doch verdeutliche die Ausdrucksweise das verstärkte nationalistische Selbstbewusstsein Chinas, „wo Kritik an den USA als Volkssport angesehen wird“.
Eine Reihe weiterer chinesischer Diplomaten ist in der Öffentlichkeit immer wieder mit undiplomatischen Tweets und Äußerungen aufgefallen. Zu ihnen gehört etwa Zhou Li, Beraterin im chinesischen Außenministerium, die internationale Menschenrechtsorganisationen der Heuchelei und Lüge bezichtigt. In einer weiteren Karikatur wird US-Präsident Joe Biden gezeigt, wie er Regierungschefs südostasiatischer Staaten (ASEAN) auffordert, sich Sanktionen gegen China anzuschließen.
Der Panzer, auf dem Biden sitzt, ist derweil im Schlamm festgefahren. Die chinesische Beraterin kommentiert den Tweet folgendermaßen: „Die ASEAN-Länder sind keine Schachfiguren in einem geopolitischen Wettstreit, sondern wichtige Schachspieler, die regionale Entwicklung und Wohlstand fördern werden.“
#ASEAN countries are not chess pieces in a geopolitical contest, but important chess players who will promote regional development and prosperity. pic.twitter.com/Dydj0b82BI
— Zhou Li周莉 (@Zhou_Li_CHN) May 19, 2022
Auch Zhang Meifang, Generalkonsulin im nordirischen Belfast, veröffentlichte eine Karikatur mit einem Schulmädchen, dessen Fuß amputiert werden musste, und einem Schüler, der seinen Vater offensichtlich im Krieg verloren hat. Darüber steht in einer Sprechblase: „Keine Waffen, kein Krieg. Das sind die Geschenke, die wir am Kindertag wollen.“ Obwohl die Diplomatin die Karikatur kommentarlos tweetet, sind der Hauptadressat dieser Abbildung offensichtlich die USA: Immer wieder werden sie für Kriege in aller Welt verantwortlich gemacht.
— Zhang Meifang张美芳 (@CGMeifangZhang) June 1, 2022
„Die Tweets haben besonders im Zusammenhang mit der Präsidentschaft Xi Jinpings zugenommen, um sich international zu positionieren“, sagt Sabrina Habich-Sobiegalla, Professorin für Staat und Gesellschaft des modernen China an der Freien Universität Berlin. Darüber hinaus seien die öffentlichen Auftritte chinesischer Diplomaten „Teil der Wolfskrieger-Diplomatie, die konfrontativ und von einem aggressiven Stil geprägt ist“.
Was ist die chinesische Wolfskrieger-Diplomatie?
Was am Wolfkrieger-Film auch auffällt, ist der Schauplatz. Gerade in Afrika, das als unterentwickelt dargestellt wird im Zusammenspiel mit dem kitschig-heldenhaften Wirken des chinesischen Protagonisten, verdeutlichen sich die geopolitischen Ambitionen Pekings. Kritiker sehen Parallelen zu Filmhits aus Zeiten des Kalten Krieges, wie „Rambo“ oder „James Bond“. Der Böse war damals stets der Russe, die Guten der Westen: ein klassisches Schwarz-Weiß-Narrativ wie zu Zeiten des bipolaren Systemkonflikts im 20. Jahrhundert.
#ChinaDailyCartoon Pelosi puts interests above Sino-US relations pic.twitter.com/EShVYFvord
— China Daily (@ChinaDaily) August 4, 2022
Heute sieht sich China in einem solchen Systemkampf mit dem Westen. Produziert wurde der nationalistisch-patriotische Film übrigens von der staatlichen Radio- und Fernsehverwaltung, die der Kommunistischen Partei untersteht.
Der Leiter des CNN-Büros in Peking, Steven Jiang, erläuterte in einem Interview die neue Wolfskrieger-Kommunikation folgendermaßen: „Statt langer, wortreicher Äußerungen nutzen die chinesischen Beamten Twitter und andere soziale Medien, um direkt auf jede Kritik an China oder der regierenden Kommunistischen Partei zurückzuschlagen.“ Somit unterscheidet sich die Kommunikationsstrategie der Diplomaten aus früheren Epochen maßgeblich von der heute unter der Herrschaft Xi Jinpings. Politikberater Sandschneider unterstreicht jedoch, dass dies mit „höheren Kosten für die chinesische Diplomatie einhergehe, da die Tweets die westlichen Adressaten eher verärgern und den außenpolitischen Zielen Chinas Schaden zufügen“.
Habich-Sobiegalla erklärte in dem Kontext „die rhetorischen Unterschiede zu früheren diplomatischen Praktiken in der Ära von Deng Xiaoping“. Er war langjähriger Parteiführer in der Volksrepublik (1979 bis 1997) und Nachfolger von Mao Zedong. Besonders bei Überschreitung der roten Linien (Tibet, Taiwan, Xinjiang, Hongkong, Corona) wird die diplomatische Rhetorik aus Peking konfrontativer.
