Eine Weide in Gräpel im Landkreis Stade. Im Gras liegen Leichen, mit Blut getränkte Wolle. 18 tote Schafe. 37 schwer verletzte Tiere kämpfen noch um ihr Leben, sie müssen später eingeschläfert werden. Nur 55 der 112 Schafe überleben den nächtlichen Wolfsangriff vom vergangenen Samstag. Und das, obwohl die Weide mit einem Schutzzaun eingezäunt war.
Es sind Fälle wie diese, die immer mehr Bauern und Schäfer in Deutschland zur Verzweiflung bringen. Und teilweise auch in ihrer Existenz bedrohen. „Schießt den Wolf ab“, so ihre Forderung. Doch Naturschützer und Politiker lehnen das ab. Und so verhärten sich die Fronten immer mehr. Schäfer gegen Naturschützer. Jäger gegen Grüne. Städter gegen Bauern.
Langjähriger FDP-Chef von Brandenburg und Wolfsexperte
Die Berliner Zeitung hat mit dem Wolfsexperten Gregor Beyer gesprochen. Der Naturschützer arbeitete für den Naturschutzbund (Nabu), saß als Politiker für die FDP von 2009 bis 2014 im Brandenburgischen Landtag und war bis 2014 auch Vorsitzender der FDP Brandenburg.
Später war er Geschäftsführer des Umweltverbandes „Forum Natur Brandenburg“. Seit Sommer 2022 ist er Amtsleiter Landwirtschaft und Umwelt im Landkreis Märkisch-Oderland. Wir treffen ihn in seinem Büro im Landratsamt Seelow.
Herr Beyer, vor der Wiedervereinigung hat man in Deutschland jeden Wolf gnadenlos totgeschossen. In der DDR gab es sogar einen Orden und eine Geldprämie für jeden erlegten Wolf. Heute undenkbar?
Das war so. Für viele heute unvorstellbar. Es gibt tolle Wochenschau-Beiträge vom „Würger vom Lichtenmoor“ etwa, einem Wolf, der 1948 in Niedersachsen eine Hysterie auslöste und nach Wochen durch einen Bauern erlegt wurde, weil er Dutzende Weidetiere tötete. Und so blieb es auch lange.
Seitdem hat sich ja einiges geändert, oder?
Ich selbst bin von Haus aus studierter Naturschützer und Förster. Ich habe mich viele Jahre mit Waldbau und verschiedenen Tierarten beschäftigt, insbesondere mit Rotwild. Der Wolf spielte da überhaupt keine Rolle. Ich kannte den Wolf höchstens vom Besuch eines Wildparks. Als es dann mit den Schafsrissen und toten Rindern in den 2000er-Jahren losging, musste ich mich damit zwangsläufig beschäftigen.
Nach der Wiedervereinigung wurde für ganz Deutschland einfach entschieden: Kein Wolf wird mehr erlegt. Konnten Sie das nachvollziehen?
Nein, seit ich mich mit Wölfen beschäftigen musste, nicht mehr, weil ich nicht verstanden habe, warum wir als einziges Land in Europa einen Sonderweg gehen. Überall weltweit wurden und werden Wölfe bejagt, und trotzdem gibt es sie in einer stabilen Population. Warum bei uns nicht? Wir stellen uns noch nicht mal die Frage: Könnte es möglich sein, dass wir falsch liegen und der Rest der Welt recht hat?
Nach Ihren Berechnungen gibt es allein in Brandenburg aktuell mehr als 600 Wölfe. In Schweden und Norwegen dagegen gibt es laut offiziellen Zählungen zusammen nur etwa 550 Wölfe. Da sind in Brandenburg also mehr Wölfe auf einer Fläche, die dreißigmal kleiner ist. Wie kommen Sie auf diese Zahlen?
Das sind nicht meine Berechnungen, sondern offizielle Zahlen der Dokumentations- und Beratungsstelle Wolf des Bundes. Laut diesen Berechnungen gab es 2021/22 etwa 404 Wölfe in Brandenburg. Rechnet man die jährliche Reproduktionsrate von 33 Prozent dazu, kommt man auf 602 Tiere – allein in einem Bundesland. Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Wölfe auf so kleinem Raum. Übrigens gehe ich davon aus, dass es mittlerweile in Deutschland weit mehr Wölfe gibt, als in der Statistik stehen.

Wirklich so viele Wölfe? Dabei gibt es den Wolf in Deutschland doch erst seit 30 Jahren wieder, heißt es.