Die „roten Linien“ Pekings
Die roten Linien Chinas sind vielfältig. Auch bei einem Amateur-Fußballspiel in Deutschland kann so eine rote Linie Pekings überschritten werden. So geschehen beim Freundschaftsspiel einer chinesischen Juniorenmannschaft in Mainz im November 2017, als Aktivisten Tibet-Fahnen mitbrachten. Die chinesischen Spieler verließen daraufhin den Platz, das Außenministerium in Peking schaltete sich ein und forderte mehr Respekt aus Deutschland. China betonte, dass man „gegen jedes Land, jede Organisation und jedes Individuum sei, das antichinesischen, separatistischen und terroristischen Aktivitäten zur Verteidigung Tibets in irgendeiner Form und unter irgendeinem Vorwand Unterstützung anbietet“.
#Schott - #ChinaU20: Mitte der ersten HZ entrollen Fans aus #Tibet ihre Flaggen. Chinesen weigern sich weiterzuspielen. Partie seit 10min unterbrochen pic.twitter.com/VM2cUFkeON
— Paul Bartmuß (@PaulBartmuss) November 18, 2017
Auch das kleine Litauen steht unter erhöhtem Druck des chinesischen Drachen. Vilnius hatte nämlich im vergangenen Sommer Taiwan erlaubt, eine eigene Repräsentanz unter eigenem Namen im Baltikum zu eröffnen. Mit diesem Schritt wollten die beiden Länder ihre wirtschaftlichen und technologischen Beziehungen ausbauen. Für Peking dagegen stellt das eine Verletzung der Ein-China-Politik dar, da es die Insel als eigenes Territorium ansieht. In den meisten Ländern der Welt, wie auch in Deutschland, hat Taiwan meist nur eine „Taipeh-Vertretung“.
I hereby present the #US, Herald of turmoil#Taiwan pic.twitter.com/qsJkVQkpAA
— Shao Xia 少侠 (@ChaoyangShaoxia) August 3, 2022
Als Folge der litauischen Taiwan-Politik kündigte China Konsequenzen an. Zhao Lijian drohte, Litauen in den „Mülleimer der Geschichte zu fegen“, die diplomatischen Beziehungen wurden auf Geschäftsträgerebene (Chargé d’affaires) heruntergestuft, und Litauen wurde sogar aus der chinesischen Zolldatenbank gelöscht. Gegenseitiger Handel der beiden sehr ungleichen Länder ist somit nicht mehr möglich, Litauen in der Datenbank nicht mehr existent. Während im baltischen Staat 2,7 Millionen Menschen leben, sind es allein in Peking über 21 Millionen. Im gesamten Reich der Mitte leben ungefähr 1,4 Milliarden Menschen.
Die nächste rote Linie der Kommunistischen Partei betrifft die Uiguren in Xinjiang. Im Mai 2022 gingen Fotos und Dokumente von gefesselten Inhaftierten, Uniformierten mit Sturmgewehren und weitere verstörende Bilder aus sogenannten chinesischen Umerziehungslagern um die Welt. Die veröffentlichten „Xinjiang Police Files“ verdeutlichten zum wiederholten Mal das Ausmaß der Diskriminierung gegenüber der uigurischen Minderheit. Schätzungsweise über eine Million Uiguren sitzen in den Lagern fest. Regierungen und internationale Organisationen in Europa und den USA sind empört.
Changes of population of American Indians vs Chinese Uyghur s.
— Lijian Zhao 赵立坚 (@zlj517) June 4, 2022
Which one would you call #genocide?
印第安人人口变化vs中国维吾尔族人口变化,
你会把哪一个称作“种族灭绝”? pic.twitter.com/LtGtuQvirD
Zhao Lijian hat dagegen die Echtheit der Daten-Leaks über die „Umerziehungslager“ bestritten. Nichts Neues aus dem politischen Peking, wenn im Westen über die systematische Diskriminierung der muslimischen Minderheit in China berichtet wird. Vielmehr bezeichnet der chinesische Außenamtssprecher, wie er in einem Tweet andeutet, die Verfolgung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas als Genozid. Die Bevölkerungsanzahl der Uiguren in China sei schließlich gestiegen, so Lijian. Im Übrigen verübte am Tag der Veröffentlichung der Xinjiang-Leaks ein 18-Jähriger einen Amoklauf an einer Schule im US-Bundesstaat Texas. Für Zhao Lijian die perfekte Vorlage, um über Waffengewalt in den USA zu zwitschern und die Situation in Xinjiang unter den Teppich zu kehren. Immer wieder wird auf Kritik mit Gegenkritik reagiert.