Wir tun so, also ob der Wolf die Rückkehr einer gefährdeten Spezies sei. In Brandenburg, das muss man wissen, waren Wölfe im Gegenteil nie ganz verschwunden. Es ist auch ein Märchen, dass der Naturschutz die Wölfe zurückgebracht habe. Sie waren immer da, aber haben sich nicht wirklich vermehrt, weil die DDR das einfachste Wolfsmanagement hatte, das es gibt. Man hat einfach jeden Wolf abgeschossen. Trotzdem hat man es nicht geschafft, den Wolf auszurotten.
Also stimmen aus Ihrer Sicht die Medienberichte über die Rückkehr der Wölfe nach der Wiedervereinigung nicht?
Nein, die osteuropäische Wolfspopulation war immer so groß und in einem so guten Erhaltungszustand, dass immer Wölfe durch die Oder geschwommen sind, um sich bei uns anzusiedeln. Manche, das geht aus Presseberichten aus den 80ern hervor, haben sie es sogar über die verminte Zonengrenze nach Niedersachsen geschafft.
Von einzelnen Wölfen kann auch in Westdeutschland inzwischen nicht mehr die Rede sein. Die offizielle Statistik schätzt, dass es in ganz Deutschland mindestens 2000 Wölfe gibt. Sie selber gehen sogar von deutlich mehr aus.
Überall auf der Welt, wo Wölfe vorkommen, müssen ab und zu welche geschossen werden. So sagte es mir mal ein amerikanischer Farmer – übrigens ganz emotionslos. Wir müssen ja nicht alle totschießen. Im Übrigen würde das sowieso nicht klappen, aber wir müssen den dogmatischen, quasireligiösen Umgang mit dieser spannenden Tierart sein lassen. Ganz einfach.
Viele Jäger werfen Naturschützern und Aktivisten ein geradezu obsessives Verhältnis zu dieser Tierart vor, die noch dazu eine räuberische ist.
Viele Leute vergessen, dass die Menschen vor 100 Jahren in Deutschland auf dem Land teilweise noch gehungert haben. Da konnte man sich einen Naturschutz wie heute nicht leisten. Unsere Großeltern kannten noch den Hunger. Und der Wolf hat lebenswichtige Weidetiere gerissen. Er war einfach ein Konkurrent, also hat man ihm ohne jegliche ethische Überlegung nachgestellt. Mit Fallen, Schlingen, der Flinte. Gott sei Dank leben wir in dieser Welt nicht mehr.

Also haben die Aktivisten recht und der Wolf muss gar nicht geschossen werden?
Oh doch, aber wir können uns heute den Luxus erlauben, Wölfe und Bären in akzeptabler Anzahl bei uns zu haben. Wir dürfen sie nicht verbannen, wir müssen mit ihnen leben. So sehe ich das. Und das sage ich übrigens auch als passionierter Jäger in Richtung einiger weniger Kollegen, die den Wolf in Deutschland am liebsten ganz ausrotten würden.
Für Besitzer kleinerer Bestände von Weidetieren, nachhaltig und ökologisch orientiert, ist die Anwesenheit des Wolfes manchmal existenzbedrohend. Trotzdem sind Naturschützer vehement gegen jeglichen Abschuss von Wölfen. Wie passt das zusammen?
Diese Menschen sind ein Produkt der Wohlstandsgesellschaft. Ihre Motive sind teilweise ehrenwert, aber inzwischen ist aus dem bedingungslosen Schutz der Wölfe ein riesiges Geschäft geworden. Ein Spendengeschäft. Da hängen inzwischen viele Jobs dran. Und diese Kolleginnen und Kollegen machen einen ganz entscheidenden Denkfehler: Sie vergessen, dass jede Tierart, der Rothirsch genauso wie der Wolf, die Akzeptanz der Menschen braucht, die mit diesen Tieren leben müssen.
Ich habe immer das Gefühl, dass die meisten Tierschützer aus einem städtischen Milieu kommen und aus unserer Kulturlandschaft eine unberührte Natur machen wollen. Wissen diese Leute, dass es in den Urwäldern Kanadas viel weniger Wild gibt als bei uns?
Die unbequeme Wahrheit für diese Leute ist doch, wenn es keine Menschen in Deutschland gäbe, gäbe es auch viel weniger Hirsche, Wildschweine, Rehe und auch kaum Wölfe. Das ist unter Wissenschaftlern völlig unstrittig, passt den Naturschützern aber nicht ins Konzept. Das menschenleere Alaska oder Montana und auch die unberührte Taiga sind für Wölfe ein eher ungeeigneter Lebensraum.
Das wird viele Leser jetzt überraschen.
In Deutschland gibt es keine Wildnis, sondern das Land ist flächendeckend eine Kulturlandschaft. Und trotzdem ist das Land zwischen Autobahnen, ICE-Trassen und Gewerbegebieten der optimale Lebensraum für den Wolf. Denn hier ist die Wild- und Nutztierdichte am höchsten. Das liegt nicht an der Jagd oder irgendeiner bewussten menschlichen Handlung, sondern an der Höhe der Stickstofffrachten. Viele Pflanzen und intensive Landwirtschaft führen zu vielen Wiederkäuern. Und wo viele Wiederkäuer sind, gibt es auch viele Wölfe. Der Wolf ist ein Generalist. Ganz einfach.

Das heißt, den Traum vieler Naturschützer gibt es so gar nicht?
Nein, denn nicht die Wildnis ist das Optimum für den Wolf. Meinen ersten Wolf habe ich im rumänischen Kronstadt am Rande einer Plattenbausiedlung gesehen. Er räumte seelenruhig eine Mülltonne aus, bis er von drei Braunbären vertrieben wurde. Warum soll ein Wolf mit gigantischem Energieeinsatz ein Rudel Rothirsche verfolgen, wenn es Mülltonnen gibt und eingezäunte Schafe und Rinder? Wir leben in einem idealen Lebensraum für Wölfe, aus der Perspektive der Wölfe wohlgemerkt!
Wo genau fühlen sich die Wölfe in Deutschland am wohlsten?
Im Landkreis Potsdam-Mittelmark zum Beispiel. Dort gibt es eher wenig Wald, aber eine hohe Weidetierdichte. Dort haben wir in Deutschland momentan mit die höchste Konzentration an Wölfen, direkt vor den Toren von Berlin.
Die Politik antwortet mit Herdenschutzhunden, Zäunen und Entschädigungen für Wolfsrisse. Aus Ihrer Sicht nur symbolische Maßnahmen?
Die Leute hier auf dem Land fühlen sich verhöhnt von dieser Politik. Gerade muss das Land Brandenburg beim wichtigsten strukturellen EU-Fördertopf für den ländlichen Raum (GAK) in Brandenburg Kürzungen um 44 Millionen auf 56 Millionen Euro hinnehmen. Mit ausdrücklicher Ausnahme der „Wolfsprävention als Gefahrenabwehr“. Was ist das für eine politische Botschaft? Schulen und Krankenhäuser kriegen wir nicht mehr finanziert, aber für Wölfe bezahlen wir! Das kann ich den Leuten im Oderbruch nicht erzählen. Die schmeißen mich raus. Die sagen: Schießt doch die Hälfte der Wölfe ab, die Jäger machen das sogar kostenlos.
Ist der Wolf eigentlich – wie die Jäger immer behaupten – in der Lage, die Wildtierbestände zu reduzieren?
Das ist totaler Quatsch. Der Räuber reguliert nicht die Beute, sondern die Beute den Räuber. Das ist erstes Semester Populationsökologie. Der Wolf kann nicht gegen die riesigen Wildtierbestände an Rehen, Wildschweinen und Hirschen anjagen. Das ist übrigens auch ein Irrglaube in der Jägerschaft. Daher ist es auch total unsinnig, wenn die Jäger behaupten, der Wolf fresse ihnen das Wild weg. Das Wild ändert durch den Wolf nur sein Verhalten. Als Jäger muss ich dann eben etwas kreativer auf die Jagd gehen.

Und kann der Abschuss von Wölfen die Wolfspopulation reduzieren?
Auch da wäre ich sehr vorsichtig. Was die Jagd aber kann, im Gegensatz zu Zäunen und Hunden, ist eine Verhaltensänderung herbeiführen. Das ist der entscheidende Punkt. Dass die Wölfe bei uns momentan nicht scheu sind, hängt nur damit zusammen, dass sie den Menschen nicht als Gefahr wahrnehmen. In den Ländern, in denen reguläre Wolfsjagden durchgeführt werden, nimmt der Wolf den Mensch als Feind wahr und ist deshalb scheu.
Also könnte die weitverbreitete Angst vor dem Wolf, der auf dem Schulweg ein Kind reißt, ohne Jagd zur Realität werden?
Meine Sorge sind nicht die Horrorstorys! Meine Sorge ist die Zufallsbegegnung an der Mülltonne. Oder auch der beispielsweise im Straßenverkehr verletzte Wolf. Was mir Angst macht, ist diese unehrliche Debatte.
Stichwort „Problemwolf“. Die Politik erlaubt es derzeit nur, einzelne Individuen zu erlegen, die über Zäune springen, regelmäßig Weidetiere reißen oder sonstiges Unheil anrichten. Das Prozedere ist aufwändig. Man benötigt Gentests und das Go mehrerer Behörden.