Die Liste der roten Linien Chinas ist aber auch hier noch nicht zu Ende. Kritische Äußerungen zum Sicherheitsgesetz in Hongkong und/oder Solidaritätsbekundungen mit der dortigen Demokratiebewegung werden von chinesischen Offiziellen aufs Schärfste kritisiert. Auch die Erinnerung an das Tiananmen-Massaker 1989 wird im heutigen China zensiert. Man spricht vielmehr von einem „Fake Massaker“ oder dem „Zwischenfall vom 4. Juni“. Corona ist eine weitere von vielen roten Linien der Kommunistischen Partei. Berichte und Meldungen über den Ursprung der Corona-Pandemie, die laut mehreren Studien auf dem Wildtiermarkt in Wuhan ausbrach, werden von chinesischer Seite vehement bestritten.
The Hong Kong Autonomy Act passed by the US Senate is nothing but a piece of scrap paper. pic.twitter.com/MIKapJE3PE
— Lijian Zhao 赵立坚 (@zlj517) June 29, 2020
Medien stehen Seite an Seite mit der Kommunistischen Partei
So haben im letzten Jahrzehnt auch die staatlichen Medien und Organisationen ihre Kommunikation auf Wolfskrieger-Modus umgestellt. Die chinesische Studentenvereinigung unter Führung der Kommunistischen Partei tweetet fast ausschließlich über Missstände in den USA (Rassismus, Waffen- und Polizeigewalt). So zeigt eine geteilte Karikatur amerikanische Kinder, wie sie massenhaft Handfeuerwaffen und Kalaschnikows kaufen, während im angrenzenden Supermarkt keine Babynahrung mehr vorhanden ist. Aktuelle Informationen, die für chinesische Studenten relevant erscheinen, findet man auf dem Kanal nicht.
在美国,找儿童步枪比儿童奶粉更容易😅 pic.twitter.com/ZSdLwPFmew
— CYStudio (@hshslycs) May 28, 2022
Die China Xinhua News, eine englischsprachige Nachrichtenagentur, die der Kommunistischen Partei untersteht, schlägt in die gleiche Kerbe. In einem Video werden Analogien zwischen den Kriegen in der Ukraine, im Irak, in Syrien, Afghanistan oder Jemen gebildet. Die These der Moderatoren: Überall seien die USA Hauptschuldiger. Dazwischen gibt es Meldungen explodierender Preissteigerungen in den USA oder grassierender Corona-Infektionen.
A happy life is one of the primary #HumanRights for everyone. #Xinjiang pic.twitter.com/x7uZ2txsp8
— Lijian Zhao 赵立坚 (@zlj517) June 22, 2022
Aus China gibt es hingegen eindrucksvolle Landschaften und Panda-Videos. Besonders aus der Krisenregion im Westen des Landes, aus Xinjiang, gibt es von staatlichen Offiziellen immer wieder freudetrunkene Gesichter oder blühende Landstriche wie aus der Werbung. Eine traumhafte Kulisse, wobei der Twitter-Account eine Art chinesisches Potemkinsches Dorf des 21. Jahrhunderts darstellt.
Take a look at the beautiful scenery of Yili, Xinjiang. pic.twitter.com/8hh3KTSLtV
— Lijian Zhao 赵立坚 (@zlj517) May 26, 2022
Die Medienplattform Frontline – ein Zusammenschluss von Reportern, die zur staatlich kontrollierten CGTN-Sendergruppe gehören und unter Kontrolle der Kommunistischen Partei stehen – hat in einem animierten Video auf Twitter die systematische Unterdrückung der Uiguren als amerikanische Fake News bezeichnet. Die Nachrichtenseite WCNA teilt eine Karikatur mit einem amerikanischen blutrünstigen Sensenmann, wie dieser nach den Türen zu Libyen, Afghanistan und Syrien dabei ist, die Tür zur Ukraine zu öffnen. Unterschrieben ist der Post mit einem: „Öffnen Sie die Tür, Ihre Demokratie ist da!“
“开门,你的民主到了!” pic.twitter.com/EdrsNqfq1K
— CYStudio (@hshslycs) April 6, 2022
Chinas Ziel: Die Diskursmacht der USA zu brechen
Doch an wen richten sich all diese aggressiven englischsprachigen Bilder, Memes und Tweets? Wohl nicht an die Chinesen, wo die Plattform gesperrt ist. Die Tweets seien „der Versuch aus chinesischer Perspektive, die Diskursmacht der USA in der internationalen Politik und den sozialen Medien, insbesondere auf Twitter, zu brechen“, sagt Habich-Sobiegalla. Ihrer Einschätzung nach sind „Regierungen und internationale Organisationen auf der ganzen Welt Adressaten der Tweets, aber auch einfache Nutzer“.
Sie sollen „eine Alternative zum liberal-demokratischen Gesellschaftsentwurf aufzeigen. Die Aktivitäten sind also an Bevölkerungsgruppen im Westen gerichtet, aber auch an Nutzer und Institutionen im südostasiatischen oder afrikanischen Raum.“ Eberhard Sandschneider sieht darüber hinaus eine soziopolitische Komponente in den Tweets. „Diese machen sich lustig über die Gesellschaftsformen im Westen und sollen die Unfähigkeit der westlichen Demokratie verdeutlichen.“