Ein „Problemwolf“ ist natürlich ein toller Protagonist für eine Zeit-Reportage. Trotzdem ist die Theorie der „Problemwölfe“ für mich das dümmste urbane Märchen überhaupt. Der Wolf ist ein Raubtier. Er ist, wie er ist. Über Zäune springen und Schafe fressen ist ganz normales wölfisches Verhalten. Um sich zu ernähren, tötet er Tiere – und zwar die, die er am einfachsten bekommt.
Wenn man Ihnen so zuhört, gibt es also eine ganz einfache Lösung. Wann heißt es also „Feuer frei“ in Deutschland? Was ist Ihre Prognose?
Die deutsche Erfahrung lehrt uns, dass wir gern 20 Jahre mit Hurra auf den Lippen in eine Richtung rennen und nur wegen eines ganz komischen Anlasses, Stichwort Atomkraft, mit dem keiner gerechnet hat, in einer Nacht auf dem Absatz umdrehen und 20 Jahre lang genau in die andere Richtung laufen. Irgendwann nach 40 Jahren merkt mal einer: Beide Richtungen waren ziemlich idiotisch. So ist das auch beim Wolf. Uns fehlen die Gelassenheit und der nüchterne, undogmatische Blick auf die Dinge.
Wir Deutschen sind ja oft ziemlich von uns überzeugt. Was können wir in Wolfsdingen von anderen Ländern lernen?
Eine ganze Menge. Norwegen etwa schießt jährlich den Zuwachs des Bestandes und begrenzt damit die Anzahl der Wölfe auf rund 100 im ganzen Land. Norwegen ist natürlich mit seinen vielen unbevölkerten und landwirtschaftlich nicht genutzten Gebieten nicht der wie vorhin beschriebene ideale Wolfslebensraum. Ich könnte mir für Norwegen auch mehr Wölfe vorstellen. Aber man hat dort eine Entscheidung für die Höhe des Wolfsbestandes getroffen, darauf kommt es an.

Sprechen wir über Frankreich, dort soll es ja ungefähr gleich viele Wölfe wie in Brandenburg geben.
Dort, wie auch in Schweden, leben Wölfe in wenigen einzelnen Bereichen des Landes. Und das, obwohl Frankreich noch agrarischer geprägt ist. Nur in Deutschland kommen Wölfe flächendeckend vor. Das ist auch der Grund für die immer stärkeren Konflikte. Frankreich ist aber auch deshalb so interessant, weil man dort unter der gleichen EU-Gesetzgebung so ganz anders im nationalen Recht mit dem Wolf umgeht. Eine reguläre Wolfsbejagung ist rechtlich also möglich.
Nun sieht es nicht danach aus, dass die Politik es bisher besonders eilig hatte mit der Wolfsjagd.
Nein, aber Brandenburg war schon mal weiter. 1994 lag sogar der erste deutsche Wolfsmanagement-Plan in der Schublade. Der ehemalige SPD-Ministerpräsident und damalige Umweltminister in Brandenburg Matthias Platzeck hatte auf Experten gehört, die gesagt hatten: Die Wölfe waren nie ganz weg und werden nun seit 1. April 1992 nicht mehr bejagt.
Was waren die Schlussfolgerungen damals?
In dem Papier steht ganz klar: Wenn ihr das so laufen lasst, wird Brandenburg mittelfristig flächendeckend von Wölfen besiedelt sein. Mit all den heutigen Folgen. Die Analyse ist brutal ehrlich, total logisch und visionär. Leider hat man diese Warnungen nicht ernst genommen. Jetzt sind wir gefangen in einem riesigen Freiluftexperiment, von dem wir jetzt schon wissen, dass es krachend fehlschlagen wird.
Was müsste jetzt ganz konkret getan werden?
Ich habe 2022 eine sehr moderate jährliche Entnahmequote von Wölfen für Brandenburg errechnet. Der Vorschlag lautete, 80 Wölfe jährlich zu erlegen. Auch wenn ich natürlich wusste, dass diese Zahl viel zu niedrig ist. Aber ich dachte, das ist ein erster guter Anfang. Als ein symbolischer Akt sozusagen.
Sehen Sie bei den Beteiligten inzwischen ein Umdenken?
Ich sage Ihnen, wir werden Wölfe in Deutschland bejagen, das wird kommen. Ich weiß nicht, ob es noch ein, fünf oder zehn Jahre dauert. Auch auf Seiten der Umweltverbände spüre ich mittlerweile eine gewisse Nachdenklichkeit. Zumindest beim Bier nach einer Veranstaltung wird immer öfter über die Probleme geredet. Viele Aktivisten wissen insgeheim: Es gibt keine Alternative zur Wolfsjagd in Deutschland.
Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de
Empfehlungen aus dem BLZ-Ticketshop:












